Noch ist Schule für manche Kinder heute:
- ein angstbeladener Raum, vielleicht gar ein Ort des Schreckens: „Schule kann einem das Leben kaputt machen!“, meinte da unlängst ein 9-jähriges Mädchen zu seiner Mutter.
- ein Ort, an dem Kinder „daran gewöhnt werden, Langeweile zu ertragen“ (Fritjof Bergmann)
- ein Ort der Leere, anstatt der Lehre!
- ein Ort, wo Kinder auf ihre Defizite reduziert gesehen werden und sich als Menschen, wie sie nun einmal sind, kaum angenommen, geschweige denn respektiert fühlen,
- ein Ort, an dem mit viel „Druck“ und wenig „Sog“ gearbeitet wird.
Wie gesagt: Ich habe eine Vision von Schule. Vielen Lehrpersonen fehlt es heute an Visionen. Das lässt Schule oft so saft- und kraftlos, auch flügellahm erscheinen. Und in einem derart perspektivlosen Umfeld sollen Kinder groß werden? Groß, stark, mutig und lebensfroh? So manche Schule dümpelt – als notwendiges Übel einfach hingenommen – freudlos vor sich hin. Wo bleibt die allseits beflügelnde Begeisterung, die damit verbundene Wärme, der frische Wind in manchen Schulen?
Also:
Keine Schule ohne Visionen! Denn eine Schule ohne Visionen ist eine Schule ohne Zukunft.
Und eine solche wollen wir keinem Kind zumuten. Auch keinem Kollegium. Vergessen wir nie: Mit jeder Kindergeneration ist der Welt ein Riesenpotenzial geschenkt. Was machen wir aus diesem kostbaren Gut? Tragen Schule und Erziehung in genügendem Maße dazu bei, dass dieses Immer-Neue auch werden kann?
Schulen im Reformstau
Gegen Reformen, gegen einen beständigen Wandel der Schule, wäre natürlich gar nichts einzuwenden, solange sie der Initiative des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin entspringen.
Das ist aber leider in der Regel nicht der Fall. Es sind von oben herab verordnete und damit aufgezwungene Reformen. Das kann nicht gut gehen. Die Initiativkraft des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin wird damit korrumpiert. Lehrkräfte fühlen sich übergangen, zu Vollzugsbeamten degradiert und entmündigt. Kein Wunder, dass sich in Anbetracht dessen so viel Frust breitgemacht hat.
Die Fakten sprechen da eine unmissverständliche Sprache:
- 90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer drehen ihrem Beruf nach einer durchschnittlichen Verbleibdauer von nicht einmal sechs Jahren für immer den Rücken zu. Die Ausbildungskosten für einen Primarlehrer belaufen sich in der Schweiz immerhin auf circa 200.000 Franken!
- Ein Großteil der im Beruf stehenden Kolleginnen und Kollegen leidet an psychosomatischen Beschwerden, ist ausgepowert, harrt aus, solange es eben noch geht.
- Fast alle beklagen sich über das Übermaß an Erwartungen seitens der Eltern. Und dann noch die vielen schwierigen Kinder, der Spardruck ...
Und die Kinder, wie geht es ihnen?
Wir unterschätzen ihre Not – so meine Einschätzung – bei Weitem.
- Nahezu die Hälfte der Zeit, die Schulkinder zuhause verbringen, sind sie ganz alleine.
- Mit 12 Jahren hat ein Kind circa 9.000 Stunden in der Schule und 25.000 Stunden vor der Glotze und/oder dem Smartphone verbracht. Bei einer Großzahl der Kinder ist, laut neuesten Untersuchungen, der Sehwinkel heute auf 70 Grad reduziert. Normal wären: 220 Grad! Ausserdem nimmt Kurzsichtigkeit massiv zu.
- Das Fernsehen oder die digitalen Medien, als Kreativitätskiller Nummer eins, bringt viele Kinder während täglich im Durchschnitt 250 Minuten (!) um das, was ihr Lebenselement ausmacht: Bewegung. Jedes vierte Kind in Amerika leidet schon heute an Fettleibigkeit!
- Ein Vater spricht heute – im Durchschnitt – noch ganze 20 Minuten täglich mit seinen Kindern.
Dadurch alarmierte Bildungsbehörden in Deutschland haben darauf reagiert und allen jungen Eltern eine Broschüre – „Sprich mit mir!“ – abgegeben. Sie enthält nichts anderes als eine ganze Reihe von Tipps, wie und worüber man mit den eigenen Kindern reden könnte!
- In Deutschland hat man unlängst festgestellt, dass 60 Prozent der Schulanfänger Haltungsschäden aufweisen und dass bei 40 Prozent der Kinder der Kreislauf geschwächt ist.
- Bei über 50 Prozent der Kinder wird außerdem vor Schuleintritt eine Sprachstörung diagnostiziert.
- An die 60 Prozent der Zweitklässler kommen zurzeit in der Stadt Zürich – ohne Nachhilfe – nicht mehr über die Runden.
- Der Anteil an sogenannten „schwierigen Kindern“ nimmt beständig zu. Auch die Anzahl derer, die Schule schlechthin verweigern. Wohlgemerkt: In außerschulischen Projekten – im Wald, auf dem Bauernhof – sind sie ganz unauffällig, leben förmlich auf! In der Schule aber werden sie – mit gewaltigem (und inzwischen unbezahlbarem) Aufwand – zurechtgebogen, was aber in vielen Fällen gar nicht mehr gelingt. Manche werden schließlich „ausgemustert“, in Sonderklassen oder Heime abgeschoben.
Was nun?
Jede Schule müsste heute den heilenden Ansatz immer mehr ins Zentrum rücken, wenn sie nachhaltig, sprich präventiv wirken soll. Alles andere können wir uns gar nicht mehr leisten! Wie heilen?
Was die sehr ernüchternden Resultate der PISA-Studie nach meiner Einschätzung an den Tag legen: In manchen Schulen Europas ist es „kalt“ geworden. So einfach sehe ich das.
Die finnischen Schulen schwingen, wie man weiß, in der ominösen Studie ganz oben auf. Den Kindern soll es in der Schule primär gut gehen, und dies im umfassenden Sinne, wird dort in einer Präambel des rudimentären Lehrplans mit Nachdruck hervorgehoben. Gesundheitsfürsorge, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Förderlehrerinnen stehen den Lehrern dort helfend zur Seite. Die gemeinsame Sorge um das Wohlergehen des einzelnen Kindes ist dort das A und O allen Unterrichtens. Da werden offensichtlich andere Prioritäten gesetzt. Ganz andere. Hier ist die Schule für die Kinder da. Und nicht umgekehrt.
Kinder gedeihen in der Tat nur, wenn ihnen ein gewisses Maß an Wärme, Geborgenheit, Zuwendung und Aufmerksamkeit zukommt. Geht ihnen dies ab, gerät auch das Lernen ins Stocken. Lernstörungen treten praktisch immer erst auf, wenn im Umfeld der Kinder etwas nicht stimmt. Wenn jetzt bloß die Störung wegtherapiert wird, ist dem Kind und der Schule in keiner Art geholfen.
In manchen Schulen ist es kalt geworden, sagte ich. In manchen Elternhäusern auch!
In vielen Familien sind beide Elternteile berufstätig. Viele Kinder sind tagtäglich über Stunden nicht betreut oder verbringen diese Stunden in Nachmittagsbetreuungseinrichtungen. Manche kommen völlig übermüdet und ohne Frühstück zur Schule. Mahnrufe seitens der Lehrkräfte und Schulbehörden bleiben – wie Beispiele zeigen – wirkungslos. Was tun? Da muss doch die Schule in die Lücke springen. Wer denn sonst!
Wer heute gut hinschaut, weiß, dass es in Anbetracht der Dinge – wie sie nun eben einmal sind – nur eine Schulform gibt, welche die gegenwärtige Not vieler Kinder effektiv zu lindern vermag: Die Tagesschule. Schule als Großfamilie.
Schule als Ort der Begegnung, der Wärme, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Ein Ort, den Kinder immer dann aufsuchen können, wenn es „kalt“ um sie wird. Außerdem: Schule als angstfreier Raum. Denn Angst lähmt alles, insbesondere die Entwicklung unserer Kinder.
Ich plädiere hier für eine neue Schulkultur! Nach PISA aber reden fast alle von Veränderungen der Schulstrukturen. Das ist Kosmetik. Nicht mehr. Über Jahrzehnte haben wir nun schon an der Schule „herumgeflickt“. Sie hat ausgedient, die alte Schule. Ein Neubau steht an.
Schule muss in der Tat ganz neu werden. Von der Basis auf. Und da, an der Basis sind die Lehrerinnen, die Lehrer und die Eltern. In ihre Hände ist die Neugestaltung der Schule vertrauensvoll zu legen. Das heißt: Befreiung der Schule von der staatlichen Aufsicht. Abschaffung der verbindlichen Lehrpläne. Gleichstellung der Alternativschulmodelle mit der sogenannten „Staatsschulpädagogik“. Befreiung der Lehrerinnen und Lehrer von sämtlichen Zwängen!
Damit hat Finnland wohlgemerkt schon in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Ernst gemacht. Und, wie man sieht, mit messbarem Erfolg. Die jüngste OECD-Lehrerstudie gibt uns da ganz recht, wenn sie meint: „Hochengagierte Kollegen scheitern zu oft an rigiden Verwaltungsvorschriften, die wenig Raum für das persönliche Engagement schaffen.“
Der Wegfall dieser Einschränkungen wird eine wahrhafte „Entfesselung“ ihrer Kräfte mit sich bringen (so Hogeforster, Vorstehender der Handwerkskammer Hamburgs in einem Interview mit „Die Zeit“).
Schule „mit Hand und Fuß“
Ein weiteres, was eine zukunftsvolle Schule existenziell braucht, ist die entschiedene Aufwertung des künstlerisch-handwerklichen Bereichs. Nicht bloß als Ausgleich zum Kognitiven. Kunst und Handwerk müssen als wesentliche Mittel zur Bildung des Menschlichen schlechthin endlich ihren festen Platz im Fächerkanon erhalten. Sie allein vermögen die allenthalben anzutreffenden Einseitigkeiten auszugleichen.
Ich rede von Kunst als Allheilmittel in einer rundum heillosen Zeit. Als das Mittel zur Individualisierung und Erziehung zur Innerlichkeit.
Mit jeder Stunde (im Bereich Handwerk oder Kunst), die wir da aus dem Stundenplan streichen, handeln wir uns auf längere Sicht eine (oder gar mehrere) Therapiestunden ein. Was für ein Widersinn! Und dennoch sind es bis auf den heutigen Tag regelmäßig diese Fächer, die der Sparfuchtel zum Opfer fallen.
Schule – krankmachend oder gesundheitsfördernd?
Über den Wert oder Unwert einer Schule wird in naher Zukunft insbesondere die Frage entscheiden, ob sie die Kinder gesund erhält. An dieser Stelle gilt es allerdings festzuhalten, dass alles an der Schule gesund oder eben krank machen kann. Ich rede hier also weder von Drogenprävention noch von anatomisch optimiertem Schulmobiliar oder der Aufklärung in Ernährungs- und Gesundheitsfragen. Gesund oder krank macht primär die Schulatmosphäre, der „Geist oder eben Ungeist einer Schule“. Ich denke an unterschiedliche Unterrichtsstile, an Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Druck und Angst operieren, oder andere, die auf geheimnisvolle Art den Kindern manch Ungeahntes entlocken. Ich denke aber auch an die „Kopflastigkeit“ der Schule und die damit einhergehende Vernachlässigung der Herzenskräfte. Ein Kollege plädierte da unlängst sehr treffend für „weniger Hoch- aber mehr Tiefschulen“! Darauf gilt es also unsere ganze Aufmerksamkeit zu lenken. Alles andere ist zweitrangig.
Keine Verschulung der Kindheit
Mit grosser Wachheit gilt es derzeit zu verhindern, dass es zu einer Verschulung der Kindheit kommt. Wir ruinieren damit in dramatischem Ausmaß die seelisch-leibliche Gesundheit der Kinder, wie eine Vielzahl von Studien weltweit unmissverständlich belegen. England, das die frühe Einschulung seit Jahrzehnten kennt, beklagt seit einiger Zeit ein veritables „early-childhood-desaster“ und will nunmehr wieder später einschulen. Dass gerade als Folge des PISA-Schocks allenthalben der Schrei nach „Früher ran!“ – die frühere Einschulung ist damit gemeint! – ertönt, ist in Anbetracht dessen fatal.
„Vergleiche nie ein Kind mit einem andern.“ (Pestalozzi)
Schließlich sei noch die ressourcen- anstatt defizitorientierte Schule gefordert. Sie nimmt Abstand von der Vorstellung der Schule als Reparaturwerkstatt und billigt jedem Kind seinen eigenen Weg zu. Ich wende mich hier gegen alles Normative in der Pädagogik. Remo Largo wurde unlängst gefragt, in welchem Alter Kinder heute denn lesen lernten.
„Zwischen drei und dreizehn!“ – „ Aber wann normalerweise“, wurde nachgedoppelt. Largo: „Zwischen drei und dreizehn.“
Den individuellen Lerntempi der Kinder ist vermehrt Rechnung zu tragen, auch ihrem eigenen Lernstil. Die individualisierende Schule ist damit gemeint.
Schule „live“ oder „online“?
Hartmut von Hentig spricht in einem seiner neuesten Bücher von dem „nicht ganz allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit aus den Schulen“. Und er macht dafür insbesondere das Überhandnehmen der Medien im Schulalltag verantwortlich. „Schulen ans Netz!“ heißt die Parole. „An welches Netz?“ ist da nur die Frage. Ich meine ganz entschieden: Ans Lebensnetz! Wie sollen Kinder mit so viel Scheinwelt umgehen, sie, die sie doch immer und überall nur das eine suchen: Das unmittelbare Leben. Finden sie es nicht, hat ihr Suchen kein Ende und die Sucht ist nahe.
Welche Schule also für das dritte Jahrtausend?
Eine rundum neue. Was im Vorhergehenden erwähnt wurde, ist bloß als richtungweisend zu betrachten. Darüber hinaus muss ein weites Feld offen bleiben. Improvisationsgabe wird gefragt sein, und zwar in einem hohen Maße. Aus dem Moment, aus der unmittelbaren Begegnung heraus muss die Schule – am besten Tag für Tag – neu werden und sich, wie alles, was wächst, beständig wandeln.
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