„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, singt Reinhard Mey im Refrain eines seiner bekanntesten Lieder. Das Wort „wohl“ dient hier „wohl“ nur als Füllwort, um das Metrum des gesungenen Textes aufrechtzuerhalten. Denn über den Wolken ist die Freiheit so gut wie grenzenlos. Es ist ein riesiger, nur aus Luft, die immer dünner wird, bestehender Raum. Entsprechend monoton und unspektakulär gestalten sich Flüge in ebendieser Sphäre, weil nichts zu sehen ist. Die interessantesten und spannendsten Abschnitte eines Fluges, zumindest für die Passagiere, sind der Start und die Landung. Hier schwebt das Flugzeug eben nicht durch einen grenzenlosen Raum; vielmehr muss es durch einen metergenau vorgegebenen Luftkorridor manövriert werden, um nicht mit umliegenden Hochhäusern oder anderen Flugobjekten zu kollidieren.
Entsprechend uninteressant nehmen sich gewöhnliche Linienflüge aus, während eine Red-Bull-Propellermaschine, die mit 250 Kilometern pro Stunde durch einen Tunnel fliegt, unseren Atem stocken lässt. In einem Tunnel geht die Freiheit über den Wolken gegen null. Die kleinste falsche Bewegung am Joystick führt augenblicklich zum Crash. Eben der Wegfall der genannten Freiheit ist es, was den Reiz eines solchen Fluges ausmacht. Und die Fortbewegung in einem sehr unfreien Raum ist es, was dem Ganzen seinen Reiz verleiht.
Dieses Bild wirft die grundsätzliche Frage auf, ob eine vollkommene Entgrenzung von Freiheit und ihren Möglichkeiten überhaupt erstrebenswert ist? Und wenn dem so ist, folgt auf dem Fuß die Frage, ob wir als Menschen mit einer solchen Grenzenlosigkeit überhaupt umzugehen wissen und, falls nicht, wie wir das erlernen können.
Zugleich veranschaulicht das oben skizzierte Bild den in der Astrologie vielfach angedeuteten Paradigmenwechsel, wonach nun die Erdepoche endet und von einer Luftepoche abgelöst wird. Letzteres ist durch die für Luft eigentümliche Leichtigkeit sowie eine Flexibilität und eine Multioptionalität, wie sie der Erdepoche völlig wesensfremd war, gekennzeichnet.
Selbstredend kann eine völlige Entgrenzung völlig überfordern. Vielfach bemüht wird das Bild des Vogels, der den Käfig trotz geöffneten Türchens nicht verlässt, da er sich an diesen bereits gewöhnt hat und ihm ein freies Fliegen jenseits der Gitterstäben gar nicht vorstellbar erscheint. Dieses Bild findet soziologisch seine Entsprechung in dem Phänomen ehemaliger Knastinsassen, die nach Entlassung mit der neuen Freiheit nichts anzufangen wussten und anschließend, teils unbewusst, auf die eine oder andere Weise ihren Rückweg in das Gefängnis antraten.
Zwanghafte Freiheit
Überfordert wirkend und neue Zwänge hervorrufend kann Freiheit dann sein, wenn sie dadurch gekennzeichnet ist, dass in in ihr eine Entgrenzung stattfindet. Eine solche Entgrenzung kann aus dem Wegfall gesetzlicher, technischer und zeitlicher Limitierungen bestehen. Diese Paradoxie fasst der Philosoph Byung-Chul Han sehr treffend in Worte:
„Wir leben in in einer besonders historischen Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom Können ausgeht. Wir befinden uns somit in einer paradoxen Situation. Frei sein heißt, frei von Zwängen sein. Nun erzeugt diese Freiheit, die das Gegenteil des Zwanges zu sein hat, selbst Zwänge. Die psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit. Sie sind ein pathologisches Zeichen, dass heute die Freiheit vielfach in Zwang umschlägt“ (1).
Für das tiefergehende Verständnis ist es notwendig, dieses Zitat von Byung-Chul Han zu kontextualisieren. Mit der Unterscheidung zwischen „Du sollst“ und „Du kannst“ arbeitet er den Unterschied heraus zwischen der von Michel Foucault sattsam analysierten Disziplinargesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und der von 1980 bis 2020 bestehenden Doktrin des Neoliberalismus. In Ersterer gab es eine klare Unterteilung zwischen Herrscher und Knechten. Fabrikbesitzer, Generäle, Lehrkräfte befehligten eine Schar Unterworfener, die sich ihres Unterworfenseins aufgrund der unübersehbaren und schmerzlich spürbaren Offensichtlichkeit bewusst waren. Im Neoliberalismus fallen jedoch Herrscher und Knecht in ein und derselben Person zusammen.
Der Mensch ist in dieser Ideologie zwar immer noch einem Unternehmer unterworfen, doch seine Unterworfenheit nimmt sich für ihn als etwas Freiwilliges aus, da er sich qua ideologischer Indoktrination als ein Unternehmer seiner selbst betrachtet. In dieser Verblendung erliegt der Mensch dem Irrtum, der Wille zur nie endenden Selbstoptimierung, Weiterbildung und dem beruflichen Aufstieg würde aus ihm selbst herauskommen.
Dabei ist es für die herrschende Kaste der Globaloligarchen — im Vergleich zu einem teuren Repressionapparat — schlicht die kostengünstigere Variante, per Tiefenindoktrination die Menschen glauben zu lassen, der Selbstausbeutungswille entspringe ihrem Inneren (2).
Hierdurch entsteht eine pervertierte Freiheitsvorstellung, nach der alles möglich sei, so man sich denn ausreichend anstrenge. Die jahrzehntelange Betriebszugehörigkeit, wie sie in der Boomer-Generation noch vollkommen selbstverständlich war, weicht einer unsicheren, schwindelerregenden und jede Planungssicherheit vernichtenden Kletterpartie auf den Karriereleitern. Die Freiheit zum Innehalten, zum Stillstand ist nicht mehr gegeben, die Handlungs- und Möglichkeitenfreiheit des „Du kannst“ erzeugt durch die damit verbundenen Verheißungen den Zwang, sich unaufhörlich weiterzuentwickeln und weiterzubewegen. Der Mensch entwickelt eine Zwangsstörung hin zum „Immer weiter, höher, schneller“. Es gibt keinen Abschluss mehr, keinen Zustand mehr, in dem es heißt: „Jetzt ist es mal gut“, bei dem der Umtriebige mal „alle Fünfe gerade sein lassen kann“. Nach dem Ziel ist vor dem Ziel. Dieser Freiheitszwang erzeugt eine Endlosleistungsschleife, die zugleich die optische Täuschung erklärt, die das Hamsterrad von Innen wie eine Karriereleiter erscheinen lässt.
„Alles kann, nichts muss“ ist eine von der Generation Z gern verwendete Phrase, die diesen Missstand sehr treffend umschreibt. Wenn der Mensch die Freiheit hat, dass er „alles kann“, aber „nichts muss“, dann schmilzt unter dieser Fackel der Freiheit jede Verbindlichkeit wie das Wachs einer Kerze.
Der Begriff „Verbindlichkeit“ ist wortverwandt mit „binden“, „Bindung“. Wer alles machen kann und nichts muss, läuft Gefahr, die Fähigkeit zu verlieren, langfristige und mit Konsequenzen behaftete Entscheidungen zu treffen. Eine verbindliche Entscheidung zu treffen, sich an den Gegenstand der Entscheidung zu binden geht einher damit, sich von dem unendlichen Spektrum an Freiheiten scheiden lassen zu müssen. „Scheiden“ steckt im Wort „entscheiden“. Die Entscheidung hat somit etwas Abschließendes, was der Permanenz der Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit der neoliberalen Freiheit entgegensteht.
Beispielhaft zeigt sich das an lockeren, unverbindlichen Schönwetter-Beziehungskonstrukten, am heimatlosen, entwurzelten Digitalnomadentum, an der Wahlqual vor überquellenden Supermarktregalen oder den schier unendlichen Auswahlmöglichkeiten bei Streamingdienstleistern. Manche Psychologen nutzen in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung der „Depression of too many options“. Die Sorge, die Entscheidung für das eine verbaue die etwaige bessere Auswahl, führt zu diesem Entscheidungsunvermögen.
Weil wir die Freiheit haben, so vieles auszuwählen, aber uns nur für eines entscheiden zu können, bleiben wir am Ende ob des Zwanges unentschlossen.
Um weiter vorzudringen zu dem Versuch einer Antwort auf die Kernfrage dieses Textes, müssen wir die unterschiedlichen Handlungslimitierung zwischen dem „Du sollst“ und dem „Du kannst“ herausarbeiten.
Der Reiz der Grenzen
Am deutlichsten lässt sich der Antagonismus zwischen sollen und können im Bereich der Videospiele veranschaulichen. Die kontrastreichsten Gegensätze im Videospiel-Design sind die zwischen einer vorgegebenen Level-Struktur und einem Open-World-Spiel. Ersteres limitiert die Handlungsmöglichkeiten des Spielers in erheblicher Weise. Der Gamer muss seinen Avatar durch einen von den Programmierern vorab eingehegten Weg manövrieren und dort vorgegebene Herausforderungen meistern. Der optionale Handlungsrahmen beschränkt sich auf die erforderliche Geschicklichkeit, mit der die Herausforderungen des Spiels bewältigt werden müssen.
Gänzlich umgekehrt verhält es sich bei Open-World-Spielen, bei dem der Spieler ein hohes Maß an Handlungsfreiheit genießt. Hier durchläuft der Gamer keine vorgefertigten Levels, sondern bewältigt — so er das überhaupt möchte — Aufgaben, die innerhalb dieser offenen Spielwelt durchgeführt werden können. Hier ist der Handlungsrahmen multioptional und entsprechend sehr weit ausgedehnt. In vielen derartigen Videospielen ist es gar möglich, den Rahmen durch sogenannte Cheats zu sprengen. Das heißt, dass der Spieler eigenständig Mogel-Befehle in den Spielcode einspeisen und damit die von den Programmieren vorgegebenen Restbegrenzungen aufheben kann: etwa die Selbstverleihung von Unverwundbarkeit des Avatars oder die Verfügbarmachung von unendlicher Schussmunition, die bei einer redlichen Spielweise mühselig verdient werden muss.
Das wohl bekannteste und moralisch anrüchigste Beispiel für eine derartige Entgrenzung im Bereich der Videospiele ist die „Grand Theft Auto“ —, kurz „GTA“-Reihe. Dort kann der Spieler entweder vorgefertigte Aufgaben erledigen oder aber vollkommen sinnfrei — und mit entsprechenden Cheats auch nahezu ungehindert — Amok laufen. Diese Spielweise kann beim Gamer eine ungebremste Zerstörungswut entfachen, die erst dann ihr Ende findet, wenn die im Spiel einprogrammierte Polizei dem Treiben gewaltsam ein Ende setzt.
Vielfach ist zu hören, dass sich Spieler nach einer solchen, nahezu grenzenlosen „GTA-Orgie“ entleert fühlen. Mit dem ungehemmten Ausleben dieser Spielfreiheit ohne Level-Leitplanken, ohne Rahmenerzählung, ohne Herausforderung gerät der Zocker in ein Sinnvakuum. Die völlige Entgrenzung des Möglichkeitenrahmens befriedigt nicht. Hingegen kann ein Spieler langfristige Freude dabei empfinden, sich durch ein räumlich und optional limitiertes Leveldesign zu bewegen, dort an den Aufgaben zu wachsen und gleichzeitig sich als Teil einer mitreißenden Erzählung zu fühlen.
In diesem Beispiel sollte die Unterscheidung zwischen „Du sollst“ und „Du kannst“ gut herauskristallisiert worden sein. Ein Leveldesign sagt dem Spieler „du sollst... dieses und jenes Rätsel lösen, diese Herausforderung meistern oder diese Gegner bezwingen“. Entwickler wie „Rockstar Games“ sagen mit „GTA“ oder „Red Dead Redemption“ ihren Spielern „du kannst… machen was du willst“ und überlassen sie damit potenziell der grenzenlosen Freiheit, sich im Spiel auszutoben — bis zur Erschöpfung, hervorgerufen durch Sinnlosigkeit.
Noch ist es notwendig, von dem Beispiel mit den Videogames zu abstrahieren. Mit der Entwicklung von virtuellen Realitäten wie dem Metaverse jedoch wird für viele Menschen auch die letzte Scheidelinie zwischen analoger und digitaler Realität verschwimmen. Noch lebt aber ein Großteil der Menschen mehr oder weniger in der analogen Welt, und der oben skizzierte Gegensatz zwischen limitierten und gering limitierten Handlungsrahmen muss somit auf das „reale“ Leben übertragen werden, um der Kernfrage dieses Beitrages nachgehen zu können.
Ein aussagekräftiges Beispiel hierfür dürfte jedem noch aus der Schulzeit bekannt sein: die Sommerferien. Diese sechs Wochen bedeuteten nichts anderes als die völlige Entgrenzung der sonst durch die Schulzeit stark limitierten Freizeit, die sich am letzten Schultag in einem gefühlt inflationären Zeitüberfluss den Schülern darbot. Manch einer wird es noch kennen, wie sich nach ein bis zwei Wochen eine gewisse Langweile einstellte. Was ist schon ein freier Tag von 42?
Erst mit dem Beginn des neuen Schuljahres wurde dieser Überfluss an freier Zeit wieder spürbar, als Mangel, durch die vom Wochentakt vorgegebenen Limitierung. Als wie kostbar wurde das Wochenende empfunden im Vergleich zu irgendeinem Mittwoch und Donnerstag in der vierten Ferienwoche?
Während die Schulzeit durch ein für die Schüler vorgegebenes „Du sollst“ getaktet ist, sind die Sommerferien durch ein überforderndes „Du kannst“ charakterisiert, mit dem viele Schüler nichts anzufangen wissen und sich dann in Ermangelung von Sinnhaftigkeit — teils auch von den Eltern verordnet — einem straffen Freizeitprogramm unterwerfen, welches eine solche „Du sollst“-Taktung wiederherstellt.
Ein weiteres Beispiel — welches weiter oben schon angerissen wurde — ist die Angebotsinflation in Läden und auf Streaming-Plattformen. Durch die Flut an Waren entsteht eine Überforderung, die den Kunden manchmal ewig unschlüssig vor den Regalen und Nutzeroberflächen stehen und scrollen lässt, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Bei Streaming-Plattformen wird der eingangs erwähnte Paradigmenwechsel besonders deutlich. Kulturgüter wie Filme oder die Musik werden entdinglicht und von ihren Datenträgern losgelöst. War der Konsument im Vorstreamingzeitalter darauf angewiesen, einen Datenträger zu kaufen, dann war der Kauf eines Films oder eines Albums darauf limitiert. Hingegen hat die nahezu unendliche Auswahl aus der Streaming-Cloud zum pauschalen Flatrate-Preis nicht nur die inflationsbedingte Entwertung des einzelnen Films oder des einzelnen Musikstücks zur Folge, sondern auch die Unentschlossenheit, als Konsument eine Entscheidung zu treffen, sich also von dem Wahlprozess scheiden zu lassen.
Im Bereich des Medialen bleibend, entsteht eben auch aufseiten der Medienproduzenten eine entgrenzungsbedingte Überforderung. Seit geraumer Zeit zeigt sich dies beispielhaft in dem Ausbau der immer ausgefeilteren CGI-Technologie, den selbst für Laien immer zugänglicheren Profi-Hard- und Softwares und auch der vollkommenen Entgrenzung der Kamerafahrtmöglichkeiten durch Drohnen mit 360-Grad-Winkel-Objektiven.
In einer menschheitsgeschichtlich präzedenzlosen Weise findet seit Kurzem die Entgrenzung der kreativen Entfaltungsmöglichkeit ihren Ausdruck in der immer nutzerfreundlicheren Anwendbarkeit und Verfügbarkeit unterschiedlichster KI-Module. Durch den technologischen Mauerfall findet sich die menschliche Kreativität mit einem Mal auf einem unendlichen Möglichkeitenfeld wieder, welches vorher durch technische Begrenzungen schlicht nicht vorhanden war. Will heißen, dass um den Kreativschaffenden herum sich schlagartig die Gitterstäbe technologischer Grenzen in Luft auflösen. Künstler und Kreativschaffende befinden sich nun in einer „grenzenlosen Freiheit“, wie sie Reinhard Mey der Sphäre über der Wolkendecke angedichtet hat.
Vom „Sollen“ über das „Können“ zum „Wollen“
Wie lösen wir also dieses Dilemma? Etwa durch eine Rückkehr in die Unfreiheit? Das kann beileibe nicht die Lösung sein! Ganz abgesehen davon, dass das Rad der Zeit keinen Rückwärtsgang kennt. Gerade auf technischer Ebene stehen derart viele Möglichkeiten zur Verfügung; niemand vermag es, diese wieder aus der Welt zu schaffen. Vielmehr sollte es um die Frage gehen, wie wir mit diesen Möglichkeiten umgehen. Schlussfolgernd gehen auch retromanische Nostalgietrips fehl, die ein Zurück in eine vermeintlich gute alte, übersichtliche Welt anstreben. Diese Welt gibt es nicht mehr, und sie wird auch nicht mehr zurückkommen!
Retro-Gegenstände ziehen ihren Reiz aus der eingeschränkten Optionalität, die an die — gefühlte — Einfachheit und im Vergleich zu heute überschaubaren Komplexität vergangener Tage erinnert. Gettoblaster konnten nur die Lieder abspielen, die der Besitzer als Kassette vorrätig hatte. Der Rechner mit Windows 2000 konnte nur Videospiele bis zu einem gewissen Leistungsprofil laufen lassen. Nicht lange währt die mit diesen Gerätschaften anfänglich erlebte Nostalgie bei der Wiederentdeckung und Wiederverwendung im Heute.
Die nostalgische Wonne des Wiederentdeckens von Dingen aus früheren Zeiten weicht schnell der Unzufriedenheit über deren Beschränktheit, die der Mensch im 21. Jahrhundert mittlerweile nicht mehr gewohnt ist. Mag es zu Beginn ein Genuss sein, Vinyls in bezaubernden Klang auf dem Plattenspieler zu hören, so wird mancher von Spotify verwöhnte Hörer des aufwendigen Liederwechsels oder der nicht vorhandenen Wartelisten-Funktion schnell überdrüssig.
Die Handhabe der optional eingeschränkten Retro-Gegenständen aller Art verliert schnell ihren Reiz, da der Mensch sich im digitalen Zeitalter bereits hinlänglich an das Übermaß an technologischen Freiheiten gewöhnt hat. Es bereitet eben keine lang anhaltende Freude, nur wegen des Retro-Feelings beispielsweise wieder auf alten Röhrenmonitoren zu arbeiten, weil unsere Augen mittlerweile die gestochene Schärfe der Flachbildschirme kennen und das Flimmern als störend empfinden.
So würde auch aufseiten von Medienproduzenten aller Art keiner auf die Idee kommen, vollumfänglich wieder auf alte Technologie zurückzugreifen. In Hollywood wird niemand dazu übergehen, die CGI-Effekte auf einem Rechner der 1990er-Jahre zu rendern.
Bleiben wir bei diesem Beispiel, um den Pfad nachzuzeichnen, der sich vom „Sollen“, zum „Können“ hin zu einer ganz neuen Kategorie erstreckt: dem „Wollen“.
Bis in die 1990er-Jahre unterlag selbst Hollywood bestimmten technischen Begrenzungen. Die technologische Limitation diktierte den Filmemachern und im Besonderen dem für Spezialeffekte zuständigen CGI-Department klare Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegen konnten. Im ersten Teil der „Jurassic Park“-Reihe etwa, der in puncto Spezialeffekte Maßstäbe setzte, gab es einzelne Takes mit Dinosauriern, bei denen der Rechner tagelang (!) mit Rendern beschäftigt war.
Heute können die Studios die gleichen Effekte in teils besserer Qualität binnen Minuten rendern. Die völlige Entgrenzung der technischen Möglichkeiten hat die Zuschauer zugleich die Gabe des Staunens verlernen lassen. Stellte sich das Publikum angesichts der handgemachten Action des Kinos im letzten Jahrhundert noch ungläubig die Frage: „Wie haben die das denn gemacht?“, so weiß man heute ganz lapidar darauf zu verweisen, „das haben die am Computer gemacht“. Das staunen lassende „Wie“ wich einem schulterzuckenden Verweis auf die Blackbox des rechenpotenten Supercomputers, der binnen Minuten animierte Raumschiffe und andere furiose Bilder ausspucken kann.
Mit dem Wegfall von genau solchen Grenzen ging zugleich der Reiz verloren, ebendiese Grenzen auszureizen, zu testen und sie letztlich zu überwinden. Nun könnte man eigentlich davon ausgehen, dass die technische Entgrenzung dazu führt, dass Kunstschaffende, befreit von den Ketten der technischen Limitation, nun dazu übergehen, gänzlich neue Geschichten zu erzählen. Es vollzieht sich jedoch nur in den seltensten Fällen, dass die immer entgrenztere Technik zur tragenden Säule einer Geschichtserzählung wird. Sie ist nicht mehr das Mittel zum Zweck der Geschichtserzählung, sondern wird zu einem reinen Selbstzweck, wie das in den vielen CGI-Orgien zu beobachten ist, bei denen die Erzählung nur noch eine Beilage ist, um das Effekt-Feuerwerk nicht der gänzlichen Sinnlosigkeit zu überlassen.
So gesehen hat sich die Filmbranche emanzipiert von dem technischen Rahmen, innerhalb dessen sie etwas erzählen soll, und befindet sich nun in einem schier endlosen Möglichkeitenfeld, auf welchem sie nicht müde wird zu demonstrieren, was sie kann. Doch es fehlt auf diesem Möglichkeitenfeld eben die dritte Dimension, welche die dortige Sinnlosigkeit zu überwinden vermag: das Wollen. Was wollen wir erzählen? Auf diese Frage weiß Hollywood möglicherweise keine Antwort. Entsprechend begnügen sich die Studios damit, alte Erzählungen, alte Filmfranchises mit neuen Effekten aufzuwärmen.
Das Problem mit den grenzenlosen Möglichkeiten, der grenzenlosen Freiheit ist nur so lange ein Problem, bis wir ein richtungweisendes Wollen gefunden haben, welches uns in diesem „Himmel“ den Weg zu unseren Zielen aufzeigt.
Ziehen wir hierzu ein Positivbeispiel heran, ebenfalls aus dem Medienproduktionsbereich: „Snickers für Linkshänder“, kurz „Snicklink“. Wer den KI-Künstler nicht kennt, ist nicht „über den Wolken“, sondern hinterm Mond. Willy Kramer, so der bürgerliche Name des Meme-Creators, stellt mit seinen KI-generierten Deep Fakes — oder auch „Deep Truths“ — seit 2023 das Netz nicht nur in Deutschland auf den Kopf. Schon viele Jahre zuvor sorgte er mit satirischen Bildmanipulationen für Aufmerksamkeit. Doch mit der Entdeckung der immer nutzerfreundlicheren KI-Tools betrat er ab 2023 das unbegrenzte Möglichkeitenfeld, wie er in seiner Jahresrückschau mit dem Titel „DEEP TRUTH — Mein Jahr mit künstlicher Intelligenz“ konstatiert: Prominente mit ihrer eigenen Stimme Dinge sagen lassen, die sie niemals geäußert haben, verstorbene Persönlichkeiten wieder zum Leben erwecken und sie zu tagesaktuellen Geschehnissen ihren Senf abgeben lassen, Musikklassiker vollständig umkomponieren und generell das vollständige Durchwurschteln des popkulturellen DNA-Codes — nichts scheint mehr unmöglich zu sein.
In der Vergangenheit hat der Conspidian (Conspiracy + Comedian) unter anderem für die Öffentlich-Rechtlichen gearbeitet. Dort war er naturgemäß den Vorgaben seiner Auftraggeber unterworfen, einem „Du sollst“. Spätestens seit 2023 gibt es nichts mehr, was Snicklink sollen muss — Snicklink kann! Und zwar so ziemlich alles, was schon ein nur oberflächlicher Blick durch seine Schaffenswerke überdeutlich zeigt.
Und hier kommt der entscheidende Punkt: Willy Kramer ist mit seinem Tun nicht deswegen so erfolgreich, revolutionär und visionär, weil er alles kann. Das alles können andere auch. Nein, er kann mehr als nur alles: Er hat darüber hinaus das alles entscheidende Wollen, welches sein Können zu dem bahnbrechenden Comedy-Konzentrat macht, das weltweit für Aufsehen sorgt. Theoretisch könnte Snicklink mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten genauso gut nur stumpfen Content auf Oliver-Welke-Niveau fabrizieren, etwa Björn Höcke „Hey Macarena“ singen und tanzen lassen oder ähnlich Stupides. Aber Kramer weiß, was er will, er hat Ideen, Visionen und geistreiche Einfälle, für deren Umsetzung er das unendliche Spektrum des Könnens zielgerichtet kanalisiert.
Damit sind wir nun zum Ausgangspunkt dieser Überlegung zurückgekehrt:
Es ist das Wollen, mit dem wir den Zwang überwinden können, der sich aus dem grenzenlosen Können ergibt.
Wenn wir vor dem unüberschaubaren Buffet der Möglichkeiten stehen, erlischt das zwanghafte alles durchprobieren Müssen, wenn wir wissen, was wir wollen. Sind wir uns dessen gewahr, was wir wollen, dann verspüren wir nicht länger die Angst vor verpassten Möglichkeiten, weil wir das Spektrum dessen, was wir alles tun könnten, gemäß unserem Wollen filtern.
Statt dass uns jemand Leitplanken anlegt, wie wir es aus den von einem Sollen geprägten Disziplinargesellschaften noch kennen, so ist es unser Wille zum Wollen, mit dem wir uns selbst die Leitplanken setzen. Die sind dann jedoch keine restriktive Begrenzung mehr, sondern mehr eine Orientierung gebende Fahrbahnmarkierung auf dem Weg zu unseren Zielen.
Ein solches Wollen zu entwickeln ist für die kommende Zeit unabdingbar. Machen wir uns nämlich nichts vor: Die alte Arbeitswelt wird kollabieren und mit ihr der Zwang zu einem fremdbestimmten Malochen in sinnbefreiten Bullshit-Jobs. Ein Großteil der Menschheit dürfte mit der Frage nach dem eigenen Wollen noch vollkommen überfordert sein, da die unbegrenzte Möglichkeit zu seiner Ausübung bislang als unvorstellbar galt. Wenn ab morgen also der Zwang zur Lohnarbeit entfällt — was will der Mensch dann?
Es ist nun drängender denn je, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Andernfalls droht schon in wenigen Jahren das Abgleiten in ein solches Sinnvakuum. KI, Robotik und 3D-Druck werden sämtliche Möglichkeitsgrenzen sprengen. Wenn die Menschen in diesem beispiellosen Umbruch kein eigenes Wollen entwickeln, dann wird das von Algorithmen übernommen, die anstelle des menschlichen Geistes ein künstliches Wollen ausbilden, welches der Mensch mit seinem eigenen Wollen verwechseln wird. Im Grunde genommen sind wir schon auf der Schwelle zu dieser Entwicklung. Man denke hierbei nur an das Abscannen von Google-Bewertungen, die die Restaurant-Auswahl letztlich entscheiden, oder die auf digitalem Verhaltensüberschuss basierende, personalisierte Werbung, die ein Wollen suggeriert, welches nicht das eigene ist (3).
Der Zukunftsforscher Christof Niederwieser macht eine schöne Gegenüberstellung der Erdepoche mit der Luftepoche. In der Erdepoche, so Niederwieser, sei das Außen durch das Geerdete charakterisiert gewesen, das heißt durch stetig-stabile, schwerlich und, wenn überhaupt, nur langsam abänderliche Dispositionen. Im Inneren, im Geiste konnte es hingegen sehr luftig sein. Es war möglich, dem Starren im Außen durch Tagträumereien innerlich zu entfliehen, die jedoch im Außen seltenst eine Veränderung bewirkten.
In der Luftepoche verhält es sich genau umgekehrt. Das Außen wird luftig, flexibel, fluktuierend, wohingegen es nun darauf ankommt, in sich selbst geerdet zu sein. Statt rein gedanklich Tagträumen nachzuhängen, bietet nun das multioptionale Außen eine bislang nicht vorstellbare Bandbreite an Möglichkeiten, die allerdings nur nachhaltig und zielführend realisiert werden können, wenn der Mensch in seinem Inneren gefestigt und sich seines Wollens bewusst ist.
Wann, wenn nicht in der Luftepoche, kommen wir der von Reinhard Mey besungenen grenzenlosen Freiheit über den Wolken näher? Die wirklich erfüllende Freiheit besteht allerdings nicht darin, über den Wolken zu verweilen, sondern uns von dort aus einen Überblick zu verschaffen, was wir hier auf dieser Welt, genauer gesagt auf dieser Erde wollen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe Han, Byung-Chul: „Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“, Frankfurt am Main, 2014, S. Fischer, Seiten 9 folgende.
(2) Vergleiche Mausfeld, Rainer: „Hybris und Nemesis: Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt — Einsichten aus 5000 Jahren“, Frankfurt am Main, 2023, Westend, Seiten 272 folgende.
(3) Vergleiche Zuboff, Shoshana: „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, Frankfurt am Main, 2018, Campus, Seiten 385 folgende.