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Die alternative Kraft

Die alternative Kraft

Setzen wir den neuen Kriegstreibern eine starke Bewegung von unten entgegen.

Paradoxie der Zeit

Mit einem besonders bildreichen, dialektischen und messerscharfen Blick auf die Gegensätze sagte Karl Marx auf der Jahresfeier des „People’s Paper“ am 14. April 1856 in London:

„In unsern Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zu Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter.
In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigene Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können. All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.
Einige Parteien mögen darüber wehklagen; andere mögen wünschen, die modernen technischen Errungenschaften loszuwerden, um die modernen Konflikte loszuwerden. Oder sie mögen sich einbilden, dass ein so bemerkenswerter Fortschritt in der Industrie eines ebenso bemerkenswerten Rückschrittes in der Politik zu seiner Vervollständigung bedarf. Wir für unsern Teil verkennen nicht die Gestalt des arglistigen Geistes, der sich fortwährend in all diesen Widersprüchen offenbart. Wir wissen, dass die neuen Kräfte der Gesellschaft, um richtig zur Wirkung zu kommen, nur neuer Menschen bedürfen, die ihrer Meister werden – und das sind die Arbeiter“
(1).

Dieser Text ist älter als eineinhalb Jahrhunderte. Und bis auf die Gewissheit, dass die Arbeiter die Lösung bringen, ist er hochaktuell. Der programmatische Textteil die Arbeiter betreffend folgt der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit. Was Marx sich nicht vorstellen konnte, ist, dass noch im Kapitalismus eine Zeit kommt, in der Arbeiter nicht massenhaft in der Produktion zusammengeführt werden, sondern durch Vollautomatisierung und computergestützte Ablaufrationalisierung auch an den verbleibenden Arbeitsplätzen – etwa am Monitor – zunehmend vereinzelt werden.

Der Kapitalismus ist die Gesellschaft, in der Kapitaleigner Arbeiter dann beschäftigen, wenn ihre Arbeit Profit bringt. Die bürgerliche Ökonomie spricht hier von Arbeit(splatz)gebern und Arbeitnehmern.

Wie aber heißt eine Gesellschaft, in der dieses Verhältnis durch die wissenschaftlich-technische Revolution immer weniger die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums bestimmt?

Revolutionäre Zeiten

Im kommunistischen Manifest schreibt Marx zusammen mit Engels, dass eine Klassengesellschaft solange stabil ist, wie die unterdrückte Klasse „wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. …Der moderne Arbeiter dagegen … sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. … Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben.“ (2) Diese hochkomplexen Fragen ergaben sich aus dem alles umwälzenden Sprung in der Produktivkraftentwicklung seiner Zeit, da die Großindustrie die Agrargesellschaft des Mittelalters mit dem Übergang von menschlicher Muskelkraft auf Maschinen ablöste.

Wir ZeitgenossInnen – und nicht nur die KrisenmanagerInnen – stehen vor Herkulesaufgaben in der Geschichte der Menschheit, da heute die Digitalisierung das Tempo der Entwicklungen atemberaubend steigert, das betrifft die Umweltrisiken sowie die immensen Veränderungen im Freizeitverhalten und in der Ökonomie. Hinzu kommt, dass die Militärtechnik gerade auch noch den Menschen aus dem direkten Zugriff aufs Geschehen zu verdrängen droht und das schneller, als aufmerksame Beobachter dieser Entwicklung gewarnt hatten.

Ab-Lenkung

Und genau in dieser Phase der Geschichte lenkt sich der Großteil der Menschheit von den eigentlichen, überlebenswichtigen Aufgaben ab: durch den sogenannten Krieg gegen den Terror und die Fortführung des Ringens um Profit, Macht, Marktanteile, Zugänge zu den Naturschätzen und zu den Handelswegen der Erde.

Schlimmer, dieses Ringen ist nicht nur eine Ablenkung, es bedeutet auch das Verlieren wertvoller Zeit, die wir – bald – nicht mehr haben. Und es beschleunigt zudem mit Gewalt und all ihrer Zerstörung die Zukunftsgefährdungen. Das mag den KrisenmanagerInnen vielleicht wenigstens in ihren Sternstunden ins Bewusstsein vordringen. Wer weiß. Was tief in einem Menschen vor sich geht, bleibt teils sogar ihm selbst verschlossen. Immer wieder einmal verlässt ein Konzernvertreter den Wettbewerb um Marktanteile und wechselt in alternative Bereiche.

Suchtveralten und Jagd nach Profit

Die Jagd nach Profit im Kampf um Marktanteile hat suchtsteigernde Elemente. Wer Spieler ist oder ein anderes, deutlich ausgeprägtes Suchtverhalten zeigt, dem ist nichts wichtiger als der Stoff beziehungsweise die Suchtbefriedigung. Dafür setzt er selbst Liebesbeziehungen und Familien, seine eigenen Existenzbedingungen, seine eigene Existenz – die eigene Zukunft und die anderer aufs Spiel. Und sein Verhalten betrifft mitnichten nur seine private Welt, sondern es kann für die ganze Welt von Belang sein, wie das der Baseler Soziologe Urs Stäheli an der Vorgeschichte der Weltwirtschaftskrise von 2008 bis 2011 in einem Interview mit der Wirtschaftswoche deutlich macht:

„Wenn wir verstehen wollen, wie die moderne Ökonomie funktioniert, ist es wichtig, das irrationale, rauschhafte Element der Kapitalmärkte zu erfassen.“

Der Spekulant sei jemand, der keine „Verantwortung übernimmt“, da er sich „nicht mit Werten, sondern mit Wertdifferenzen“ befasst (3).

„Der Skandal der Finanzökonomie besteht darin, dass der Spekulant sich – wie der Spieler – bewusst entscheidet, irrational zu sein. Und er versucht, eine ungewisse Zukunft nicht nur beherrschbar, sondern berechenbar zu machen. Die bewusste Entscheidung für Suchtverhalten steht hier für Gesundheit.“

Auf die Frage eines Redakteurs der Wirtschaftswoche: Wann trat der Spekulant aus seiner Identität des „Homo ludens“ heraus? Wann reifte er zum „Homo oeconomicus“? antwortet Stäheli:

"Es ist der …Moment, an dem der Versuch unternommen wird, die Finanzspekulation … gegen das Glücksspiel abzugrenzen.“

Mit der Schnelligkeit des Internet wird die Panikgefahr „der Gerüchteküche besonders offenbar. Hier schlägt die Gier plötzlich in Angst um… Jeder möchte sich so schnell wie möglich retten, ohne Rücksicht auf die anderen.“

„Der Spekulant entwickelt ... ein Gefühl, das sich …durch die Geschwindigkeit des Zahlenflusses an seinem Bewusstsein vorbeischleicht“ (4).

Mit welch unkritischem Bewusstsein der Wirtschaftslenker und der von ihnen bezahlten Berater wir rechnen müssen, macht ein Blick in die Wirtschaftswissenschaften deutlich - der Nobelpreisträger Paul Krugmann schrieb in der ersten Hochphase der Weltwirtschaftskrise 2009 in der New York Times:

„Man kann es kaum mehr glauben, aber vor kurzem noch beglückwünschten die Ökonomen sich selber ... ‚Das zentrale Problem der Verhütung von wirtschaftlichen Depressionen ist gelöst’, erklärte Robert Lucas von der University of Chicago im Jahre 2003. Ben Bernanke, der ehemalige Princetown-Professor, der heutige Chef der amerikanischen Notenbank, feierte 2004 das ‚große Maßhalten’...
Letztes Jahr brach alles zusammen. ... In den Dreißigerjahren hielt man verständlicherweise nicht viel von Finanzmärkten. Insbesondere Keynes betrachtete es als eine ausgesprochen dumme Idee, wichtige ökonomische Entscheidungen von Märkten beeinflussen zu lassen, die von den kurzfristigen Interessen von Spekulanten dominiert werden.... Dominiert wurde die Makroökonomie in der Folge von den Ideen von Eugene Fama... Seine Effizienzmarkthypothese besagt ...:
Es gibt längerfristig gar keine überbewerteten Wertpapiere, weil der Preis eines Papiers sich immer auf dem richtigen Niveau einpendelt....
Das theoretische Modell hinter diesen Überlegungen... ist tatsächlich ein auf den ersten Blick elegantes Modell... Für die scheinbare Eleganz und die Nützlichkeit dieses Modells wurden seine Erschaffer mit dem Nobelpreis geehrt...
Was erstaunt ist, dass die Finanzökonomen sich nie die Frage gestellt haben, ob die Preise von Kapitalmarktpapieren überhaupt Sinn machten, verglichen mit harten Daten wie zum Beispiel dem Durchschnittseinkommen. ...
Der allgemeine Glaube war: Der Markt bestimmt immer den richtigen Preis, folglich kann keine Blase entstehen. ...
Nun, da klar ist, wie unsicher scheinbar sichere Wertpapiere gewesen sind und in den USA alleine 13 Billionen Dollar einfach verdampft sind und sechs Millionen Menschen zusätzlich ohne Job sind, stellt sich eine wichtige Frage: Welche Auswege kann uns in dieser schwierigen Lage die moderne Ökonomie noch bieten? Und: Darf man ihr trauen?“
(5).

Die Antwort ergibt sich aus der Frage selbst. Es ist wichtig, die Erfahrungen der Welt(finanz)Krise von 2008 folgende im Bewusstsein zu halten, um nicht der Ablenkung des Neoliberalismus zu erliegen, der mit weiteren Privatisierungen und De-regulierungen die Sicherheitssysteme für Lohnabhängige immer weiter zur Demontage frei gibt und der sich dabei als alternativlos darstellt.

Die alternative Kraft mobilisieren

Wir brauchen einen neuen Aufschwung der Bewegungen, die diesem „Spiel“ ein Ende bereiten, ehe es im Ende der Zivilisation mündet, wenn den KrisenmanagerInnen plötzlich die Kontrolle entgleitet. Auch eine Sammlungsbewegung kapitalismuskritischer Kräfte kann hier eine Chance bieten. Sie muss allerdings mehr sein als ein Top-down-(von-oben-herab)-Projekt. Sie muss eine von vielen Menschen getragene Bewegung sein.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Marx Engels Werke Band 12, Berlin/DDR 1963 S.3f.
(2) http://mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm Abschnitt 471
(3) Wirtschaftswoche 26/2002
(4) ebenda
(5) Das Magazin, Zürich 38/2009, S. 38-41


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