Menschen lernen durch Nachahmen. Gehen, Sprechen, Malen … Theorien helfen uns, bestimmte Dinge zu verstehen; inspirierend sind sie eher selten. Erlebte Erfahrungen anderer hingegen sind greifbar und zeigen uns, was wirklich möglich ist. Schon allein deshalb ist es wichtig, dass jüngere Menschen Kontakt zu älteren haben, ihre Lebensgeschichten hören und von ihren Erfahrungen lernen.
Als Manova die Sonderausgabe zum Thema „Alt und Jung“ ins Leben rief, hielt ich mich zurück, da ich mich weder zu den Jungen noch zu den Alten zähle. Dann las mir meine 65-jährige Freundin Petra aus dem Buch „Altern“ von Elke Heidenreich vor, und ich wurde neugierig. Schließlich wachsen mir schon graue Haare, die ich nun doch färbe, weil ich noch nicht alt aussehen will, während ich die Weisheit und Selbstsicherheit, die mit meiner Lebenserfahrung wachsen, wiederum sehr schätze und nicht noch einmal jünger sein wollen würde.
Meine jüngste Freundin ist 21, die älteste 80. Somit habe ich Kontakt zu verschiedenen Generationen. Dabei sind manch jüngere Freunde von mir weiser als ältere Semester. Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn sich mehr jüngere Menschen bewusst wären, dass sie auch einmal alt sein werden, sofern sie nicht jung sterben, und ältere Leute sich an ihre Bedürfnisse in der eigenen Jugend besser erinnern und in heutige Jugendliche hineinversetzen würden? Wenn sie im Gespräch wären, einander wirklich zuhören könnten?
Elke Heidenreich leistet einen Beitrag dazu, indem sie öffentlich über das Altern sinniert und ihre Lebenserfahrung auf kluge, lustige und manchmal auch nachdenkliche und wütende Weise mitteilt.
Die Lektüre ihres Büchleins von gerade einmal 111 Seiten hilft mir bei all den politischen und gesellschaftlichen Krisenzuständen, die über die Medien und auf der Straße täglich auf mich einwirken, ein Stück Leichtigkeit zurückzugewinnen.
Bereits die ersten drei Seiten vollbringen dieses Kunstwerk. Das erste Kapitel beginnt mit dem Satz: „Ich habe mein Leben komplett in den Sand gesetzt.“ Darauf folgt eine Rückschau auf ihr Leben im Schnelldurchlauf: Geburt im Krieg, Pflegeeltern, abgebrochenes Studium, Kettenrauchen, Lungenkrankheit, Heirat und Scheidung zweimal, Krebs, Arbeit fürs Fernsehen und „die beste Sendung, die (sie) je gemacht (hat) — die Buchsendung ‚Lesen!‘ — in den Sand gesetzt, weil (sie) das ZDF einen kulturlosen Haufen genannt (hat)“, jetzt achtzig und Schlafprobleme.
Einmal umblättern und es geht weiter mit: „Ich hatte ein unfassbar wunderbares Leben.“ Darauf folgt eine Rückschau auf ihr Leben im Schnelldurchlauf: Krieg kaum noch mitbekommen, überforderte Eltern, die sie liebten, Pflegefamilie ermöglichte ihr Zugang zu Kultur und Studium, schwere Krankheiten überwunden, zwei Ehen mit netten und klugen Männern, nach der zweiten Scheidung Zusammenleben mit einem viel jüngeren Musiker, schöne und gut bezahlte Arbeit beim ZDF, inzwischen achtzig und dankbar, wenn sie nachts wachliegt.
Im dritten Kapitel überlässt sie es ihren Lesern, sich eine dieser Lebensversionen auszusuchen. Sie präsentiert sich mit ihren Fehlern (Rauchen, Trinken, Leichtsinn, Untreue) und mit ihren Stärken (Bestseller-Autorin, die keine Geldsorgen hat). Welch eine Wohltat, wenn ein Mensch sich so offen und hemmungslos zeigen kann. Alle Anforderungen, die ich an mich selbst und an meine Mitmenschen stelle, fallen von mir ab.
Sie zitiert kluge Sätze von Philosophen und Schriftstellern zum Thema Altern, wie zum Beispiel Voltaire: „Da es für die Gesundheit sehr förderlich ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ Und sie fügt hinzu:
„Klappt nicht immer, ist doch aber den Versuch wert, oder? Wir werden geboren, wir werden sterben, und lange verorten wir dieses Sterben in unendlich weiter Ferne, wir sind viel zu beschäftigt, um wahrzunehmen, wie es immer näher rückt.“
Glück und Sterben sind zwei Begriffe, die in gesellschaftskritischen und politischen Artikeln selten auftauchen. Dabei spielen sie darin die Hauptrolle, denn jegliches politische und soziale Engagement hat doch zum Zweck, die Lebensbedingungen zu verbessern.
Das unbewusste Ideal hinter der Kritik an den Zuständen der Welt ist doch ein glückliches Leben für so viele Menschen wie möglich. Nur können wir dies meist nicht beeinflussen, stellen fest, dass wir ohnmächtig sind. Zumindest was die Weltsituation anbelangt. „Altern“ von Elke Heidenreich zeigt hingegen, wo wir nicht machtlos sind und wie es ihr trotz Schicksalsschlägen gelang, nicht nur alt, sondern auch glücklich zu werden.
„Wir tragen die Verantwortung für unser Leben. Ich hatte phantastische Höhen und schreckliche Abstürze, und mit beidem bin ich dankbar ausgesöhnt. Ich kämpfe gegen nichts an, was unvermeidbar ist. Das verleiht meinem Alter Zufriedenheit und Ruhe. Und die euphemistisch so genannten ‚lebenserhaltenden Maßnahmen‘ wird es bei mir auch nicht geben, denn sie machen das Leben ja nicht lebenswerter, sondern verlängern nur das Sterben.“
Mit Gesellschaftskritik hält sich die Autorin nicht zurück. Sie ist sauer auf ihre Mitmenschen und schmiedet freudig Pläne für einen Nachruf, den sie vor ihrem Tod selbst verfassen würde:
„Was für ein ängstlicher, anspruchsloser, mittelmäßiger Haufen seid ihr alle miteinander! Ihr schreibt, druckt und lest überflüssige Bücher, ihr lasst euch ein Fernsehen vorsetzen, das unzumutbar ist, ihr fresst in Massen Tiere, ohne zu sehen, wie die leiden, ihr lasst die Oper eingehen, dieses wunderbare Kunstwerk, das euch zu kompliziert geworden ist. Ihr begreift gar nichts. Eure Ansprüche sind im Materiellen riesig und im Intellektuellen, im Kulturellen mikroskopisch, ihr habt kein Mitgefühl mehr, und ihr könnt euch für nichts mehr begeistern. Ich bin tot, aber ihr seid es auch, jetzt schon, ihr habt mich alle miteinander enttäuscht und entsetzt und angewidert, fahrt zur Hölle, ich gehe schon mal vor und heize da für euch ein.“
Sie hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, während sie zugleich aus ihrer eigenen Unvollkommenheit keinen Hehl macht. Ein Buch voller Witz und Lebensweisheit, das gerade gesellschaftskritische Leser von ihrer Frustration befreien und ihnen zu mehr Lebensfreude verhelfen kann.
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