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Solidarität mit den Nichtkämpfern

Solidarität mit den Nichtkämpfern

Die westliche „Stand-with-Ukraine“-Haltung ist schizophren — wer Solidarität verdient, sind die Kampfverweigerer auf beiden Seiten der Fronten.

Es ist leicht, „mit der Ukraine“ zu stehen. #StandWithUkraine, wie es im Englischen proklamiert wird. In der Ukraine zu stehen, ist dann schon wesentlich „schwieriger“, um nicht zu sagen tödlicher. Schon bald könnte auf ukrainischem Boden jeder Schritt, der einem Stehen vorausgeht, der letzte sein. Dann nämlich, wenn dieser Schritt auf einen Streumunition-Blindgänger trifft.

Gemeint sind jene Streumunitionen, die nun auch in die Ukraine ausgeliefert werden und das, obwohl sie ob ihres menschenverachtenden Charakters weltweit geächtet sind. Aber die Russen werden ja unlängst nicht mehr zu den Menschen dazugezählt. Doch selbstredend bleibt die tödliche Wirkung der Streumunition nicht auf die zu „Unmenschen“ erklärten Russen beschränkt, sondern sie entfalten dieselbe Wirkung auch gegenüber der als sakrosankt erklärten, aber schwammig definierten Menschengruppe namens „die Ukrainer“.

In der Streumunition offenbart sich die gesamte Schizophrenie des Woke-Werte-Westens. Denn diese Munition verhält sich im Gegensatz zu ihren Befürwortern neutral. Sie zerfetzt jeden: Jeden Kopf, auf dem sie landet, und jeden Fuß, der auf sie tritt. Sie unterscheidet nicht zwischen Russe und Ukrainer oder zwischen irgendwelchen Geschlechtern.

Insofern zeigt die Forderung nach Streumunition, dass die westliche Kriegsbesoffenheit nach unzähligen Kiew-Mules einen Pegel erreicht hat, der die Trinker an den Rand einer Alkoholvergiftung treibt.

Denn inwieweit hat die Lieferung dieser Waffen noch irgendetwas mit einer wie auch immer gearteten Solidarität zu tun, wenn sie jene Menschen bedroht, mit denen man sich solidarisiert?

Im Grunde genommen ist dies ein weiterer Offenbarungseid der „I-support-the-current-thing“-Fraktion, die auf jeden Zug der Political Correctness aufspringt und dabei nur ihr vermeintliches Besser-Sein demonstrieren möchte, während ihr die betreffenden Menschen im Grunde genommen herzlich egal sind. Was hat die Menschen, die heute „mit der Ukraine stehen“, in den vergangenen acht Jahren das Leid der Ostukrainer gekümmert, die von ihren westukrainischen Mitbürgern attackiert wurden?

Hier wird zugleich die Beschränkung der Ukraine-Solidarität sichtbar, diese endet nämlich an einer gewissen Grenze zwischen dem Westen und dem Osten des Landes. Werden Ostukrainer von Westukrainern angriffen, kann fast ein Jahrzehnt lang das Blut fließen, ohne dass dies die Kreise der Political Correctness überhaupt zur Kenntnis nehmen. Marschiert jedoch Russland in genau jene Ostukraine ein, deren innerstaatliche Bekämpfung zuvor niemanden geschert hat, dann folgt auf einmal eine auf den Westteil des Landes beschränkte Welle der Solidaritätsbekundungen — nachdem man im Februar 2022 noch einmal schnell googelte, wo auf der Karte sich die Ukraine eigentlich befindet.

Echte Solidarität

Martialische Forderungen kommen von wohlstandsverwahrlosten, wehrunfähigen Menschen, die eine Grippe mehr fürchten als Atombombenabwürfe und die sich im Gefechtsfall durch den Rückstoß der MG eher die Schulter auskugeln würden, ehe sie die Gewehrkugeln in das gewünschte „Weichziel“ versenken. Da sind wir angekommen und diese Ausgangslage ist brandgefährlich. Jahrzehnte der Gamifizierung von Krieg haben jedwedes Bewusstsein und jede Sensibilität für das Schlimmstmögliche im menschlichen Miteinander — den Krieg — dahinschmelzen lassen. So euphorisch für den Krieg trommeln können wohl nur jene, die ihn nie erlebt haben oder Dank ihres sozioökonomisches Status nie an einem solchen teilnehmen müssen.

„Ausblutbaden“ müssen das jene Vielen, die sich dem Sog des kriegerischen Fleischwolfs nicht entziehen können. Den Krieg der Reichen müssen bekanntermaßen die Armen austragen. In der Ukraine gleicht die Rekrutierung mittlerweile einer Menschenjagd. Das „Territoriale Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung“, kurz TCC, ist mittlerweile dazu übergegangen, junge ukrainische Männer im wehrfähigen Alter auf offener Straße zu entführen und an die Front zu schicken.

Diese abgrundtiefe Abscheulichkeit muss man sich einmal klar vor Augen führen: Da werden — junge — Menschen aus ihrem alltäglichen Leben, aus dem Kreis ihrer Liebsten gerissen, verschleppt, bekommen anschließend in der Kaserne den Schädel kahl geschoren. Hernach werden sie an eine Front und damit in den fast sicheren Tod oder die lebenslängliche Verstümmelung geschickt, um dort auf andere Menschen zu schießen, die ihre Freunde oder gar Verwandten sein könnten.

Wo bleibt hier die Solidarität?

Die Kampfzone erscheint wie ein gefräßiges Monster, das nach Menschenblut dürstet, unabhängig von jeder Nationalität. Versiegt der Nachschub an Frischfleisch, da Propaganda-Methoden zwecks der Rekrutierung nicht mehr ziehen und Vorladungen zum Militärdienst verweigert werden, dann werden junge Menschen mit Gewalt in die Todesmaschine des Krieges gestoßen.

Diese absolute Widerwärtigkeit ist kaum in Worte zu fassen. Neun Monate braucht es, um ein menschliches Leben im Bauch einer Frau herangedeihen zu lassen. Nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde bedarf es hingegen, um dieses Leben auszulöschen.

Das eigene Leben zu riskieren, ist dann ein heroischer Akt, wenn es sich etwa um Rettungsaktionen bei einer Umweltkatastrophe handelt. Ukrainische Männer an eine Front Richtung Russland zu schicken, rettet kein einziges Leben, vernichtet allerdings sehr wohl Unmengen.

Dass es derlei Rekrutierungsentführungen auch in Russland im Rahmen der großen Mobilisierung gibt, kann nicht ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund sollten wir neue kategoriale Linien ziehen, die nicht mehr etwa zwischen der Ukraine und Russland oder zwischen West und Ost verlaufen, sondern zwischen jenen, die das sinnlose Sterben befeuern, und jenen, die aus dieser Gewaltspirale ausbrechen und „da nicht — mehr — mitmachen“.

Wie wäre es mit einer internationalen Solidarität mit allen Pazifisten, Nicht-Kämpfern und Friedensbewegten weltweit, die eine Brandmauer um die verbliebenen Lumpenbellizisten errichten, die mental, psychisch und intellektuell noch im 20. Jahrhundert stecken geblieben sind?

Sich gegenseitig mit Waffen niederzustrecken, sollte im noch jungen 21. Jahrhundert einfach nicht mehr zeitgemäß sein und spätestens im selben Jahrhundert auch zu einem Auslaufmodell der Konfliktbewältigung werden. Derzeit wird allerorts irgendetwas über eine „Zeitenwende“ fabuliert, ein Begriff der letztlich nur dazu dient, Überkommenes aus dem 20. Jahrhundert wieder gedanklich und praktisch salonfähig zu machen. Statt einer solchen Zeitenwende bräuchte es vielmehr Zeitenwände, die unsere Gegenwart von dem kriegerischen Geist vergangener Zeiten abschirmen.

Angezählt sind die Tage, da wir unsere Konflikte martialisch lösen. Die Zeit der militärisch-industriellen Komplexe aller Machtblöcke ist ein für allemal vorüber. Deswegen stellen sich die Militärs weltweit auch auf ihre Hinterbeine, weil sich vor ihnen bereits die Müllgrube der Geschichte auftut.

Wer solche Visionen eines — ersten? — Weltfriedens artikuliert, wird augenblicklich mit dem Vorwurf konfrontiert, vollkommen naiv zu sein.

Zum Arzt solle man gehen, wenn man Visionen habe, so riet dereinst Helmut Schmidt. Doch auch der gleiche Helmut Schmidt zog es vor, „lieber 100 Stunden umsonst (zu) verhandeln, als eine Minute (zu) schießen“. Nun, aus welchem Grund gehen Sie lieber zum Arzt? Aufgrund von Visionen oder aufgrund von Kriegswunden?

Zu der weit verbreiteten Unvorstellbarkeit einer Welt, frei von Kriegen, bemerkte der Soziologe, Friedensforscher und Tamera-Mitbegründer Dieter Duhm sehr treffend:

„Viele Menschen haben geglaubt, Kriege gehörten zum Leben. […] Es ist nicht sehr intelligent, zu meinen, dass das, was lange so war, immer so bleiben muß. Der Krieg hat das Denken der Menschen jahrtausendelang beherrscht, das stimmt. Wenn immer die gleichen Gedankenverbindungen geknüpft, die gleichen Informationen der DNA abgerufen, die gleichen Synapsen im Gehirn aktiviert werden, dann bleiben die Strukturen des Leidens erhalten. Dann gehört Krieg zum Leben wie die Eifersucht zur Liebe.

Wollen wir uns ernsthaft zum Opfer einer so fatalen Anschauung machen? Hat uns nicht die Evolution unserer technischen Welt bis zum drahtlosen Internet gezeigt, dass es völlig neue Möglichkeiten gibt? Wenn wir heute anfangen, neue Verbindungen zu schaffen, neue Informationen zu aktivieren, neue Wege zu gehen und neue Synapsen zu schalten – und wenn wir Lebensverhältnisse aufbauen, wo wir das kontinuierlich und ganz real tun können, dann entsteht die neue Welt so sicher, wie die alte entstanden ist“ (1).

Duhm ist kein Traumtänzer oder Realitätsflüchtling. Das von ihm mitgegründete Heilungsbiotop Tamera in Portugal kooperiert eng mit Menschen, die an den vom Krieg am stärksten gebeutelten Orten der Welt leben. Er hat das Elend und den Weltschmerz unmittelbar miterlebt und schreibt folglich keine Wohlfühlschriften über unerreichbare Hippie-Utopien. Vielmehr versteht er die Transformation zu einer kriegsfreien Welt als einen zu vollbringenden, konkret skizzierten Entwicklungsschritt in der Menschheitsgeschichte.

Mit Dieter Duhm soll dieser kurze Einwurf abgeschlossen werden. In seinem Manifest „Die Kriegsgesellschaft und ihre Transformation“ aus dem Jahr 2005 formuliert er sehr treffend, wie das oben gezeigte Monster des Schlachtfeldes ausgehungert werden kann.

„Es gibt eine Lösung. Wir können sie erkennen, wenn wir aus genügendem geistigen Abstand das Ganze betrachten, in dem sich das derzeitige Leben auf der Erde abspielt. Betrachte die Erde als einen lebendigen Organismus, dessen Lebewesen durch bestimmte Frequenzen miteinander verbunden sind. Wir sind selbst ein Organ in diesem Organismus.

Mit unseren Gedanken, Worten und Taten senden wir bestimmte Frequenzen aus, die dem Frieden dienen oder dem Krieg. Wir erkennen, dass wir selbst noch ein Teil des globalen Kriegsgeschehens sind, solange wir von den gewohnten Gedanken der Angst, der Wut oder Rache gelenkt werden. Schaffen wir also Orte, wo wir den Kriegskräften keine Resonanz mehr […] geben, weder denen in der Welt noch denen in uns.

Wir haben verstanden, dass Opfer und Täter oft in einer analogen Struktur miteinander verbunden sind und dass wir selbst ebenso gut Opfer und Täter sein könnten – und dass wir tatsächlich beides sind. Es ist eine tiefe gemeinsame, geschichtlich entstandene Leidensstruktur, aus der sowohl die Opfer als auch die Täter hervorgehen. Auch die Täter waren einmal Opfer, auch sie wurden ihres Vertrauens, ihrer Liebe, ihrer menschlichen Heimat beraubt. […]

Man möge verstehen, dass es sich hier nicht um Sentimentalität handelt, sondern um eine kollektive Grundtatsache unserer gegenwärtigen Zivilisation: Das Drama der Entwurzelung, das Drama missglückter Liebesbeziehungen, das Drama heimatloser Kinder, das Drama von Trennungsschmerz und menschlicher Verlassenheit ist nicht mehr ein Privatproblem, sondern es ist das gesellschaftliche und menschliche Drama unserer Zeit. Hinter der weltweiten Epidemie gnadenloser Gewalt steckt die Erfahrung eines Schmerzes, der auf herkömmlichem Wege nicht mehr bewältigt werden kann. Und doch ist er heilbar“ (2).


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe Duhm, Dieter: „Zukunft ohne Krieg: Theorie der globalen Heilung“, Bad Belzig, 2006, Seite 45 ff.
(2) Siehe Ebenda, Seite 27 ff


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