Ein leichter Würgereiz ist keine seltene Reaktion auf das Wort „Glück“. Viele können es einfach nicht mehr hören. Während die „Glücksindustrie“ boomt und sich „Glückscoaches“ mit blinkenden Eurozeichen in den Augen die Hände reiben, nehmen Millionen Menschen Antidepressiva, wodurch auch die Pharmaindustrie ihr Stückchen vom Glückskuchen abbekommt.
Auf der einen Seite werden wir mit Nachrichten über die nahende Apokalypse — wahlweise durch einen Atomkrieg oder durch Naturkatastrophen — bombardiert, auf der anderen verzerren wir unsere Gesichter auf Selfies für Facebook und Instagram als Beweis, dass „es uns gut geht“, zu einem künstlichen Lächeln.
Manche fotografieren dann lieber gleich nur noch ihr tolles Essen, die tolle Landschaft, das tolle Auto, das tolle neue Kleid … Die Langeweile, innere Leere oder gar Verzweiflung, Wut oder Traurigkeit tauchen nirgends auf. Eine tiefgründige, differenzierte und ebenso wichtige öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Glück ebenso wenig.
Viele Menschen scheinen zu glauben, man müsste sich entscheiden zwischen glücklich oder realistisch sein. Was bedeuten würde, die Glücklichen sind Egoisten, die sich von der Wahrheit abschotten, und den anderen — den sich aufopfernden Realisten — die Drecksarbeit überlassen, sich mit den real existierenden Problemen und Gefahren der Welt auseinanderzusetzen.
Trotz — oder gerade wegen — all der Vorurteile, Missverständnisse und der Abnutzung des Wortes widmet sich die neue Folge der „Guten Nachrichten“ dem Glück. Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke untersuchte das Thema gründlich und baut in seinem Artikel „Der Glücks-Faktor“ die dringend benötigte Brücke zwischen Politik, Gesellschaft, sozialem Status, Persönlichkeit und der Frage nach dem Glück.
Menschen, die sich viel mit den politischen und gesellschaftlichen Problemen — wie Kriegslügen, tiefem Staat und Machtgier von skrupellosen Eliten — auseinandersetzen oder in ihrem Alltag mit den schlimmsten Situationen des Menschseins — wie Verbrechen, Unfällen, Krankheiten und Tod — konfrontiert sind, wirken auf mich oft, als seien sie allergisch auf das Glück. Eine Mutmach-Redaktion löst bei einigen erst einmal Empörung aus. Und die Tatsache, dass ich den Job dieser Menschen nicht aushalten könnte, bei mir ein schlechtes Gewissen.
Zunächst verdrängte ich mein schlechtes Gewissen und verstand die Empörung nicht. Nun beginne ich, verschiedene mögliche Gründe zu ahnen:
- der permanente Glücksstress, den die oberflächliche Glücksindustrie mit ihren „Über-Nacht“-Versprechen auslöst
- das Spaß-Entertainment als Ablenkung der Massen von den Unmenschlichkeiten der Eliten oder
- die Uminterpretation des von uns Aufwind-Autoren viel zitierten Satzes „Jeder Einzelne von uns hat die Macht, etwas zu ändern“ durch die Großunternehmen, die daraus „Die Verbraucher tragen die Verantwortung für die Schäden des ungebremsten Kapitalismus — nicht die Konzernbosse“ machen, um sich aus der Verantwortung zu ziehen und die einfachen Bürger, die „alles richtig machen“ wollen, noch mehr unter Druck zu setzen.
Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid schreibt:
„Glück ist wichtig, aber wichtiger ist Sinn.“
Diese Formulierung trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn sie das Wort Glück hören, spüren immer mehr Menschen — auch ich — einen Zwang, ja beinahe eine Pflicht dahinter, glücklich sein zu müssen, vor allem, wenn man im reichen und „demokratischen“ Westen lebt.
Warum stellen sich nicht mehr Menschen — gerade die Unglücklichen, Frustrierten oder Leeren — die Frage nach dem Sinn ihres Lebens? Warum schmeißen sich so viele Leute lieber Tabletten ein, geben viel Geld für „schnelle Glückscoachings“ aus, um ja weiter funktionieren zu können, anstatt sich die Frage nach dem Sinn zu stellen? Unablässig kreisen diese Fragen durch meinen Kopf.
Mein Leben beispielsweise fühlt sich wesentlich sinnvoller an, seitdem ich beim Rubikon mitwirken darf. Meine Ängste vor einem Krieg oder vor Naturkatastrophen, mein erdrückendes Schuldgefühl wegen meines Lebens im Konsumrad des Kapitalismus haben mich Gleichgesinnte finden lassen, die sich als Leser, Autoren, Spender oder auch Kritiker über den Rubikon vernetzen.
Das ist eine Facette von Glück: durch Sinn. Sogar Krisen und das Unglück bekommen oftmals eine Sinnhaftigkeit und ich kann sie irgendwann als Anteil am Glück begreifen. Sie sind die Baustellen, die uns aus übergeordneter Sicht am Ende möglicherweise wahren Lebensinhalt geben können, wenn wir bereit sind, diese Krisen anzunehmen und sie nicht dauerhaft zu verdrängen.
So entsteht aus Dramen und Tiefpunkten in einem langwierigen Prozess oftmals eine glücklich machende Veränderung, wenn man bereit ist zu akzeptieren, dass der ausschließliche Lebenssinn niemals dauerhaft garantiertes und schon gar kein überwiegend materielles Glück durch zu viel Konsum sein kann.
Mutig und gleichzeitig friedlich für eine gute Sache zu kämpfen, kann ebenso glücklich machen. Auch darüber berichten diese guten Nachrichten. Zum einen über einen neuen RUBIKON-Video-Talk zum Thema „Die Zwangsmaschinerie, die Schulen dienen nicht der Bildung, sondern der Anpassung und Unterwerfung unserer Kinder“, — zum anderen rufen unsere Jugendredakteure Madita Hampe und Nicolas Riedl in ihrem Artikel „Der digitale Knebel“ unsere Leser dazu auf, eigene Demonstrationen anzumelden, uns alle endlich friedlich auf der Straße zusammenzuschließen.
Vielleicht strömen am Ende all die „Friday-for-Future“-Jugendlichen nicht nur aus Wut über die Politik — oder mangelnder Lust am Schulunterricht, wie ihnen von vielen (frustrierten?) Erwachsenen unterstellt wird — auf die Straße, sondern weil es ein beglückendes Gefühl ist, mit vielen anderen Menschen verbunden und zusammen zu sein, eine große Gemeinsamkeit zu entdecken und die Energie einer friedlichen Massenbewegung zu spüren. In den Stunden auf der Straße erleben sie wahrscheinlich mehr Menschlichkeit und Sinn als all die Jahre still sitzend in einem Klassenzimmer.
Die Frage nach dem Glück versteckt sich also überall. Warum glauben so viele der Ultrareichen, noch mehr Geld zu brauchen? Warum entstehen Neid, Angst, Konflikte und Kriege? Was speist den Massenkonsum? Was sucht jeder Einzelne von uns Menschen auf dieser Welt?
Versprechen wir uns nicht von allem unbewusst, endlich glücklich zu werden? Verbirgt sich hinter allem nicht gerade diese Unbewusstheit, diese fehlende Frage danach, was wir uns versprechen von Dingen, die wir tun oder nicht tun?
Jens Lehrich formuliert es so:
„Wann begreifen die Mächtigen endlich, dass es nur eine Welt gibt, dass auch sie mit untergehen, wenn wir nicht früh genug die Reißleine ziehen. Und was können wir tun, um bei denen, die sich nur über Reichtum oder Erfolg definieren und dieses ungerechte System mit ihren Lügen und Kriegen am Leben halten, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Gier nach Geld niemals wahrhaftiges echtes Glück ist?“
Ist das am Ende nicht eine der revolutionärsten Fragen, die Gier, Neid und Kriege beenden könnte, wenn jeder sie sich bewusst stellen würde, statt blind einer Fata Morgana in Form von Macht, Geld und Ruhm hinterherzujagen?
Es wird wahrscheinlich noch viele Generationen von Traumaforschern und Therapeuten brauchen, bis die Menschen sich ihrer Innenwelt und der sinnerfüllten Suche nach dem Glück widmen. Jeder, der sich schon jetzt mutig, bewusst und intensiv mit der Frage für sich und sein Leben auseinandersetzt und danach lebt — egal wie unbequem es auch immer wieder ist —, treibt diese Entwicklung voran und ist meines Erachtens ein Revolutionär!
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