„Ich bitte auch die Freunde, nicht zu trauern, sondern für mich zu beten und mir zu helfen, solange ich der Hilfe bedarf. Ich hatte nicht daran gedacht, dass dies mein Weg sein könnte. Meine Segel wollten sich dem Wind entgegenstellen; mein Schiff wollte auf größere Ausfahrt. Aber vielleicht wären es die falschen Fahnen geworden oder die falsche Richtung, oder für das Schiff die falsche Fracht und unechte Beute. Ich weiß es nicht. Ich will mich auch nicht trösten mit einer billigen Herabminderung des Irdischen und des Lebens. Ehrlich und gerade: Ich würde gerne noch weiterleben und gerne und jetzt erst recht weiterschaffen und viele neue Worte und Werte verkünden. Gott halte mich in der Kraft, ihm und seiner Fügung und Zulassung gewachsen zu sein. Ich werde auf ihn vertrauen, bis ich abgeholt werde. Und ich werde mich mühen, dass mich auch diese Lösung nicht klein und verzagt findet.“
Alfred Delp, „Im Angesicht des Todes“
Wenige Tage nach dem missglückten Attentat auf Hitler war der Jesuitenpater Alfred Delp (1907 bis 1945) Ende Juli 1944 von der Gestapo in München verhaftet und nach Berlin gebracht worden, wo man ihn der Mittäterschaft anklagte. In den Monaten seiner Haft und vor seiner Hinrichtung in Plötzensee am 2. Februar 1945 schrieb er in seiner Zelle mit zum Teil gefesselten Händen an seinem geistigen Testament. In den Aufzeichnungen, die unter dem Titel „Im Angesicht des Todes“ erstmals im Jahre 1947 erschienen, reflektiert Delp seinen Lebensweg im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die präzise Zeitdiagnose einer von seinen spirituellen Wurzeln abgeschnittenen, der reinen Materie verfallenen Lebenswelt, lässt sich, unter gleichwohl veränderten Vorzeichen, unschwer auf die heutige Zeit übertragen:
„Der Mensch starb an den vielen Vermassungen, Entwicklungen, Tempos und so weiter und mit ihm die Religion. Auf jeden Fall wurden die abendländischen Räume geistig, menschlich und religiös leer. Wie soll das Wort oder die Aktion der Kirche da noch Echo und Antwort finden?“
Unter dem Eindruck von Isolationshaft und Folter radikalisierte sich Delps theologische Perspektive in Hinblick auf die Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Gott als Gebot der Stunde:
„In dieser Phase meines Lebens wird mir eines klarer, als es sonst manchmal war: Ein Leben ist verloren, wenn es nicht in ein inneres Wort, in eine Haltung, eine Leidenschaft sich zusammenfasst. Der Mensch muss unter einem geheimen Imperativ stehen, der jede seiner Stunden verpflichtet und jede seiner Handlungen bestimmt. Nur der so geprägte Mensch wird Mensch sein können, jeder andere wird Duzendware, über den andere verfügen.“
Delp, der im Rahmen seiner Dissertation bereits Mitte der 1930er Jahre Martin Heideggers „Sein und Zeit“ als erster Kritiker überhaupt aus katholischer Perspektive ausgeleuchtet hatte, war bis zu deren Verbot 1941 Redakteur der renommierten Jesuitenzeitschrift Stimmen der Zeit gewesen. Sein Spezialgebiet waren sozialpolitische Themen. Als Experte für die katholische Soziallehre gelangte er durch Vermittlung eines befreundeten Priesters in Kontakt mit dem Kreisauer Kreis um Hellmuth James Graf von Moltke, wo er mit dem Entwurf einer christlich-demokratischen Sozialordnung für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus betraut wurde. Ein Manuskript mit dem Titel „Die Dritte Idee“, das Delp nach Aussagen seiner engsten Mitarbeiterin noch am Vorabend seiner Verhaftung fertiggestellt hatte, ging in den Wirren jener Tage unwiderruflich verloren.
Mit einem Mal aus seinem Wirkungskreis gerissen besinnt sich Alfred Delp, ein kritischer Intellektueller, der an den politischen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit regen Anteil nahm und sich im Gegensatz zur offiziellen Kirche eindeutig gegen das Regime positionierte, auf sein ureigenstes Verhältnis zu Gott. Schonungslos stellt er sich seiner Todesfurcht und zugleich seinem instinktiven Überlebenswillen. Dabei besticht sein hoch entwickeltes Reflexionsvermögen, das es ihm ermöglicht, seine eigenen Reaktionen zu analysieren und in überpersönliche Zusammenhänge zu stellen:
„Bis jetzt hat mir der Herrgott sehr herrlich und herzlich geholfen. Ich bin noch nicht erschrocken und noch nicht zusammengebrochen. Die Stunde der Kreatur wird sicher auch noch schlagen. Manchmal kommt eine Wehmut über mich, wenn ich an das denke, was ich noch tun wollte. Denn jetzt erst bin ich ja Mensch geworden, innerlich, frei und viel echter und wahrhafter, wirklicher als früher. Jetzt erst hat das Auge den plastischen Blick für alle Dimensionen und die Gesundheit für alle Perspektiven.“
In der Einsamkeit seiner Zelle wird er einer ungeahnten Fülle teilhaftig, die sein Leben auf eine Stufe hebt, in deren Licht alles Vorherige nur wie die Vorbereitung auf diese letzte Prüfung wirkt:
„Der Dialog mit dem Menschen gehört zum Menschen, dass er sich öffne und wirklicher werde. Aber mehr noch der Dialog mit dem Absoluten. Deswegen ist es zu wenig, eine Idee oder ein Ideal der Jenseitigkeit zu haben. Der personale Gott ist der Gott des Lebens. Erst im Dialog mit ihm tritt der Mensch in seinen wirklichen Lebensraum ein. Hier lernt der Mensch die Grundwerte des Wesens: Anbetung, Ehrfurcht, Liebe, Vertrauen. Alles im Leben, was unterhalb dieses Dialoges bleibt, es mag mit noch so viel Eifer und Ernst und Hingabe unternommen sein, bleibt unfertig, auf die Dauer unmenschlich.“
Für jenen personalen Gott, von dem Delp hier spricht, führt er den Begriff „theonomer Humanismus“ ein, worunter er „ein Erwachen des Menschen zu seinen Werten und Würden; zur ehrlichen Erkenntnis seiner göttlichen und humanen Möglichkeiten“ begreift.
Gott als absolutes Prinzip steht in diesem Zusammenhang für das schlechthin Andere, das notwendige Korrektiv menschlicher Leidenschaften und Instinkte, die erst durch ihre transzendente Verankerung im Sinne reifer Menschwerdung kanalisiert und fruchtbar gemacht werden können:
„Der Mensch ist falsch und unglücklich allein mit sich selbst. Es gehört der andere Mensch dazu, es gehört die Gemeinschaft dazu, es gehört die Welt dazu und der Dienst an ihr — und es gehört das Ewige dazu. Nein, der Ewige. Es soll die Zeit des theonomen Humanismus werden.“
Widerstand und Ergebung
Beide Verhaltensmuster haben ihre Zeit und ihren Ort. Nicht zufällig gelangen sowohl Alfred Delp als auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906 bis 1945), dessen eigene Aufzeichnungen aus der Haft nach dem Krieg unter eben diesem Titel veröffentlicht wurden, unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die letzte Freiheit des Menschen die Freiheit zu Gott ist und folglich nur darin bestehen kann, ganz und gar in sein eigenes Schicksal zu treten: „Ich aber will hier ehrlich warten auf des Herrgotts Fügung und Führung. Ich werde auf ihn vertrauen, bis ich abgeholt werde. Und ich werde mich mühen, dass mich auch diese Lösung und Losung nicht klein und verzagt findet“, schreibt Delp nach seiner Verurteilung.
Bonhoeffer spricht in demselben Zusammenhang davon, dass die Befreiung vom Leiden darin liege, „dass man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf. In diesem Sinne ist der Tod die Krönung der menschlichen Freiheit. Ob die menschliche Tat eine Sache des menschlichen Glaubens ist oder nicht, entscheidet sich darin, ob der Mensch sein Leiden als eine Fortsetzung seiner Tat, als eine Vollendung der Freiheit versteht oder nicht.“
Nichts liegt den meisten Menschen heute ferner als die Vorstellung, die eigenen (Lebens)geschäfte in die Hände einer transzendenten Macht zu legen, ja keine größere Gefahr scheint überhaupt denkbar als diejenige, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.
Das alte Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmid“ ist, auch wenn es längst aus dem aktiven Sprachgebrauch verschwunden ist, zum Leitmotiv eines gesellschaftlichen Common Sense geworden, dessen konsequente Ausrichtung auf Machbarkeit und Optimierung dem Menschen eine Verantwortung aufbürdet, die zu tragen er nicht geschaffen ist. Der beängstigende Anstieg sozialer Störungen und psychischer Erkrankungen in den westlichen Industriegesellschaften zeugt von der Überforderung des Menschen in einem selbstreferentiellen System, das zunehmend nach den betriebswirtschaftlichen Prinzipien von Effizienz und permanentem Wachstum funktioniert.
Wie es ist, in Isolationshaft auf die Vollstreckung des eigenen Todesurteils zu warten und dabei, wie Delp schreibt, „nicht einzuknicken“, ist kaum vorstellbar. Nach Augenzeugenberichten der beiden Anstaltspfarrer der Haftanstalt Tegel in Berlin, Harald Poelchau und Peter Buchholz, ist es vielen der Männer und Frauen des deutschen Widerstands dennoch gelungen, ihren Idealen gerecht zu werden und dem Tod auf ihre Weise die Stirn zu bieten. Im letzten Brief an seine Frau Freya schreibt Hellmuth James Graf von Moltke:
„Ich bin nicht unruhig oder friedlos. Nein, kein bisschen. Ich bin ganz bereit und entschlossen, mich Gottes Führung nicht nur gezwungen, sondern willig und freudig anzuvertrauen und zu wissen, dass er unser, auch Dein, meines Liebsten, Bestes will.“
Harro Schulze-Boysen, einer der beiden führenden Köpfe der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ sprach wenige Sekunden vor seiner Hinrichtung die Worte: „Ich sterbe als Kommunist.“ Im letzten Brief an seine Eltern schreibt er:
„Dieser Tod passt zu mir. Irgendwie habe ich immer um ihn gewusst. Es ist ‚mein eigener Tod‘, wie es einmal bei Rilke heißt.“
Sein Mitstreiter und Freund Arvid Harnack ließ sich in seinen letzten Stunden von Poelchau Goethes „Orphische Urworte“ vorlesen. In seinem Abschiedsbrief schreibt er den unvorstellbaren Satz: „So bin ich ruhig und glücklich.“
Seine Frau, die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Mildred Harnack, übertrug noch am Nachmittag vor ihrer Hinrichtung Goethes spätes Gedicht „Vermächtniß“, das mit der Zeile „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen“ anhebt, in ihre Muttersprache. In seinem Erinnerungsbuch „Die letzten Stunden“ setzt Harald Poelchau dieser begabten und leidenschaftlichen Frau, die ihrem Mann in den späten 1920er Jahren aus den USA nach Deutschland gefolgt war und wenige Tage nach ihm in Plötzensee hingerichtet wurde, ein ergreifendes Denkmal.
Woher den Verurteilten, die keineswegs eine homogene Gruppe bildeten und deren Handeln von unterschiedlichen Motiven bestimmt war, die innere Kraft zuwuchs, ihr Schicksal noch im Tode zu bejahen, ist eine Frage, die mich seit vielen Jahren beschäftigt. Vom deutschen Widerstand und speziell von der „Bekennenden Kirche“ erfuhr ich zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre durch meine Religionslehrerin am Gymnasium.
Diese äußerlich unauffällige Frau mit den herben Zügen eines Menschen, der es sich nicht leicht macht, war selbst als junges Mädchen in Berlin im Kontakt zur „Bekennenden Kirche“ gestanden. Der Satz, der sich mir damals eingeprägt hat, lautet dahingehend, dass in Hitlers Gefängnissen nur derjenige eine Überlebenschance hatte, der auf einen inneren Schatz zurückgreifen konnte: eine politische Überzeugung, den Glauben an Gott, den Menschen, die Literatur. Nur derjenige war nach ihren Worten vor Verzweiflung und Resignation gefeit, der Werte in sich trug, die seine persönliche Existenz überstiegen.
Das leuchtet ein, und doch darf nicht vergessen werden, dass in den allermeisten Fällen Kultur, Bildung und Glaube keineswegs stark genug gewesen waren, um Wachsamkeit und Widerstand gegen das totalitäre Regime hervorzurufen. Erschreckend viele Funktionsträger des NS-Regimes entstammten nachweislich dem deutschen Bildungsbürgertum, dessen Selbstverständnis — wenigstens theoretisch — für die Synthese von humanistischen und christlichen Werten stand.
Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Teilnehmer der Wannseekonferenz, bei der im Januar 1942 die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, mit Ausnahme von Adolf Eichmann ausschließlich Akademiker waren, ein Großteil von ihnen promovierte Juristen, welche die Planung des Genozids und den Musikgenuss, etwa bei einem von Wilhelm Furtwänglers legendären Beethoven-Konzerten mit den Berliner Philharmonikern, offenbar keineswegs als Widerspruch empfanden.
Tatsache ist, dass die ethischen Werte, derer sich die abendländische Zivilisation rühmt, nur einer verschwindenden Minderheit zur Richtlinie ihres Handelns wurden; für die überwiegende Mehrheit waren Begriffe wie Verantwortung, Gewissen und Menschlichkeit im Endeffekt nichts anderes als die Gipsabgüsse antiker Statuen in den akademischen Museen deutscher Universitäten: Dekoration, schöner Schein, seelenlos.
Weshalb also manche Menschen kulturelle und humanistische Werte tatsächlich verinnerlichen, während andere in ihrem Namen ungerührt Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, ist eine Frage, auf die man keine abschließende Antwort finden wird — nur Hinweise darauf, in welche Richtung sich die Lebensreise eines Menschen bewegen könnte.
In einem seiner letzten Briefe schreibt Dietrich Bonhoeffer:
„Vor allem darf man sich nie vom Augenblicklichen auffressen lassen, sondern muss die Ruhe der großen Gedanken in sich bewahren und nach ihnen alles messen. Dass das die wenigsten Menschen können, ist es, was man an den Menschen am schwersten erträgt. Nicht die Bosheit, sondern die Schwäche der Menschen ist das, was die Menschenwürde am tiefsten entstellt und herabzieht.“
Die Vorstellung, ihren Landsleuten geistig vorauszugehen, beziehungsweise stellvertretend für sie handeln zu müssen, ist der vielleicht kleinste gemeinsame Nenner des — wenn man so sagen darf — kollektiven Selbstverständnisses der Männer und Frauen des deutschen Widerstands. Übereinstimmend kommt in den Gedanken Bonhoeffers, Delps, Moltkes und vieler anderer die Befriedigung darüber zum Ausdruck, durch die Treue zu den eigenen Überzeugungen sein Schicksal erfüllt zu haben.
Isolationshaft. Folter. Todesurteil.
Schlimmer kann es in einem Leben nicht kommen.
Ein Mensch soll gebrochen werden, Stück für Stück. Doch dann geschieht das Wunder: Er bricht nicht, sondern richtet sich auf, Stück für Stück. In der radikalen Einsamkeit der Gefängniszelle eröffnen sich dem Gefangenen plötzlich weite Räume. Ungeahnte innere Kräfte wachsen ihm zu. Ich und Welt durchdringen sich in einer vollkommen neuen Dimension. Alle drei, Bonhoeffer, Delp und Moltke formulieren auf ihre Weise den ungeheuren Gedanken, dass ihnen, nachdem sie den Tod innerlich bereits überwunden haben, die Hinrichtung nichts mehr anzuhaben vermag. Am 18. Januar 1945 schreibt Moltke an seine Frau Freya:
„Nur eines kann ich Dir immer und immer wieder sagen: Wir sind ganz untrennbar in Gott verbunden, wir sind bei ihm ganz sicher aufgehoben. Er wird tun, was für uns gut ist. Und auf diesem Grund sind wir ganz unanfechtbar. Da kann uns kein Müller und kein Kaltenbrunner, kein Himmler und kein Henker treffen. Dazwischen steht die undurchdringliche Wand der Liebe Gottes, die uns vor allem beschirmt. In dieser Burg sind wir frei, und nur aus dieser Burg können wir streiten.“
Auf Hitlers persönlichen Befehl hin wurden die Schauprozesse gegen die Widerständler am sogenannten „Volksgerichtshof“ gefilmt, um die Aufnahmen später zu Propagandazwecken zu verwenden. Besiegte wollte man zur Schau stellen, musste jedoch bald erkennen, dass die Angeklagten genau das Gegenteil dessen taten, was man von ihnen erwartet hatte. Statt um Gnade zu flehen, standen sie aufrecht vor dem für seine Wutausbrüche berüchtigten Strafrichter Roland Freisler. Nicht wenige von ihnen nutzen die Gelegenheit für ein letztes Bekenntnis zu ihren persönlichen Überzeugungen und Werten. Ihre menschliche und geistige Überlegenheit war dabei von solch beschämender Offensichtlichkeit, dass man die Filmaufnahmen stillschweigend in den Archiven verschwinden ließ.
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