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Die letzten Opfer

Die letzten Opfer

Noch kurz vor Kriegsende wurden Berliner Juden in Zügen ihrer Vernichtung entgegengeschickt. Eine Spurensuche.

Ein Ort namens Storchnest.

Wer hier geboren wird, dem kann eigentlich nichts Böses zustoßen im Leben. Wo Störche nisten, Kinder von Störchen aus der anderen Welt, der anderen Zeit gebracht werden. Ein Ort aus dem Märchenbuch.

Aber nein, kein Märchen, sondern eine wahre Geschichte.

In Storchnest, heute Osieczna in Westpolen, wurde am 12. August 1871 Julius Kronheim geboren. Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte hier jeder fünfte Einwohner zur jüdischen Gemeinde. Im Zuge der Reichsgründung erfasste eine Auswanderungswelle die kleine Stadt. Auch die Familie von Julius Kronheim war unter denjenigen gewesen, die ihr zukünftiges Glück in der Ferne gesucht hatten. Bereits im Jahre 1893 gründete der junge Mann mit gerade einmal 22 Jahren in der Hauptstadt des Deutschen Reiches eine Hutfabrik, die er bis zur Zwangsarisierung des Unternehmens im Jahre 1938 leitete.

Durch seine Ehe mit einer Nicht-Jüdin war er nach den geltenden Gesetzen für sogenannte „Mischehen“ zunächst vor der Deportation geschützt. Nach dem Tod seiner Frau im Sommer 1944 wurde diese Ausnahmeregelung jedoch hinfällig, und so entschloss er sich im Alter von 73 Jahren in Berlin unterzutauchen. Durch die Hilfe eines Ehepaares, das ihn in seiner Wohnung in Charlottenburg aufgenommen hatte, gelang es ihm, ein paar Monate lang unbehelligt zu bleiben. Am Ende flog sein Versteck jedoch auf. Julius Kronheim wurde in ein Sammellager überstellt und am 27. März 1945 gemeinsam mit siebzehn weiteren Menschen vom Bahnhof Grunewald aus ins Ghetto Theresienstadt gebracht.

Es war, wenige Wochen vor Kriegsende, der letzte Deportationszug aus Berlin.

Seit ich vor einigen Jahren zum ersten Mal am Bahnhof Grunewald die Gleise entlanggelaufen war, auf dessen Abschnitten die Daten und die Anzahl der Verschleppten akribisch vermerkt sind, wollten mir diese achtzehn Menschen nicht mehr aus dem Sinn, diese winzige Fußnote in der gigantischen Vernichtungsmaschine.

Wer waren sie gewesen, die Insassen des letzten Transportzuges aus Berlin? Welche Gedanken und Gefühle, welche Ängste mochten sie, denen es jahrelang gelungen war, in der Klandestinität zu überleben, bewegt haben?

Achtzehn Menschen.
Achtzehn eigene Welten.
Der eine mag vor Erschöpfung eingeschlafen, der andere vor Erschöpfung hellwach geblieben sein.

Der eine mag gedacht haben: Lange kann es jetzt nicht mehr dauern. Der andere: Jetzt ist alles vorbei.
Achtzehn Menschen.
Achtzehn eigene Welten.

Achtzehn Schicksale, von denen ich, abgesehen von den Eckdaten wie Name, Geburtsdatum und Beruf, nur über die wenigsten ein bisschen mehr herausfinden konnte.

Was ich zu Beginn meiner Nachforschungen nicht wusste, war, dass am selben Tag ein weiterer Deportationszug Berlin verlassen hatte. Es war der sogenannte „63. Ost-Transport“, der zwölf Männer in das KZ Sachsenhausen und dreizehn Frauen nach Ravensbrück überführen sollte. Durch die chaotischen Umstände, die in diesen Lagern zum damaligen Zeitpunkt herrschten, hatte man sich jedoch in letzter Minute dazu entschlossen, die beiden Transporte zusammenzulegen.

Fest steht, dass sie am darauffolgenden Tag gemeinsam in Theresienstadt eingetroffen waren.

Wie hatten diese insgesamt vierundvierzig Menschen ihren Verfolgern so lange trotzen können?

Seit 2008 vermittelt die Gedenkstätte Stille Helden in Berlin eine Vorstellung von den verschlungenen Lebenslinien der Untergetauchten und ihrer Helfer.

Dabei wird rasch deutlich: Keine Geschichte gleicht der anderen. So vielfältig und vielschichtig, so überraschend und zwiespältig sind die menschlichen Geschicke, von denen man hier erfährt, dass es nahezu unmöglich ist, sich in eine derart komplexe Gemengelage hineinzuversetzen.

Auch die durchaus naheliegende, in bester Absicht gestellte Frage Wie hätte ich selbst wohl gehandelt? ist vor solchen Hintergründen hinfällig, denn was können wir von uns selbst schon wissen, bevor wir nicht tatsächlich einmal so eng an unser Spiegelbild gedrückt wurden, dass uns kaum noch Luft zum Atmen blieb?

Die Deportationszüge.

Eine Situation, fast so, wie wenn man ein öffentliches Verkehrsmittel besteigt und nicht weiß, wem man gegenübersitzen wird. Eine zufällige Gruppe von Menschen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft, deren einzige Gemeinsamkeit in diesem Fall darin bestand, dass sie zu Ausgestoßenen erklärt worden waren.

Niemand hatte sich diese „Reise“ ausgesucht, aber alle waren dafür zur Kasse gebeten worden. Das ist auch so ein Detail, auf das ich einmal durch Zufall stieß, dass nämlich die Deportierten die Kosten für die Fahrt in den Tod selbst hatten begleichen müssen.

Wer also waren die zufälligen Schicksalsgefährten von Julius Kronheim, dem erfolgreichen Selfmademan, der sich, ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters, nicht in sein Schicksal ergeben hatte?

Es waren, bis auf drei Ausnahmen, ältere und sogar sehr alte Menschen. Männer und Frauen, die, zumeist geschützt durch ihre nicht-jüdischen Ehepartner, die Jahre der Verfolgung irgendwie überstanden hatten. Die jüngeren unter ihnen werden in der Deportationsliste als „Geltungsjuden“ geführt — ein Begriff, der im NS-Jargon diejenigen bezeichnete, die sich ausdrücklich zu ihrem Glauben bekannten. Das Vorgehen gegen sie war nicht immer einheitlich gewesen und hatte einem gewissen Ermessensspielraum bei der Auslegung der jeweiligen Identitäten unterlegen. Erst im Zuge der Wannseekonferenz hatte man begonnen, diese Personengruppe als Zwangsarbeiter zu rekrutieren.

Die 46-jährige Modistin Gertrud Cohnreich, der 16-jährige Böttcher Gernot Klein, die 30-jährige Korsettarbeiterin Regina Postrong und der 23-jährige Schneider Alfred Simonowitz: Auf heute unnachvollziehbaren Wegen musste es ihnen während der gesamten Kriegszeit gelungen sein, sich zu verstecken beziehungsweise ihre wahre Identität zu verschleiern, bevor sie kurz vor Kriegsende doch noch aufgeflogen waren.

Mag sein durch ein unachtsames Wort, mag sein durch Denunziation, mag sein, weil es ihnen beim Vorzeigen ihrer gefälschten Papiere nicht gelungen war, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.

Zu Alfred Simonowitz, dem Schneider aus Tilsit, habe ich einen kurzen Eintrag in der „Holocaust Survivors and Victims Database“ des „United States Holocaust Memorial Museum“ gefunden. Der junge Mann wird nach dem Krieg versucht haben, in den USA ein neues Leben zu beginnen. Ob es ihm am Ende gelungen war, die Schatten der Vergangenheit zu bannen, bleibt eine offene Frage.

Ein wenig mehr habe ich über zwei Frauen in Erfahrung bringen können.

Da ist zunächst die bereits erwähnte Korsettarbeiterin Regina Postrong, für die 2010 ein Stolperstein in Berlin Spandau verlegt wurde. Evangelisch getauft, galt sie nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze wieder als Jüdin. Ihr Ehemann Hans starb 1937, wodurch sie automatisch ihren Schutzstatus verlor. Belegt ist, dass sie in Berlin zuletzt als Zwangsarbeiterin in einer Gärtnerei gearbeitet hatte. Wie sie sich als alleinstehende Frau all die Jahre über durchgeschlagen hatte, kann ich mir nur vorstellen: gehetzt von Quartier zu Quartier, in ständiger Anspannung und (Todes-)Furcht vor Entdeckung.

Zwei Mal noch taucht ihr Name auf alten Listen auf, bevor ihr weiteres Leben im Dunkel verschwindet: 1948 in den Listen eines DP-Lagers in Bamberg und wenig später auf denen eines Passagierdampfers in die USA. Jung genug war sie gewesen, um den Versuch zu wagen, noch einmal von vorne zu beginnen, und vielleicht war es ihr sogar irgendwie gelungen.

Auch für die 66-jährige Estella Marchand, die als Einzige unter der Kategorie „Schutzhäftling“ geführt wird, gibt es einen Stolperstein an ihrem letzten Wohnort in der Attilastraße in Berlin Steglitz.

Unter „Schutzhäftlingen“ verstand man in der NS-Zeit Menschen, die ohne richterliche Verfügung jederzeit inhaftiert und in Arbeits- beziehungsweise Konzentrationslager deportiert werden konnten.

Wie es im Fall von Estella Marchand zur Einordnung in diese Personengruppe gekommen war, ist unbekannt.

Fest steht, dass sie in Russland als Tochter eines Pelzhändlers geboren wurde. Im Jahr 1900 war sie zu Verwandten nach Berlin gekommen, wo sie 1909 den Apotheker Heinrich Marchand kennenlernte und bereits vor ihrer Heirat zum katholischen Glauben konvertierte. Durch ihre Ehe war sie zunächst vor der Verfolgung geschützt. Erst im Frühsommer 1943 wurde sie zum ersten Mal von der Gestapo verhaftet, kam zwischenzeitlich auf Betreiben ihres Mannes wieder frei, bevor sie im August desselben Jahres erneut festgenommen wurde. Wie und wo genau sie die darauffolgende Zeit verbrachte, ist unbekannt. Ihr Name erscheint erst wieder auf der Deportationsliste vom 27. März 1945.

Nach der Befreiung des Lagers war Estella Marchand nach Berlin zurückgekehrt. Ihr Mann war inzwischen gestorben und ihre Wohnung zerstört.

Ich stelle mir vor, aber nein, ich kann es mir nicht vorstellen, wie die fast 70-jährige Frau aus dem Konzentrationslager nach Hause zurückkehrte, aber da war gar kein Zuhause mehr.

Vierzehn Jahre hat Estella Marchand noch miterlebt, wie das zerstörte Berlin zu neuem, pulsierendem Leben erwachte und darüber vollkommen die Vergangenheit vergaß. Sie aber wollte nicht vergessen, was geschehen war, und stellte den Rest ihres Lebens in den Dienst der Wiedergutmachung des Nichtwiedergutzumachenden. 1959 starb sie, kurz vor ihrem einundachtzigsten Geburtstag.

Drei Jahre zuvor war Julius Kronheim, der Hutfabrikant aus Storchnest, ebenfalls in Berlin gestorben. Ob die beiden sich nach dem Krieg noch einmal getroffen hatten? Ob Solidarität unter den Opfern möglich gewesen war oder ob die Scham über die entwürdigenden Umstände, unter denen man sich einst begegnet war, überwogen hatte?

Immerhin hatten Menschen wie Julius Kronheim und Estella Marchand seinerzeit dem wohlhabenden Bürgertum der Stadt angehört, und so verwundert es im Grunde kaum, dass gerade ihr Schicksal am genauesten dokumentiert ist.

Keine Spuren hinterlassen haben hingegen Arnold Gerron, Kaufmann aus Görlitz, Else Zöllner, Näherin aus Berlin, Elisabeth Schröder, Kindergärtnerin aus Hamburg, Tana Witte aus München, Georg Peretz, Postschaffner aus Berlin, Hermann Focseneanu, Buchhalter aus Botosani in Rumänien, Reche Martha Döhm, Kunstgewerblerin aus Krummfließ, Adolf Leiserowicz, Kaufmann aus Leipzig, Gernot Klein, Böttcher aus Hamburg, Maria Nouché aus Kerpen und Erna Böhler aus Berlin.

Der Name von Malwin Glaser, die Nummer 15 auf der Deportationsliste, erscheint noch einmal in den Listen der „Holocaust Survivors and Victims Database“, was wiederum ein Hinweis darauf sein könnte, dass er trotz seines fortgeschrittenen Alters — immerhin war er zum Zeitpunkt der Deportation bereits 69 Jahre alt — es noch bis in die USA geschafft haben könnte.

Von Joseph Birnbaum, dem 70-jährigen Dentisten, gebürtig aus Șerbești in Rumänien, erfahre ich aus dem „Gedenkbuch für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ im Bundesarchiv, dass er am 26. Juni 1945 in Theresienstadt verstorben ist.

Dazu muss man wissen, dass es in den letzten Tagen vor der Befreiung im Lager durch Überfüllung zu einem Typhus-Ausbruch gekommen war. Ab Ende April waren nämlich Tausende kranker Häftlinge aus den inzwischen aufgelösten Lagern im Osten in Theresienstadt eingetroffen, die zahllose Tote in den Waggons mit sich führten. Unter den katastrophalen hygienischen Zuständen, die zu diesem Zeitpunkt im Lager herrschten, verbreitete sich die Seuche unkontrolliert. Die traurige Bilanz: Bis Ende Juni 1945 starben noch einmal rund 1.500 Menschen an Flecktyphus.

Unter ihnen vielleicht auch Joseph Birnbaum.
Wir wissen es nicht.

Am Ende überwiegt unser Nicht-Wissen, und die Vorstellungskraft, die manchmal hilft und manchmal nicht, muss hier schweigen.

28 März 1945. Gemeinsam mit dem „117. Alterstransport“ erreicht ein zweiter Deportationszug aus Berlin Theresienstadt: der „63. Ost-Transport“, zwölf Männer und zwölf Frauen, eine von ihnen mit einem Neugeborenen.

Diese Transporte, die ohne Umwege direkt für die Konzentrationslager im Osten bestimmt waren, fuhren gewöhnlich von einem der belebtesten Bahnhöfe Berlins, dem Anhalter Bahnhof, ab. Es waren keine Sonderzüge; stattdessen wurden die Deportationswaggons direkt an den Morgenzug nach Prag angehängt. Häftlinge und normale Reisende saßen also — man muss sich das einmal bildlich vorstellen — in ein und demselben Zug: die einen zu Geschäften, Freunden, Familie oder in den Urlaub unterwegs, die anderen dem sicheren Tod entgegen.

Anders als in den Listen des „Alterstransports“ finden sich hier keine Hinweise auf Status und Lebensumstände der Deportierten. Ersichtlich ist allerdings auf den ersten Blick, dass es sich um jüngere Menschen handelt, unter ihnen zwei Ehepaare, Ernst und Helene Rychwalski und Hans und Lotte Erber, sowie die Familie Meisels: Großmutter Jenny, die 20-jährige Tochter Gisela und deren ein Monate alter Sohn Michael.

Was aus ihnen geworden ist, wissen wir leider nicht. Umso besser dokumentiert ist das Schicksal der Geschwister Ralph und Rita Neumann, die ebenfalls auf der Transportliste stehen, denen es aber im letzten Moment gelungen war, aus dem Gefängnis zu fliehen, indem sie sich während eines Bombenangriffs an einer Wäscheleine in die Freiheit abgeseilt hatten.

Durch die Vermittlung des Tegeler Gefängnispfarrers Harald Poelchau und der tätigen Hilfe der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich gelang es den Geschwistern, bis zum Kriegsende in Berlin zu überleben. Ihre Geschichte ist in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ausführlich dokumentiert.

Auch von dem Schneider Sally Simoni, der Nummer 9 auf der Transportliste, wissen wir, dass er unmittelbar nach Auflösung des Lagers nach Berlin zurückgekehrt war, wo er schon bald eine Familie gründete. Bis 1985 hatte er in Pankow ein Schneidergeschäft geführt. Auch er hatte durch die Hilfe von Freunden überlebt, die trotz der zunehmend prekären Versorgungslage und der Angst vor Entdeckung den Mut nicht verloren hatten.

Vielleicht können die Überlebensgeschichten der Geschwister Neumann und die von Sally Simonis stellvertretend für all jene gelesen werden, die keine Spuren hinterlassen haben. Wer bis zum März 1945 in Berlin ausgeharrt hatte, hinter dem lag ein unübersichtlicher Leidensweg, ein Hasten von Versteck zu Versteck, ein Wechselbad der Gefühlslagen. Wie es all diese Menschen — die Verfolgten und ihre Helfer — fertiggebracht hatten, der permanenten inneren Anspannung zu trotzen, ist eine Frage, auf die ich keine eindeutige Antwort gefunden habe.

In dem Erinnerungsbuch von Harald Poelchau, dem Gefängnispfarrer von Tegel, der gemeinsam mit seiner Frau Dorothee das größte Netzwerk stiller Helfer in Berlin koordiniert hatte, fand ich glasklare Nüchternheit.

Tun, was getan werden musste.
Immer das, was gerade am nächsten lag.
Tag für Tag.

Nichts außer Namen, Geburtsort, Beruf und Tag der Deportation wissen wir von dem Kaufmann Werner Freundlich aus Stolp in Pommern, dem Kaufmann Ludwig Rosenberg, dem Kaufmann Ernst Wilkan, dem Schuster Herschel Brandmann, dem Kaufmann Jacob Lewkowitz, dem Elektriker Marian Blumski, dem Kaufmann Hans Rahmann, dem Hilfsarbeiter Ernst Schlesinger, der Lehrerin Marie Fienkiel, der Familie Meisels, der Putzmacherin Rosa Friedemann, der Buchhändlerin Elisabeth Judelowitsch, der Weberin Rosa Turek, den Schwestern Hermine und Etel Klein aus Warschau, der Schneiderin Gertrud Weisz und von Anna Michalik, die ebenfalls aus Warschau stammte.

Namenseinträge in der „Holocaust Survivors and Victims Database“ lassen für die Ehepaare Erber und Rychwalski, für Herschel Brandmann und Marian Blumski darauf schließen, dass auch sie in die USA ausgewandert sind, wo sie vielleicht ihren Namen geändert, vielleicht Familien gegründet, vielleicht ein neues Leben begonnen, vielleicht das alte tatsächlich vergessen hatten.
Vielleicht.

Was geschieht, wenn ein menschenverachtendes System zum Selbstläufer wird, wenn Gewalt anstelle der Vernunft tritt? Dafür steht die Geschichte des letzten Deportationszuges, der heute vor achtzig Jahren von Berlin nach Theresienstadt fuhr, exemplarisch.

Das war mit dem Begriff Endlösung gemeint.
Ohne Ausnahme.
Bis zum letzten Menschen.
Bis zum letzten Tag.

Ein Bekannter erzählte mir einmal von seiner Nachkriegskindheit in der Bronx, wo er in einer Mietskaserne aufgewachsen war, deren Bewohner fast alle eine Nummer am Unterarm trugen. Wie er als Kind gedacht hatte: „Wenn ich groß bin, dann werde auch ich eine solche Nummer tragen!“ Wie er es kaum hatte erwarten können, endlich seine eigene Nummer zu bekommen, endlich ein Erwachsener unter Erwachsenen zu sein.


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