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Widersprüche aushalten

Widersprüche aushalten

Der Krieg beginnt, wo wir unseren Mitmenschen absprechen, anders sein zu dürfen — auch in unserer eigenen Seele sind die Dinge nicht immer klar geordnet.

Will ich mich wirklich von diesem Informationsgewitter durchs Leben hetzen lassen? Immer auf dem neuesten Stand und immer tauber und blinder für das, was in mir selbst geschieht? Außer Atem lautet der deutsche Titel eines Filmklassikers von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1960. Am Ende hat der Protagonist, ein Kleinkrimineller namens Michel, die Nase gestrichen voll und lässt sich auf offener Straße erschießen. An einem Dienstag oder Donnerstag. Da liegt er nun, immer noch ziemlich dekorativ — der Darsteller ist der junge Jean-Paul Belmondo! —, im Pariser Rinnstein und zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette. Es war alles irgendwie zu viel. Er hat einfach keine Lust mehr und will nur noch schlafen.

Es kommt vor, man behält von einem dicken Roman am Ende nur einen Satz oder eine Begebenheit. So geht es mir mit dem Amerikanischen Idyll von Philip Roth. Diese Begebenheit, ein absoluter Nebenstrang der eigentlichen Handlung, betrifft den Bruder des Protagonisten, der sich für seine erste verzweifelte Liebe ein ganz besonderes Geschenk ausgedacht hat: einen Mantel aus eigenhändig zusammengenähten Hamsterfellen. Eine Sisyphusarbeit. Doch am Ende wird der Mantel, wie alles, was wir wirklich wollen, tatsächlich fertig. Er wird ordentlich verpackt und zur Post gebracht. Und kommt irgendwann bei der fernen Geliebten an. Und wird sogleich neugierig ausgepackt. Und verströmt beim Ausgepacktwerden den unerträglichen Gestank toter Hamster. Und wird angeekelt im Müll entsorgt. Auf der Stelle. Das Schicksal der Liebe ist besiegelt. Tote Hamster bringen kein Glück.

Turin im Februar. Hier stürzte Nietzsche und kam nicht wieder zur Besinnung. Hier schrieb Pavese seine letzten Zeilen: Ich verzeihe allen und bitte alle um Verzeihung. Bitte keinen Klatsch und Tratsch. Im Café Baratti & Milano steht die Zeit still. Die Kellner tragen schwarze Jacken. Die Tischdecken sind aus hellgelbem Damast. Die Schokolade ist bitter und süß. Das Licht auf den Straßen ist aus Milch, und natürlich steht die Zeit niemals still. So lange ist Nietzsche schon tot und das Pferd, um das er weinte. Sein Pferd Incitatus ernannte der römische Kaiser Caligula zum Senator auf Lebenszeit. Das war im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Ein amerikanischer Präsidentendarsteller entlarvt die Politik als tragische Groteske, das ist heute. Mit Laubengängen durchzogen die Baumeister die aufstrebende Stadt Turin, damit den Damen bei Regen die Haartürme nicht in sich zusammenfielen. Ein alter Papagei wiederholt den einen Satz, den er im Leben gelernt hat: Der Krieg hört niemals auf.

Wo der Krieg beginnt, ist überall. In jeder Geste, jedem Gedanken, die dem anderen das Recht absprechen, anders zu sein als ich. Dem anderen, der immer im Weg steht. Dem anderen, in dem ich nicht mich selbst erkenne, sondern meinen geborenen Feind.

Es ist leicht, sich im Einklang mit dem Lebendigen zu fühlen, wenn das Lebendige sich gerade als Sonnenaufgang über dem Meer entfaltet, und umso schwieriger, wenn ein anderer mir in der U-Bahn gerade den letzten Sitzplatz vor der Nase weggeschnappt hat. So voll ist es, und so unangenehm können Menschen riechen, zumal bei Regenwetter. Und wie verhält es sich nun, an die Haltestange geklammert, mit meinem Anspruch, das Lebendige in seiner ganzen Fülle zu bejahen, wo und wie immer es mir auch begegnen mag?

Ich bin du, und du bist ich. Ein schier unmöglich einzulösender Anspruch, wenn man es nach einem langen Tag besonders eilig hat, wenn das Schiefgelaufene wieder einmal über das Gelungene triumphiert und wenn zu Hause nicht einmal ein Kanarienvogel auf mich wartet. In diesem zähen Teig aus Tagesresten sind wir die erlesenen Zutaten: die alte Frau mit den giftgrünen Haaren und den blutroten Fingernägeln, ein Neugeborenes in einem Kinderwagen, der zugleich als Einkaufswagen dient, und ich. Ein Mensch musiziert dazu auf einem selbstgebastelten Instrument so laut und falsch er vermag. Wir alle haben das Recht zu sein.

In seinem Gedicht Musée des Beaux Arts erinnert uns W.H. Auden daran, wie der Sturz des Ikarus eingebettet ist in alltägliches Geschehen. Ein Bauer pflügt sein Feld, ein Hirte hütet seine Schafe, ein Fischer fischt, ein Schiff zieht vorüber, am Horizont geht die Sonne auf oder unter. Von Ikarus erkennen wir auf dem Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren, um das es hier geht, nur ein Bein. Er ist schon gefallen. Ganz unspektakulär. Niemand hat es bemerkt. Fliegen will der Mensch. Und landet doch nur wieder ziemlich unsanft in demjenigen Element, aus dem er einst aufbrach in die vielversprechende Vertikale. Was das Leiden betrifft, haben sie sich niemals geirrt, die alten Meister, kommentiert Auden. Ganz allein sind wir am Ende mit dem, was uns doch am meisten am Herzen lag.

Ein Buch, das niemand lesen will, ein Bild, das niemand anschauen will, ein Gedanke, über den niemand nachdenken will. Sie müssen aber trotzdem geschrieben, gemalt, gedacht werden. Das Gedächtnis der Welt behält schon, was ein Einzelner schuf, wenn er wirklich nicht anders konnte.

Es hat sich für solche Kinder der Begriff Systemsprenger eingebürgert. Die Schule hat sie aussortiert. Sie kann nichts mehr für sie tun. Hier sollen sie trotzdem auf einen Schulabschluss vorbereitet werden, den niedrigsten. Wenigstens das. Fünf dreizehnjährige Jungen, die nicht wissen, was man eigentlich von ihnen will, nicht wissen, was sie selbst wollen, nicht wissen, dass man selbst überhaupt etwas wollen kann. Alessandro hat den Satz geschrieben: Wo ich geboren bin, schickt Gott keine Engel hin. Reda formt aus flüssigem Klebstoff kleine Kugeln. Das kann ich richtig gut, sagt er.

Azzedine wird von seinem Vater immer wieder verprügelt. Seit neuestem schickt er den Sohn zum Boxen, damit aus ihm ein Sieger wird. Pier geht seit Jahren nicht mehr regelmäßig zur Schule, denn er muss sich zu Hause um seine schwerkranke Mutter kümmern. Er kann gut Englisch, hat es sich selbst beigebracht. Nicolas hat Tourette. Wohnen tut er abwechselnd bei seinen Eltern und bei Verwandten. Dafür hat er viele Freunde. Er glaubt an die Freundschaft und irgendwie sogar an das Leben. Für keinen von ihnen ist die Schule ein Ort, an dem es etwas zu lernen gibt, das sie angeht. Wenn man sie fragt, wo sie lieber wären und was sie lieber täten, antworten sie nirgends und nichts.

Heute Morgen Freundschaft mit einem fremden Kind geschlossen. Für ein paar Stunden, das ganze Leben. Was im Grund ein und dasselbe ist.

Simone Weil, die Denkerin, deren Wesen die Übertreibung war, schrieb einmal, dass ihre Zeit auf jeden Fall die beste sei, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es ihre Zeit sei, die einzige, die sie habe. Dieser Satz gilt, wie viele Gedanken, die sie rücksichtslos auf die Spitze trieb, für alle Menschen und jede Epoche. Es ist ganz unsinnig, sich zu wünschen, die Zeit womöglich an einen Punkt zurückzudrehen, an dem man noch keine Angst vor der Zukunft hatte. Leben ist heute. Ist dieser Augenblick.

Und keine Herausforderung, keine Zumutung, keine Anfechtung könnte mir am Ende gemäßer sein als diejenige, mit der ich mich gerade herumschlage. Die Muster, in denen ich mich ins Leben verstricke, sind meine Vogelspuren im Schnee. Meine Farben und Fehler sind unvergleichlich. Es ist möglich, man kann es ungefähr wissen, wer man ist, wenn man nicht die ganze Zeit fortläuft vor sich selbst, wenn man es wirklich wissen will.

Der spektakuläre Blick aus meinem Badezimmerfenster. Ein uraltes Haus verfällt vor meinen Augen, ohne dass es jemandem einfiele, der fortschreitenden Verwahrlosung Einhalt zu gebieten. Hinter Fenstern, die seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt werden, fristen die Bewohner ein prekäres Dasein. Eine Witwe hat sich zur Gesellschaft einen Obdachlosen mit nach Hause genommen. In der Abenddämmerung sieht man die beiden oft Hand in Hand. Eine Großfamilie hat Plastiktische nach draußen gerückt, an denen wird am Wochenende mit Bier und Grillfleisch das Leben gefeiert. Vor der Tür einer Frau, die man niemals sieht, stapelt sich das Gerümpel. Geranien blühen keine im Hof dieses Hinterhauses, dafür gibt es jede Menge streunender Katzen.

In Anbetracht transhumanistischer Allmachtsphantasien bilde ich mir manchmal ein, dass die Rettung vor ihrer Durchsetzung in diesem Ansichtskartenmotiv beschlossen liegen könnte: den kaputten Türschlössern, dem abblätternden Putz, den verwaschenen Laken auf der Leine, den achtlos fortgeworfenen Zigarettenkippen und den Hühnerbeinen für die Katzen.

Wenn gerade keiner guckt, entsorgt der Mensch seinen Müll wie es gerade kommt. Es ist auf ihn einfach kein Verlass. Das könnte uns am Ende vor dem Schlimmsten bewahren.

Es sind die Zeiten nicht zum Schlafen da, singen die Puhdys. Das war 1973. Aber irgendwie ist diese Zeile kein bisschen alt geworden. Als stünde sie in Marmor gemeißelt über allen Zeiten und jedem Tag. In der Legende von Paul und Paula verausgaben sich die Menschen zu diesem Lied auf der engen Tanzfläche, begierig auf flüchtige Genüsse. Deshalb sind sie hier. Zum Schlafen ist keine Zeit. Ist nie Zeit.

Wir müssen die Widersprüche aushalten. Mit diesen Worten beschloss ein Dozent an der Universität Hannover, der seine Spuren gründlich verwischt hat, jedes Mal seine Seminare. Zwar verstand ich damals nicht genau, was dieser traurige Mensch, von dem es hieß, er sei einer der letzten Schüler Adornos gewesen, damit meinte, aber es beruhigte mich ungemein, dass es eine Schlussformel gab, auf die man sich auf jeden Fall verlassen konnte.


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