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Die wiedergefundene Welt

Die wiedergefundene Welt

Weihnachtsbräuche können nerven, und saisonal verordnete Warmherzigkeit trägt nicht weit. Besser als Träume zu bespötteln, ist es allerdings, ihre Realisierung voranzubringen — wenigstens ein bisschen.

„Welt ging verloren, Christ ist geboren.“ So lautet quasi die Kurzfassung der Weihnachtsbotschaft, klassisch verpackt in dem bekannten Lied „O du fröhliche“, das Anfang des 19. Jahrhunderts entstand. Der erste Halbsatz wird den meisten Menschen „realistisch“ vorkommen, an den zweiten glauben beileibe nicht mehr alle. Ist das Abendland etwa zweittausend Jahr lang einem besonders drastischen Fall von „Fake News“ aufgesessen — in der Sprache des Weihnachtsengels: einer „guten neuen Mär“?

Karl Marx nannte die Religion das „Opium des Volkes“. Das ist allgemein bekannt. Aber in welchem Kontext sagte er das? Kurz vor dem „Opium“-Satz schreibt er in „Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie“ von 1844: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“ Das ist im Grunde eine Würdigung religiöser Gefühle, auch wenn diese nach Marx nicht auf eine objektive Realität verweisen, sondern — im Sinne Ludwig Feuerbachs — eher als Projektion verstanden werden müssen.

Kummer und Harm

Weihnachten ist nach dieser Definition quasi die Essenz der Religion.

So wie das Fest in den Medien und auch in tausend Wohnzimmern inszeniert wird, scheinen sich alle verschworen zu haben, für ein paar Wochen der „herzlosen Welt“ eine Überdosis Herz gegenüberzustellen.

Alle typischen Weihnachtsfilme und Weihnachtslieder — die traditionellen wie die aufgepeppten englischsprachigen — geben sich betont warmherzig. „In den Herzen wird’s warm. Still schweigt Kummer und Harm“ heißt es in dem Lied „Leise rieselt der Schnee“. Nicht mehr zu überbietende Wärme strahlt auch die ARD-Verfilmung des Märchens „Sterntaler“ aus. Die Story, die von den Brüdern Grimm nur sehr knapp war, wurde für die TV-Version beträchtlich gestreckt und mit neuen Details ausgeschmückt.

Ein ruchloser König hat sein im Elend lebendes Volk in eine perfide Zinsfalle gelockt. Überschuldet, können sich die in Knechtschaft Gefallenen nicht einmal mit sehr viel Anstrengung da herausarbeiten. Die „Lösung“ des Märchenfilms besteht dann daraus, dass ein gutherziges Mädchen, Sterntaler, dem König all die Goldmünzen ausliefert, die es bekanntermaßen durch ein Wunder in seiner Schürze auffangen konnte. Die gesellschaftliche Struktur, die zu einem solchen Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich geführt hat, wird in dem Märchenfilm zwar in Frage gestellt, jedoch nicht im Sinne einer dauerhaft gerechten Lösung beseitigt. Keine Revolution findet statt, auch keine friedliche. Stattdessen gibt es private Güte en masse, denn das Mädchen schenkt wirklich alles, was es hat, den Bedürftigen. Selbst noch seine Lieblingspuppe landet bei einem armen, traurigen Kind. Mit seiner unschuldigen Aura ist Sterntaler quasi eine Rührung erzwingende Maßnahme, die den Zuschauer die Unbill der harten Realität für eine Weile vergessen lässt.

Alles nur Vertröstung?

Religionskritiker könnten nun sagen, das sei alles nur Kitsch und offenbare nur die vertröstende Funktion jeder Religion — mehr noch: jedes romantischen und idealistischen Erzählstoffs. Als Ausgleich für emporschießende Brotpreise im realen Supermarkt gibt es Wunder in der Fantasie. Ich erinnere hier aber an den von Karl Marx so definierten Protest-Charakter der Religion.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Verweist die Beliebtheit der Märchen und einschlägigen Warmherzigkeits-Filme zur Vorweihnachtszeit nicht auf ein nicht totzukriegendes Bedürfnis der Menschen nach Ausgleich für das in der Realität Erlittene? Sind sie nicht insofern als Erinnerungshilfe daran wertvoll, wie menschliches Miteinander eigentlich gemeint war und wie es auch — guten Willen vieler vorausgesetzt — wieder werden könnte?

Sehr klassisch und auf ihre Weise gelungen ist die ZDF-Weihnachtschmonzette „Obendrüber da schneit es“ mit Wotan Wilke Möhring. Darin versammeln sich die Nachbarn eines Wohnblocks, die bisher beziehungslos nebeneinander her gelebt haben, spontan zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest. Alle Bewohner werden weltumarmend integriert, gerade auch die Einsamen, die Schrulligen und Missmutigen. Kein Streit, der nicht beigelegt, kein Problem, das nicht gelöst würde. Der Weihnachtszauber „kriegt“ sie am Ende alle, selbst die, die sich sonst immer besonders cool und rational geben. Wenn man all diese Weihnachtsfilme unter einem Motto zusammenfassen müsste, so wäre es jenes, das Reinhard Mey einmal seinem Erstgeborenen in die Wiege gelegt hat: „Sei, so gut es geht, zu deinen Menschenbrüdern gut.“

Gesegnet sind nur noch Waffen

Das klingt fast zu einfach, „zu schön, um wahr zu sein“. Aber wäre es besser, Visionen, Träume, Marzipanherzen und „Jesulein zart“-Gesänge in einer Aufwallung des Ekels gegenüber Kitsch und Kommerz künftig einfach wegzulassen? Sollte die knallharte Realität allein in den Herzen und auf den Bildschirmen regieren und sollten wir an Weihnachten mit sauren Gurken und Leitungswasser über unseren Heizkostenabrechnungen brüten? Ich bin skeptisch, ob das wirklich hilft, angesichts der schweren Erfüllbarkeit der Sehnsucht auch die Sehnsucht selbst zu entsorgen. Diese könnte ja zumindest potenziell als ein Wegweiser zu einem besseren Leben dienen. Wäre es, um mit Karl Marx zu sprechen, besser, die „Blumen an der Kette“ abzureißen, damit sich aus dem Aushalten der schmucklosen Realität dann die Weltrevolution von ganz allein ergibt? Wahrscheinlicher ist es wohl, dass wir angekettet bleiben würden, jedoch dann ohne die Blumen, also ganz und gar ungetröstet.

Es braucht ja nicht viel Beobachtungsgabe, um festzustellen, dass der „Geist der Weihnacht“, den Charles Dickens für seine Geschichte kreiert hatte, vom politisch-medialen Establishment jedes Jahr zugleich zum Fetisch erhoben und auf das Schäbigste verraten wird.

In jedem Jahr waren in jüngster Zeit Fälle von Heuchelei und Sinnverdrehung zu beklagen. 2021, auf dem Höhepunkt der Corona-Hysterie, wurden die Kirchenpforten brüsk vor Nicht-Linientreuen verschlossen, wandelte sich das Christentum unter der Leitung regierungsnaher Religions-Potentaten zu einer Geimpften-Religion. Die Priester segneten im übertragenen Sinn die Spritzen und taten im Jahr darauf, nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Kriegs, dasselbe mit den Waffen, die die deutsche Regierung mit einem wahren Feuereifer an die Front lieferte.

Ein queerer Gott und seine Patchwork-Familie

Vielfach erwiesen sich die Kirchen außerdem als Wachs in den Händen des woken Zeitgeists und als Lieferanten eines geistig-moralischen Überbaus für das Wirken der Ampel-Parteien. Gott erwies sich als „queer“, wozu passt, dass Jesus einer veritablen Patchworkfamilie entstammte. Das christliche Abendmahl wurde während der olympischen Spiele 2024 in Paris auf „trans“ gebürstet. Das KI-Plauderprogramm Chat GPT erlaubt zwar Witze über Jesus, nicht aber solche über den islamischen Religionsstifter Mohammed. Weihnachtsglückwünsche wurden in manchen Betrieben aus Rücksicht auf die Gefühle von Nicht-Abendländern verboten. Man grüßte sich aus Angst, als leitkulturell normativ abgekanzelt zu werden, auf Jahresabschlussfesten nur noch mit „Also dann, schöne Tage noch euch, man sieht sich!“

2024 wurden Weihnachtsmärkte mehr denn je zu Hochsicherheitszonen umgebaut. Das „Merkel-Lego“ — Riesen-Klötze, die an den Eingängen zu den Märkten aufgestellt wurden — sollte Auto-Attentate nach dem Vorbild des Breitscheidplatzes im Jahr 2016 verhindern. Nach dem Sturz Bashar al-Assads fielen nach Deutschland geflüchtete Syrer mit Landesfahnen und Gebrüll auf dem Weihnachtsmarkt in Essen ein. Dabei hätte es eine Menge andere Orte zum Feiern gegeben. Im Syrien der Nach-Assad-Ära fürchten Christen heute wieder um ihre Religionsfreiheit.

Ist das Festhalten an Weihnachtstraditionen „rechts“?

„Rechte“ Kommentatoren haben insofern leichtes Spiel, wenn sie davor warnten, dass sich nicht-abendländische Kulturen in Deutschland zu viel Raum nehmen und zu wenig Respekt vor einheimischen Bräuchen zeigen, dass „unsere“ Ursprungskultur sie — vielleicht als eine Art Bußübung im Gedanken an die Zeit von 1933 bis 1945 — zu willfährig gewähren lässt.

So ist der Keim zu weiteren Auseinandersetzungen für 2025 schon gelegt. Als Reaktion auf den Anschlag von Solingen im August 2024 und andere Gewalttaten der letzten Zeit werden nun auch wieder die Taschen harmloser Bürger auf Weihnachtsmärkten anlasslos, dafür aber mit unduldsamer Konsequenz von der Polizei durchsucht. Islamisten und repressionsfreudige Staatsmacht haben auf diese Weise gemeinsam eine neue Realität auf Kosten der Lebensqualität der nicht gewalttätigen Mehrheitsgesellschaft kreiert.

„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes“, sagte der legendäre Nahost-Experte Peter Scholl-Latour. Nicht die ehrliche Religiosität von Zugewanderten ist aber das eigentliche Problem. Die Integration von „Fremden“ im Sinne einer Willkommenskultur liegt durchaus im Sinn der Weihnachtsbotschaft, in der ja die mangelnde Aufnahmebereitschaft einer Gastgebergesellschaft gegenüber der „Flüchtlingsfamilie“ um Josef und die schwangere Maria kritisiert wird. Schade finde ich eher, dass das „Eigene“ den ursprünglichen Deutschen kaum mehr bekannt ist — geschweige denn, dass sie Wert auf dessen Bewahrung legen würden. Natürlich: Vieles von dem, was ich hier beschrieben habe, wurde vor allem von „rechten“ Medien aufgegriffen — aber nur, weil die „demokratische“ Mitte der Gesellschaft es in aller Regel links liegen lässt.

Hochfest für Gütesimulanten

Zusammenfassend kann man sagen, dass Weihnachten oft ein Kristallisationspunkt für alle Fehlentwicklungen gewesen ist, die sich in der Gesellschaft während eines Jahres manifestiert haben. Das Licht- und Liebe-Gerede der kommerzialisierten Weihnachts-Folklore lädt natürlich besonders dazu ein, Vorwürfe der „Heuchelei“ gegen Bewahrer dieser Tradition zu erheben. Wo Menschen nicht so viele überweltliche Ziele wie eine Monstranz vor sich hertragen, treten Enttäuschungen auch nicht so leicht auf. Der graue November vermag kaum negativ zu überraschen, Weihnachten dagegen erleben sensible Zeitgenossen fast nur noch mit einem Gefühl der Ernüchterung. Das Ende der „Raunächte“ am 6. Januar lässt so manchen mit einem fahlen Aschermittwochsgefühl zurück, auch wenn offiziell noch Karneval naht.

Aber welche Schlussfolgerung ziehen wir aus den vielen Enttäuschungen, die unweigerlich auftreten, wenn wir die idealistischen Frohbotschaften der offiziellen Weihnachtsfeierlichkeiten mit der gar nicht so warmherzigen Realität vergleichen? Sollen wir als Enttäuschte selbst noch zu Enttäuschern werden, die jeden Glanz aus den Augen der Kinder wegzuwischen versuchen?

Zynischer Nihilismus wäre nicht die richtige Schlussfolgerung aus dem Missbrauch von „Romantik“, der aus Profitinteressen heraus geschieht. Besser wäre es, selbst im guten Sinne wieder romantischer zu werden, im Alltagsgeschehen also einen gewissen Zauber und spirituelle Tiefe aufzuspüren.

Wir sollten nicht zugleich mit dem Kitsch das wegwerfen, was verkitscht wurde; nicht zusammen mit dem Verrat auch das hassen, was verraten wurde. Zur „guten neuen Mär“, die nach einer Realisierung durch uns alle verlangt, gehören Ideen von einer wärmenden Gemeinschaft zwischen den Menschen, von Solidarität mit Schwächeren und Versöhnung zwischen Zerstrittenen, von einem Licht, das gerade am tiefsten Punkt aufscheint und wieder Hoffnung gibt. Der gar nicht so religiöse Wolf Biermann fand für die Weigerung, zu verzweifeln, eine schöne Formel:

„Du, lass dich nicht verbittern
In dieser bitt’ren Zeit!“

Krieg auf Erden!

Ja, diese Welt sieht so aus, als wären nicht Engel, sondern Dämonen erschienen und als wäre ihre Botschaft: „Krieg auf Erde, ob es den Menschen gefällt oder nicht!“

Hoffnung kann in unserem Geist nur schwer Raum greifen, wenn man das neueste Video der unheiligen drei Könige Habeck, Merz und Scholz anschaut. Da sieht man für 2025 nur „Kummer und Harm“ vor sich liegen, und auch die Liedzeile „Welt ging verloren“ leuchtet mit Blick auf diese drei Akteure unmittelbar ein. Zweifellos kann es nerven, sich jedes Jahr dieselbe Leier anzuhören. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde.“ „Gottes Sohn, o wie lacht.“ „Maria und Josef betrachten es froh.“ Gerade in westdeutschen Milieus, in denen christliche Bräuche zumindest formal noch gepflegt wurden und werden, kennen das alle. Aber zur Beruhigung für Skeptiker: Diese Gedanken- und Gefühlswelt ist Schritt für Schritt dabei, unterzugehen. Ob es „danach“ besser wird, ist zu bezweifeln.

Seelenloses Nachbeten der von Kirchen vorgegebenen Glaubensinhalte führt zu nichts. Allerdings sehe ich im Zerreden von Weihnachten ebenso wenig eine Lösung wie im bloßen Ignorieren: „Ich kann mit all dem nichts mehr anfangen.“ Christen sowie Un- und Andersgläubige könnten vielmehr jene Werte und Ideale, hinter denen sie stehen, auch nach dem Abklingen der jahreszeitlich unvermeidlichen Kitschattacken weiterpflegen. Sie könnten aktiv auf eine zwar nicht perfekte, aber doch relativ gesehen „heilere Welt“ hinarbeiten. Etwa auf die Realisierung einer sozialen Utopie und auf einen Frieden der nicht nur am 25. Dezember in den Herzen wohnt, sondern an allen Tagen überall auf der Welt.

Der Wille, es zu versuchen

Nicht selten haben wir ja das Gefühl, dass „die anderen“ ihre Weihnachtsstimmung nur heucheln und das Fest in eine Parodie seiner selbst verwandelt haben. Wenn wir das so empfinden, dann können wir — also Schreibende wie Lesende — es ja jederzeit besser machen. Vor allem auch außerhalb des schmalen Zeitfensters, an dem die Simulation von Warmherzigkeit quasi zum guten Ton gehört.

Wenn wir die Diagnose „Welt ging verloren“ teilen, müssen wir uns eben auf die Suche machen und sie wiederfinden — speziell alles, was sie lebens- und liebenswert macht.

Die Gruppe ABBA, die nicht dafür bekannt ist, Kitsch krampfhaft zu vermeiden, aber mit populärphilosophischen Aussagen doch auch manchmal punkten konnte, sang in ihrem Neujahrslied:

„Mögen wir alle unsere Hoffnungen haben, unseren Willen, es zu versuchen — wenn wir das nicht mehr hätten, könnten wir uns ebenso gut niederlegen und sterben.“


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