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Die vierte Kränkung

Die vierte Kränkung

Kopernikus, Darwin und Freud haben das Selbstbild des Menschen ins Wanken gebracht — Künstliche Intelligenz droht diesem nun den Rest zu geben.

Eine nächste Apokalypse gefällig? Könnte ja sein, dass man mit den aktuellen Bedrohungsszenarien nicht genug ausgelastet ist. Die Klima-Hysterie hält zwar an, über der Energieversorgung hängt ein Damoklesschwert, aber — Achtung! — die Pandemie-Panik lässt derzeit gerade nach. Wie gut also, dass ein neuer Dämon durch die Welt geistert und die nächsten endzeitlichen Beschwörungsformeln befördert: Der KI-Dämon. Dem kollektiven Raunen nach ist seine Gefährlichkeit mindestens auf der Gefahrenskala von SARS-CoV-2 einzuordnen. Ach was, noch viel zu untertrieben, tönt es aus dem Chor derer, die man für besonders beflissene Geschwister Karl Lauterbachs halten könnte — wo jener permanent die Viren-Alarmglocke schlug, überbieten sich diese in Schreckensszenarien, wonach der Mensch bald rein gar nichts mehr zu melden hat. Nämlich dann, wenn wir eintreten in ein neues Zeitalter: in das der Terrorherrschaft der Künstlichen Intelligenz.

Woher nur diese Angst? Ist sie überhaupt berechtigt? Oder nur eine Nebenwirkung von übermäßigem Science-Fiction-Konsum? Verständlich ist, dass der Homo sapiens auf dieser Welt irgendwo seinen Platz haben will. Dass er sich dabei zu der Überzeugung aufgeschwungen hat, er sei die „Krone der Schöpfung“ ist natürlich maßlos übertrieben. Aber auch das ist charakteristisch für den Menschen, er neigt zur Übertreibung. Und außerdem dazu, sich schnell gekränkt zu fühlen. Das erkannte auch Sigmund Freud.

Der österreichische Psychoanalytiker sprach von drei großen Kränkungen der Menschheit. Demnach wurde die erste Erschütterung durch Nikolaus Kopernikus ausgelöst, der die Entdeckung machte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Charles Darwin legte mit einer nächsten Kränkung nach, indem er in seiner 1859 veröffentlichen Evolutionstheorie nachweisen konnte, dass der Mensch vom Affen abstammt. Und Freud selbst, Kränkung Nummer drei, kam zu dem Ergebnis, dass der Mensch von unbewussten Vorgängen, etwa Trieben, gesteuert werde, und also nicht „Herr im eigenen Haus“ sei.

Inzwischen gibt es diverse Vorschläge zu weiteren großen Kränkungen der Menschheit. Dazu zählt auch die Existenz der Künstlichen Intelligenz.

Dass computergesteuerte Systeme den Menschen überflüssig machen könnten, nagt an dessen narzisstischem Selbstverständnis. Die britische Philosophin und Roboter-Ethikerin Paula Boddington befürchtet gar, er könnte, sollte sich seine Entbehrlichkeit bewahrheiten, in eine existenzielle Sinnkrise geraten.

In ihrem Buch „Towards a Code of Ethics for Artificial Intelligence“ beschreibt sie ein mögliches Szenario:

„Wenn alle Probleme gelöst sind, wenn du unendlich viel Freizeit hast, weil eine Maschine den Liebesbrief an deine Liebste besser schreibt als du das kannst, und ein Roboter die sexuellen Wünsche deiner Geliebten besser erfüllt als du, und die Version von ‚Krieg und Frieden‘, die durch Roboter geschrieben und verfilmt wurde, besser ist als diejenige von BBC, dann wirst du dich wahrscheinlich zu fragen beginnen, warum du am Leben bist.“

Was fällt auf? Es geht immer um ein „Besser“. Der Mensch kommt an die Grenze seines Optimierungszwanges, nun ist es die KI, die diesen Job übernimmt. Denn: Optimiert werden muss weiterhin; dem Leistungsprinzip muss gehuldigt werden.

Und der Kapitalismusideologie, von der KI durchwoben ist. Was ein permanentes Vergleichen impliziert: Ein Mensch, der sich mit KI vergleicht, mag das Gefühl haben, er würde verschwinden, weil er weniger leistet, zugleich verschwindet er auch deshalb, weil er sich zum Vergleichsgegenstand macht.

Der Schriftsteller Peter Handke dachte in einem Essay über die Frage nach: „Wie kommt es zu dieser Sucht, vergleichen zu müssen?“ Darin schlussfolgerte er, man würde unfähig, den durch den Vergleich abgewerteten Gegenstand wahrzunehmen:

„Es zeigt sich also, dass Vergleiche vor allem dazu dienen, den verglichenen Gegenstand mit einem Satz wegzureden, jede weitere Beschäftigung mit ihm erübrigt sich: Er existiert nur noch als Vergleichsgegenstand.“

Wollen wir das, wollen wir nur noch als Vergleichsgegenstand existieren? Wohlgemerkt: Wir selbst entscheiden, ob wir in diesen Ring steigen und uns überhaupt messen wollen. Brauchen wir diese Konkurrenz? Warum lassen wir uns verunsichern? Sind wir wirklich überflüssig, nur weil ein angeblich intelligentes System etwas besser kann? Wenn jemand besser Schach spielen kann als ich oder besser zeichnen, kann ich trotzdem gut weiterleben. Und wenn sich jemand von jemand anderem mehr geliebt fühlt als von mir, auch dann erübrige ich mich nicht als der Mensch, der ich bin. Oder anders gesagt: Es gibt immer jemanden, der dieses oder jenes besser kann als ich. Wieso sollte mich das in Frage stellen? Wenn ja, dann wäre das ein Appell, mich in meiner Souveränität, in meinem Selbstbewusstsein zu stärken.

Natürlich könnte man, auch wenn das weiterhin den Wettbewerbsgedanken impliziert, den Spieß umdrehen und auflisten, worin der Mensch der KI überlegen ist. Da kommen schnell einige Begabungen zusammen, wie etwa Irrationalität, Sturheit, Sehnsucht, Schmerzempfinden, Launenhaftigkeit, Fähigkeit zu Illusion und Täuschung — und vor allem Verletzlichkeit. Es mag befremden, das als Begabungen einzuordnen. Aber warum nicht? Vielleicht ermöglicht erst die KI, dass wir uns annehmen können in unseren Unzulänglichkeiten. Dass wir nicht einem Ideal nachstreben, dass uns vom wahren Menschsein entfernt, sondern das einfach der KI überlassen. Und stattdessen ganz gelassen dort ankommen, wo der Mensch ein Mensch ist.

Es ist sicher möglich, KI zu ignorieren. Der Mönch in den tibetischen Bergen kann das freilich problemlos, die Ärztin in einem Münchner Klinikum nicht.

Ebenso wenig wie ein Großteil der Menschheit, der längst in einer KI-Beziehung lebt; oft unbewusst, schließlich hat man sich bereits daran gewöhnt wie an den Kaffee am Morgen. Und wie in jeder Beziehung muss uns klar sein, dass sie uns beeinflusst, und das sicher nicht immer zu unserem Vorteil. Wie groß der Schaden ist, liegt an uns, an unserer Bereitschaft zur Selbstfürsorge. Wollen wir wirklich, dass uns alles abgenommen wird? Oder fühlt es sich nicht besser an, wenn wir etwas selbst leisten und stemmen? Das ist auch eine Frage der Würde.

KI steuert unter anderem Smartphones, Internet-Algorithmen, Navigationssysteme und medizinische Diagnoseverfahren. Diese KI nennt man Schwache KI; sie ist auf die Ausführung bestimmter Aufgaben trainiert und fokussiert. Eine Maschine, die eine dem Menschen gleichgestellte Intelligenz hätte, existiert bislang nur als Ideal. Obwohl KI-Forscher an der Entwicklung der sogenannten Starken KI arbeiten, ist trotz großer Bemühungen seit 50 Jahren auf diesem Gebiet kein nennenswerter Erfolg zu verzeichnen.

Wozu also die ganze Aufregung? Roboter-Ethikerin Paula Boddington verweist ohnehin darauf, dass das menschliche Gehirn nicht adäquat zu einem Computer gesetzt werden kann. Da menschliche und künstliche Intelligenz ganz unterschiedlich funktionieren, sei bereits der Name nicht besonders geglückt. Zudem fällt in vielen KI-Debatten oft unter den Tisch, dass KI ohne ihren Schöpfer, also den Menschen, einpacken könnte. KI kann nur können, was der Mensch schon gedacht hat, und nur Informationen verarbeiten, mit denen sie gespeist wird. Anders gesagt: Die Erzählung, es handle sich bei KI-Systemen um völlig autonome Technologien, ist nichts weiter als ein Mythos. Dass Unternehmen, die damit ihr Geld machen, kein Interesse daran haben, dass der Mythos an Glanz verliert, versteht sich von selbst. Also muss er aufrechterhalten werden.

Blickt man noch weiter hinter die Kulissen, stößt man auf Millionen von Menschen, die für sogenannte Datenannotation eingesetzt werden, also für die Sichtung, das Einsortieren und Kennzeichnen von Datensätzen, damit Maschinen sie verstehen. Diese Arbeiter sitzen unter anderem in Afrika und Südamerika. Die Bedingungen sind ebenso miserabel wie die Bezahlung, kurz gesagt, sie werden ausgebeutet. Dabei sind sie nicht nur mit harmlosen Inhalten konfrontiert. Eine Recherche des US-Magazins TIME deckte auf, dass Arbeiter in Kenia gewalttätige, rassistische und anderweitig psychisch belastende Inhalte sichten mussten — und zwar für das derzeit gehypte KI-System ChatGPT.

Nun wäre das Herz zu befragen, was es davon hält. Die Maschine hat keines. Aber der Mensch.

Solange er ihm, dem Herzen, folgt, kann KI nie zu dem Dämon werden, der derzeit beschworen wird.


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