Ich hatte nicht geahnt, wie anstrengend es ist, meine persönliche Komfortzone zu verlassen — in meinem Fall durch das Auswanderungs-Projekt unserer Familie. Kaum auf die Reise begeben, lösen sich alte Sicherheiten auf wie Zucker, den man in ein Glas Wasser rührt. Genauso fühle ich mich: Wie in einem Strudel treibend, entwurzelt, heimatlos, desorientiert. Und doch ist da eine bisher unbekannte Kraft, die sich schrittweise in mein Leben drängt: Zum ersten Mal und in ungekanntem Ausmaß mache ich von meiner Schöpferkraft Gebrauch. Ich spüre den positiven Ruf der Zukunft und folge ihm mit aller Entschlossenheit. Wir sind unterwegs!
Meine Tochter steht vor mir, das Gesicht wutverzerrt und die Augen voller Tränen. Ich erkenne sie kaum wieder in diesen Tagen, die Gefühle gehen mit ihr durch und sie findet kein anderes Ventil als zu schreien, zu schlagen und alles, einfach alles bestimmen zu wollen. Ratlos hocke ich vor ihr und wünsche mir, ich hätte gelernt, meine eigenen Gefühle besser zu regulieren. Es hilft einem kleinen Mädchen einfach nicht weiter, wenn ich ihr sage, sie dürfe mich nicht schlagen, ihr aber auch kein anderes, passenderes Ventil anbiete.
Wir sind seit einer Woche unterwegs. Auf unserem Weg des Auswanderns sind wir auf eine „Work-and-Travel“-Reise aufgebrochen und wohnen nun bei unserer ersten Gastfamilie.
Wochenlang hatten wir gepackt, uns vorbereitet, von Freunden Abschied genommen — und trotzdem fühlt sich dieser Wechsel in eine fremde Umgebung nun an wie eine Art Schock. Am ersten Morgen im neuen Land liege ich in unserem Wohnwagen und heule wie ein Schlosshund. Ich versuche, mir alle wichtigen Gründe aufzuzählen, deretwegen wir aufgebrochen sind, doch das hilft in diesem Moment nicht viel gegen die Wucht der Erkenntnis:
Wir haben unser Zuhause verlassen, unseren Freunden adieu gesagt, unsere Wurzeln gekappt — und nun treiben wir dahin, in einer Art Schwerelosigkeit und wie losgebunden. All meine Tatkraft und Zukunftsfreude sind vorübergehend verflogen, ich kann nur noch den Verlust fühlen, den das Verlassen des sicheren Hafens „Heimat“ für mich bedeutet — und mit einigem Trotz sage ich mir: Mein Zuhause ist dort, in unserem Dorf in Schleswig-Holstein, in der Landschaft meiner Kindheit. Wie sollen wir hier bloß ankommen?
Gleichzeitig beginnen wir fieberhaft, nach neuen Strukturen zu suchen und sie zu bauen. Einnahmequellen müssen erschlossen, rechtliche Fragen geklärt und ein neuer Alltag aufgebaut werden.
Von einem Tag auf den anderen sind wir, eine eher geruhsame Musikerfamilie, die es liebt, in den Tag hineinzuleben, in einer vierköpfigen, wuseligen Gastfamilie gelandet, und unser Leben explodiert geradezu.
Unsere Tochter hat auf einmal zwei Gastgeschwister, und alle müssen wir nun mit den Schwierigkeiten der Eingewöhnung klarkommen, dem Stress und Streiten der Kinder, dem herzzerreißenden Weinen und den Wutanfällen.
Unsere Wohnwagenheizung fällt in dieser ersten Woche aus, so dass wir entgegen unserer eigentlichen Campingpläne im Haus unserer Gastfamilie im Gästezimmer schlafen. Abends wie morgens halten wir uns alle gegenseitig wach durch unsere unterschiedlichen Tagesrhythmen und den lautstarken Ausdruck unserer verschiedenen Erkältungen, die nacheinander alle, Kinder wie Erwachsene, befallen. Bei sieben Hausbewohnern ist das Badezimmer chronisch besetzt, und unser Gästezimmer quillt über vor unausgepacktem Reisegepäck.
Mein großer Wille, sofort in einem neuen Job anzufangen, schlägt um in die Erkenntnis, dass erst einmal neue Alltagsstrukturen gefunden werden müssen, bevor ich an feste, externe Arbeitszeiten denken kann.
Mein alltägliches Arbeitspensum ist sowieso hoch wie nie, kümmere ich mich nun nicht mehr nur um unseren eigenen Alltag, sondern arbeite, so gut ich es kann, im Haushalt unserer Gastfamilie mit — schließlich bekommen wir für unsere Mitarbeit Unterkunft und Verpflegung gestellt. Und obwohl ich als introvertierter Mensch Zeiten der Stille und Reflexion brauche wie frisches Wasser zum Trinken, lebe ich nun in einem Orkan, in einem Strudel aus wilden Gefühlen, Verpflichtungen, Wechsel, Veränderung und Zukunftsvisionen. Ich überlege, wann ich schon einmal so etwas Anstrengendes wie unser Auswanderungsprojekt unternommen habe — und als Beschreibung unserer Situation fällt mir nur das Wort „krass“ ein.
In dieser Lage kommt plötzlich ein gewisser, hilfreicher Trotz in mir auf: Dann ist eben all das, dem ich am liebsten mit meinem alten Muster des „Ich kann das nicht“ und „Das ist mir zu viel“ begegnen würde, nun ein willkommener Anlass, um nach neuen, besseren Bewältigungsstrategien zu suchen. Denn zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine klare, innere Vision von der Zukunft, spüre ich einen unfehlbaren Antrieb, der mich in Bewegung hält und mich immer wieder innerlich ausrichtet:
Aufgeben ist keine Option — wir wissen, dass wir auswandern wollen, hieran haben wir keinen Zweifel. Also funktioniert es nicht zu sagen: „Ich kann das nicht, das ist zu viel.“ Im Zuge dieses Auswanderungs-Projekts fange ich erstmals an, mich systematisch zu fragen: Wie kann ich das machen? Was muss ich verändern, tun oder lassen, damit ich es kann?
Obwohl ich kaum die täglichen Nachrichten verfolge, spüre ich die Zugkraft und die Wucht des Wandels, durch den wir global als Menschen gehen, und sehe klar wie nie, wie auch ich als Individuum zu diesem Wandel beitragen kann — klein und einer Ameise gleich, an meinem individuellen Platz und in meinem begrenzten Umfeld, und doch mit Strahlkraft auf jene, denen vielleicht genau meine Erfahrungen und mein individueller Entwicklungsweg bei ihren eigenen Fragen weiterhelfen können.
Es ist unwichtig, wie viele Menschen es gibt, die in ihrem persönlichen Wandel deutlich weiter sind als ich, in ihrem Bewusstsein bereits weiter entwickelt und in ihrem Leben hier auf der Erde ausgeglichener, gelassener oder klarer: In jenem Moment, wo ich meinen ureigenen Weg betrete, komme ich in meine persönliche Kraft.
Und diese Schöpferkraft lasse ich mir nicht mehr wegnehmen — nicht von anderen und nicht von mir selbst, von meinen Zweifeln und Ängsten. Es kommt mir auf einmal so vor, als hätte ich Zeit meines Lebens geschlafen und entdeckte erst jetzt, dass ich ein Anrecht auf einen eigenen Weg, einen Platz und eine Gestaltungsmacht habe. Ich staune, wie sich mein Lebensgefühl verändert, seit ich in den Fluss des Wandels eingetreten bin. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Ich weiß es nicht. Doch hat ja auch mein bisheriger Lebensweg seinen tieferen Sinn, er hat mich geprägt und geformt und zu der gemacht, die ich heute bin. Und jeder neue Tag prägt mich weiter.
Die vielleicht größte Aufgabe ist es, Schmerzhaftes aus dem eigenen Lebensweg anzunehmen und in Positives zu transformieren, in Heilung und Unterstützung, in Weisheit und Gelassenheit, in Bewusstheit und Verbindung.
Ich wirke daran mit, wie viel Positives von nun an in mein Leben kommt! Je mehr ich von meiner Schöpferkraft Gebrauch mache und mein Leben in eine positive Richtung lenke, desto mehr Positives ziehe ich an, welches dann ohne Hindernisse in mein Energiefeld fließen kann. Mein Entschluss steht fest:
Ab sofort sitze ich am Steuer. Ich gestalte! Ich muss nicht mehr erdulden, akzeptieren, leiden, jammern, mich beschweren. Ich muss nicht untätig aushalten — denn in jedem Krisenmoment kann ich mich fragen: „Was kann ich jetzt tun, um eine Besserung herbeizuführen?“ Und mich dadurch augenblicklich zurück navigieren in den Fluss meines inneren Antriebs, dieser machtvollen Kraft, die mich treibt und schiebt und mir unmissverständlich zu verstehen gibt, dass es hier auf der Erde einen Platz, eine Aufgabe, ein Leben für mich gibt, das zu leben und auszufüllen ich geboren wurde — und das nun darauf wartet, dass ich es in Besitz nehme.
Und so fühlt sich unser aktueller Schritt in die Fremde nicht ausschließlich anstrengend und schwer an — sondern ich erlebe ihn mit großer Freude im Herzen auch wie eine neue Geburt, wie ein Nach-Hause-zu-mir-Kommen und ein inneres Aufwachen.
Morgens, wenn alle noch schlafen, bete ich und bitte Gott um Hilfe, dass ich seiner Gegenwart gewahr bin — auch im größten Trubel des Tages — und dass ich die vielfältigen Hilfen und Helfer erkenne, die er für uns bereitstellt.
Ich lausche den Morgengeräuschen in dieser fremden Stadt, spüre die kühle Herbstluft, und während ich zunächst noch entmutigt überlege, welch Fülle an Aufgaben es heute wieder zu erledigen gibt, denke ich plötzlich mit Freude:
Wir sind raus aus unserer persönlichen Komfortzone — so weit raus, dass alles beweglich geworden und kaum noch etwas an seinem Platz ist. Was birgt das für Chancen! Nun heißt es, selbst in Bewegung zu kommen. Die Leinen sind los — was können wir jetzt alles daraus machen!
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