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Chinas Wirtschaft

Chinas Wirtschaft

Anstatt das asiatische Land zu sanktionieren und zu belehren, sollte sich der Westen ein Beispiel an dessen pragmatischer, volksnaher Politik nehmen. Teil 1 von 2.

Ähnlich ist nicht gleich

Zucker ist weiß und körnig. Aber man würde ihn nicht ungeprüft in den Kaffee schütten, denn auch Salz ist weiß und körnig, und der Unterschied zwischen beiden ist gewaltig. Das beherzigen sogar die Experten der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften in ihren Cafeterien. Nur beim Thema Inflation lassen sie diese Gründlichkeit vollkommen außer Acht. Steigende Preise sind für sie Ergebnis steigender Nachfrage, das ist Inflation, und diese bekämpft man nach den Lehrbuchweisheiten mit höheren Zinsen. Das geht zulasten des Absatzes der Unternehmen, was zum Teil auch gewollt ist, denn die Nachfrage muss ja eingeschränkt werden.

Aber die sogenannten Experten kämen nicht auf den Gedanken, die Grundlagen ihres Lehrbuchwissens in Frage zu stellen und die Ursachen von Preissteigerungen anhand der Realität zu untersuchen. Für bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler hat Inflation immer dieselben Ursachen. Sie betrachten sie nur anhand ihrer äußeren Form, den steigenden Preisen oder — noch abstrakter — der Inflationsrate. Wenn es hoch kommt, stellen sie sich schon einmal die Frage, ob es sich bei Preissteigerungen um einen „einmaligen Preisschub … oder doch Inflation“ handelt (1). Als ob das einen Unterschied macht für die Lebenshaltungskosten, aber auch sonst macht diese Unterscheidung wenig Sinn.

Erscheinung und Auswirkungen der Inflationen, die Preissteigerungen, sind gleich. Die Ursachen jedoch sind verschieden. Die derzeitige in Russland erfüllt noch am ehesten die Grundsätze der bürgerlichen Inflationstheorien, dass eine erhöhte Nachfrage zu höheren Preisen führt. Denn aufgrund des Rückzugs westlicher Unternehmen und der Sanktionen kommen weniger Waren aus dem Westen ins Land. Dementsprechend fließt weniger Geld an die ausländischen Konzernzentralen zurück. Es bleibt also mehr in Russland selbst, und die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften treibt die Löhne in die Höhe. Beides regt den Konsum an, und die steigende Nachfrage führt zu steigenden Preisen.

Ganz anders ist dagegen die Inflation in der Türkei. Dort liegt die Ursache der Preissteigerungen im Verfall der Währung. Dieser ist Ergebnis des Rückzugs ausländischer Investoren seit dem gescheiterten Putsch von 2016 (2). Dieser Verfall bedeutet, dass für alle importierten Waren im Verhältnis zu Dollar oder Euro mehr Lira hingelegt werden müssen. Ob Vorprodukte oder Konsumgüter — am Ende landen deren Preissteigerungen immer beim Verbraucher. Anders als in Russland steigen nicht Nachfrage und Konsum, sondern einfach nur der Preis der Waren.

Noch einmal anders sind die Ursachen für die Preissteigerungen in Europa und besonders in Deutschland gelagert. Immer wieder tauchen in den Statistiken der Europäischen Zentralbank (EZB) die Energiepreise als treibende Kraft der Inflation auf. Das heißt, dass sie in der Eurozone eindeutig eine Auswirkung der Einfuhrverbote für russische Energieträger ist. Nun hat die EZB in ihrer unermesslichen Weisheit zu diesen Preissteigerungen durch die Energieträger auch noch Preissteigerungen für Geldausleihungen (Zinsen) beschlossen. Beides zusammen dämpft Nachfrage und Konsum, während gleichzeitig die Produktionskosten der Unternehmen steigen. Das gefährdet deren Rentabilität und damit deren Existenz.

Glaubenssätze

Wenn an zwei Säulen der Produktion gesägt wird, den Energiepreisen und den Zinsen, braucht man kein Experte zu sein, um zu erkennen, dass dann die Wirtschaft in die Knie geht.

Verblendet durch ihre Theorien erkennen Wirtschaftsexperten nicht, dass in der Wirklichkeit außerhalb der Expertenblasen die Nachfrage als Folge der steigenden Preise ohnehin zurückgeht. Vermutlich traut sich auch niemand von ihnen, offen Kritik zu üben an den Sanktionen des politischen Westens gegenüber Russland als Verursacher des Preisanstiegs.

Das ist ein Beispiel unter vielen (3) dafür, wie unzulänglich die Analysen bürgerlicher Wirtschaftswissenschaftler sind. Sie beurteilen nach dem Augenschein, den sie auf Theorien mit unverständlichen Begriffen stützen, deren Grundlage wiederum der Augenschein ist. Ein sehr bezeichnendes Beispiel für Mangel an Grundlagenwissen und die Orientierungslosigkeit in der Herangehensweise ist der sogenannte reale Gleichgewichtszins „r*“, der wichtig sein soll für die Erkenntnis, ob „die Notenbank mit ihrer Geldpolitik expansiv oder restriktiv ist“ (4).

Dieser angeblich so wichtige Faktor lässt sich jedoch „nicht beobachten und muss anhand von Daten geschätzt werden“ (5). Damit nicht genug der Wissenschaftsferne und Beliebigkeit, so kommt noch hinzu, dass der „reale Gleichgewichtszins r* sehr unsicher geschätzt“ (6) werden kann. Man bezieht sich also auf Schätzungen, die selbst wieder sehr unsicher geschätzt werden können. Würde ein Statiker auf einer solchen Basis eine Brücke errichten? Die Frage stellt sich nun: Welchen praktischen Wert hat eine solche Größe, wenn sie weitgehend auf fragwürdigen Schätzungen beruht?

Auf ähnlichem Basiswissen informieren westliche Experten ihre Medienkonsumenten über die wirtschaftlichen Vorgänge in China und geben Deutungen dafür ab, wie diese Entwicklungen verstanden werden sollen. Das sind nicht unbedingt dieselben Personen, aber dieselben theoretischen Grundlagen, auf die sich Inflationsexperten und Chinaexperten stützen. Kein Wunder, dass die chinesischen Daten immer wieder angezweifelt werden, wenn den sogenannten Experten weitgehend unzureichende Werkzeuge für ihre Arbeit zur Verfügung stehen.

Der Zweifel besteht dabei weniger in den Erfolgen der chinesischen Wirtschaft selbst, denn diese sind trotz allem Neid unbestreitbar. Vielmehr nährt er sich aus dem Widerspruch zwischen der tatsächlichen Entwicklung und den Erklärungsversuchen solcher Experten. Diese sind ähnlich fehlerhaft wie die Aussagen jener, die der russischen Wirtschaft den Ruin unter den westlichen Sanktionen vorhersagten. Auch deren wirtschaftswissenschaftliche Kompetenz stützt sich in den meisten Fällen auf ähnliche Theorien, aber nicht auf die Wirklichkeit.

Die Tatsachen werden betrachtet und gedeutet durch die Brille der Theorien. Dabei werden sie so zurechtgelegt, dass sie einerseits zu den Theorien passen und andererseits das bestätigen, was politisch erwünscht ist. Wo es mit dem Hineinpressen der Tatsachen in den theoretischen Rahmen nicht funktioniert, schafft man neue Größen wie den Gleichgewichtszins „r*“ oder einen sogenannten „natürlichen Zins“. Sie erklären nichts, schützen aber die Gültigkeit der Theorien. Es ist wie mit der unbefleckten Empfängnis Mariens bei den Katholiken oder der magischen Kugel, die Kennedy dreimal tötete: Man kann es nicht beweisen, man muss es einfach glauben.

Wunschdenken und Fehleinschätzungen

Der Mangel an Kompetenz bei den bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften ist ein Mangel an Grundlagen. Die Aufgabe dieser Disziplin bestand schon sehr früh, besonders aber während des Kalten Kriegs, weniger im Erklären des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern in der Widerlegung der Marx’schen Erkenntnisse und Darstellungen dazu. Diese Unzulänglichkeit der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft wurde erst offensichtlich nach dem Verschwinden der materialistischen Weltanschauung aus den Diskussionen im politischen Westen. Auch wenn man die Sichtweisen von Marx immer abgelehnt hatte, so hatten sie doch stets Stütze und Orientierung geboten. Man wusste, wogegen man argumentieren musste. Nun aber fehlt dieses Gerüst, und es wird deutlich, dass man keine Werkzeuge hat zur Bewältigung der Aufgaben: die Handhabung der Wirtschaftskrisen und die Erklärung des Kapitalismus.

Um die westliche Einschätzung in Bezug auf Chinas Wirtschaft zu beurteilen, darf des Weiteren die antichinesische Propaganda nicht übersehen werden. Die westlichen Meinungsmacher wollen nicht wahrhaben, dass sich China trotz aller Behinderungen besser entwickelt als erwartet und vorausgesagt.

So darf nicht wahr sein, dass die chinesische Wirtschaft unter der Führung einer kommunistischen Partei erfolgreich ist. Es darf nicht wahr sein, dass der chinesische Sozialismus nicht dem Bild von Armut und Rückständigkeit entspricht, das westliche Medien Jahrzehnte lang besonders mit dem Sozialismus in der Sowjetunion in Verbindung bringen konnten.

All das muss bedacht werden, wenn man sich ein Bild von der Wirtschaft Chinas machen will. Denn letztlich geht es nicht um die Wirtschaft, sondern um das politische System, über das westliche Meinungsmacher, aber auch so mancher linker Kritiker Chinas ein Urteil erstellen wollen. Kritisieren die ersteren den chinesischen Sozialismus, weil er ihnen zu sozialistisch ist, ist er den letzteren nicht sozialistisch genug.

Beide aber sind verfangen in ihren Sichtweisen zur Sowjetunion und übertragen diese auf China. Sie scheinen beiden so etwas zu sein wie die zehn Gebote für die Katholiken: ewig und unveränderlich. Dabei unterliegt der Sozialismus genauso wie der Kapitalismus der Veränderung. Auch dieser stellt sich heute nicht mehr so dar wie in seiner Anfangszeit im Manchesterkapitalismus vor fast 200 Jahren.

Einfache Wahrheiten

Das Verfangensein in Theorien und Glaubenssätzen bestimmt weitgehend die Betrachtung nicht nur des Sozialismus, sondern auch der Entwicklungen in China. Auch das wird unter anderem wieder deutlich an den Sichtweisen zur Inflation. Diese grassiert in den meisten Staaten des politischen Westen. Nicht nur das: Erstmals seit den 1970er Jahren ist wieder die Rede von Stagflation. Das Wirtschaftswachstum stagniert, und gleichzeitig steigen die Preise. Aber selbst wenn durch die Maßnahmen der Notenbanken die Inflationsraten fallen, vermittelt das einen trügerischen Eindruck: Denn die Preise sinken deshalb nicht, sie steigen nur langsamer. Aber sie steigen.

Dagegen wird in China Deflation gesehen, denn „im vergangenen Jahr legte der Verbraucherpreisindex nur um 0,2 Prozent zu (, und) die Erzeugerpreise sind seit zweieinhalb Jahren negativ“ (7). Nach Ansicht der westlichen Wirtschaftsexperten scheint das genauso schlimm zu sein wie die westliche Inflation, wenn nicht sogar noch schlimmer, wie manche den Eindruck ermitteln. Im Interesse und im Denken einer kapitalistischen Ordnung trifft das sogar zu. Denn Deflation bedeutet für die Unternehmen, dass der Preisdruck auf ihre Produkte zunimmt und sie weniger Gewinne daraus erwirtschaften können. Das ist nicht im Interesse der kapitalistischen Ordnung.

Kein Wunder also, dass westliche Beobachter diese Entwicklung in China mit denselben Maßstäben messen, die sie nach den eigenen Theorien auf die eigene Wirtschaft anwenden. Die Chinesen selbst aber scheinen das anders zu sehen. Auch sie sehen die schwächelnde inländische Nachfrage. Anderseits aber stiegen trotz Zöllen und anderen Behinderungen die Ausfuhren im „vergangenen Jahr um mehr als 7 Prozent [, und] der Exportüberschuss war mit fast einer Billion Euro so hoch wie nie“ (8). Das sind die Fakten, die mit den Theorien nicht in Einklang zu bringen sind.
Hinzu kommt eine Einstellung, die auf anderen gesellschaftlichen Grundlagen beruht.

So fragte Präsident Xi Jinping laut Wall Street Journal: „Was ist so schlimm an der Deflation? Mögen die Leute es nicht, wenn die Dinge billiger sind?“ (9). Das ist eine Frage, die sich westliche Wirtschaftswissenschaftler nicht zu stellen scheinen.

Bei Xi steht im Vordergrund das Interesse der einfachen Menschen an niedrigen Lebenshaltungskosten, bei den westlichen Experten dagegen die Sorge um die Gewinne der Unternehmen. Das ist der Unterschied.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 21. März 2025: Befreiung à la Trump
(2) Siehe Rüdiger Rauls: Türkei vorwärts in die Vergangenheit/
(3) siehe Rüdiger Rauls: Inflation ohne Ende
(4) FAZ vom 9. Oktober 2024: Ein kritischer Blick auf die Politik der EZB
(5) ebenda
(6) ebenda
(7) FAZ vom 18. Januar 2025: Wachstum wie gewünscht
(8) ebenda
(9) asiatimes 14. Januar 2025: Zur Verteidigung der chinesischen Deflation

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