Samstags gehen wir „spazieren“. Eigentlich ab 17:00 Uhr. Die Anzahl der Spaziergänger wird geringer, die Haltungen etwas undurchsichtiger. Weil es so vieles gibt, über das man geteilter Meinung sein kann, wird einfach alles angeklagt. Per se nicht verkehrt. Aber welches Bild entwirft man damit von sich? Gegen die Injektion, gegen den Krieg, gegen Migration, gegen das WEF, gegen die Regierung, gegen die Sparmaßnahmen, gegen die Bevormundung, gegen die Lügen, gegen die Politik, gegen die Werbung, gegen die Doppelmoral, gegen Verschwendung von Steuergeldern, gegen Sanktionen, gegen alle Missstände im Allgemeinen und im Besonderen sowieso.
Eine große Gruppe
Es gab Zeiten, da zeigte eine große und bunte Menge ihr Gesicht. Mehrere Tausend Personen umfasste der Zug, und er war bunt. Sicherlich waren auch zu dieser Zeit Menschen dabei, mit denen man als Privatmensch lieber keine zwei Worte wechselt. Für einige Grund genug, anzuklagen, mit diesen Menschen denselben Weg zu gehen — sprichwörtlich und tatsächlich. Oft wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vorwurf haltlos sei, man würde sich mit Menschen, die unter Umständen wirklich nichts Gutes im Schilde führen, gemein machen, sobald man mit sich mit ihnen auf den gleichen Weg begibt. Ein solcher Vorwurf lahmt nicht nur, er ist beinamputiert. Würde man dieser Argumentation folgen, so würde das auch bedeuten, dass kein Fußballfan mehr in ein Stadion gehen darf ob der Wahrscheinlichkeit, dass auch bösartige und gewaltbereite Hooligans sich unter die Fans mischen könnten.
Für etwas einstehen
Die Missstände waren und sind deutlich, und es war und ist gut, sie zu benennen. Die Missstände müssen auch weiterhin benannt werden, dafür geht man spazieren. Die Personen, die zum Startpunkt der Spaziergänge kommen, wissen, warum sie kommen. Sie wissen, was schiefläuft.
Schon in den vergangenen Wochen und Monaten hat mich jedoch die Bestätigungsspirale der Gespräche ein wenig irritiert. Ein Austausch fand im Grunde nicht statt, vielmehr suhlte man sich gemeinsam im Wissen um Rechtsverletzungen, übergriffiges Verhalten, skandalöse Machenschaften.
Ja, weiß ich. Ja, habe ich gelesen. Ja, ist nicht neu. Ja, kenne ich. Ja, habe ich gesehen. Ja, deswegen bin ich hier.
War man nicht bereit, mantraartig einzustimmen und sich mit Inbrunst in den Empörungshaufen zu werfen, hinterließ man die Menschen mit einer gewissen fassungslosen Irritation.
Mensch Leute, deswegen sind wir doch hier, oder? Weil es so nicht richtig läuft. Wir müssen uns gegenseitig weder beweihräuchern noch bestätigen. Also auf geht’s. Laufen wir los.
Stehen bleiben
In den letzten Wochen wurde aus dem „Laufen wir los“ mehr und mehr ein „Wir bleiben erst einmal stehen“. Der Startzeitpunkt wurde immer weiter nach hinten verschoben. Nicht offiziell.
Aber man trat im wahrsten Sinne des Wortes auf der Stelle, stand sich die Beine in den Bauch und hörte, was man schon wusste. Kundgebung nach Kundgebung. Rede um Rede. Inhalt war das, was alle wissen, die sich zum Spazierengehen aufgemacht haben.
Manchmal stand man über 30 Minuten wie angewurzelt da. Dann machte sich die kleine Schar auf. Diejenigen, die nicht aufgeben, diejenigen, die Gesicht zeigen. Doch je kleiner die Gruppe wird, umso mehr fallen auch die Personen auf, die im wahrsten Sinne des Wortes „Flagge“ zeigen. Und diese Flaggen gefallen mir nicht alle.
Bitterkeit und Gräben
Auch habe ich für mich gemerkt, dass es mir nicht so wichtig ist, wer immer noch an den alten und überholten Narrativen festhält, sondern dass wir einen Weg finden müssen, der uns gemeinsam nach vorne bringt. Nach vorne und raus aus diesem Sumpf. Gemeinsam.
Nein, ich weiß nicht, wo er liegt und wie man ihn verlassen kann. Ich merke nur, dass ich — obwohl ich Ausgrenzung und Ungerechtigkeit, Häme, Diskriminierung und Hass selbst erlebt habe — kein großes Interesse habe, immer wieder auf diesen Haufen Unrat zu schlagen. Denn erstens kostet es Kraft, und zweitens werde ich damit nur auch mich selbst beschmutzen. Ich möchte, dass wir einen Weg finden, gemeinsam dieses Fass zu heben und aus dem Weg zu räumen. Die anderen weiterhin mit Dreck zu beschmeißen, weil sie mich mit Dreck beschmissen haben, ist nicht mein Weg.
Falsche Zielgruppe
Wenn ich in einem Seminar zu Beginn einen 15-minütigen Monolog halte, wie wichtig es ist, pünktlich zu sein, und die Personen anklage, die noch nicht da sind, werde ich nur die Personen erreichen, die pünktlich waren. Und wenn ich mit meinem Monolog nicht aufhöre und immer weiter darauf herumreite, werden auch diejenigen genervt sein, die anwesend sind.
Fragen und Bitten
Was halte ich demnach für sinnvoll? Ich frage mich, wie man einen echten Dialog entfachen kann. Dass man „dagegen“ ist und dass viele Fehler gemacht worden sind, das sollte mittlerweile jedem halbwegs interessierten und aufgeschlossenen Menschen klar sein. Wie kann man nun mit den halbwegs interessierten Menschen in einen echten Dialog treten? Wie verschafft man sich nicht nur Aufmerksamkeit, sondern wirklich Gehör?
Es ist sinnlos, die erreichen zu wollen, die sich fest vorgenommen haben, nicht erreicht zu werden. Das führt nur zu Trotz auf beiden Seiten.
Da waren sie wieder, die „beiden Seiten“. Können wir nicht bitte den Fokus wieder auf das legen, was unser kleinster gemeinsamer Nenner ist?
Der kleinste gemeinsame Nenner
Ich denke und glaube fest, dass alle Menschen gesund sein oder gesund werden wollen. Ich glaube, dass die meisten Menschen traurig darüber sind, wenn andere Menschen sterben. Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch nicht einfach so aus Bosheit anderen Menschen etwas Böses will. Können wir nicht hier beginnen? Ja, aber ... Natürlich: Dieses „aber“ hängt auch in meinem Kopf.
Die Wege, die Menschen beschritten haben, gingen in den letzten Jahren weit auseinander. Die Sprache war kein Verständigungsmittel mehr, sondern eine Anhäufung falscher Etiketten und ein Sammelsurium an Halbwahrheiten und Euphemismen. Wir haben uns so voneinander entfernt, dass man sich nicht mehr auf Menschen freut, sondern Angst hat, dass sie eine Gefahr füreinander darstellen können.
Ich glaube, so kommen wir nicht weiter!
Sich entschuldigen — um Entschuldigung bitten
Man kann sich nicht selbst ent-schuldigen. Man kann sehen und erkennen, dass man Fehler gemacht hat, und um Entschuldigung bitten. Es ist eine Bitte, und der jeweils andere kann dieser Bitte aus Großmut und Güte stattgeben. Weil es besser ist für das Miteinander. Weil wir nur so konstruktiv sein können.
Wir brauchen also die Erkenntnis, dass wir Fehler gemacht haben, den Mut, dies zuzugeben, und die Güte, es zu entschuldigen. Anderen Personen, die Schuld auf sich geladen haben, können wir verzeihen, müssen wir verzeihen. Das ist kein leichtes Unterfangen. Niemals. So lese ich in vielen Netzwerken. Niemals wollen die Menschen verzeihen, das haben sich einige fest vorgenommen. Aber damit vergiftet man doch nur die eigene Seele. Man hat gekämpft, um das eine Gift nicht in sich hineinzulassen, und vergiftet sich und seine Seele dann selbst.
Warum? Wollen wir die Spaltung, die durch falsche Entscheidungen, falsche Maßnahmen, Irrglauben und Indoktrination vorangetrieben wurde, weiter hegen und pflegen, düngen und wachsen lassen? Sind wir dann nicht alle Opfer dieser Manipulation, und ist es uns nicht wichtig, selbstbestimmt auch Nein sagen zu können?
Mehr als nur eine Geste
Natürlich würde ich es begrüßen, wenn die Menschen, die Hass und Hetze gesät, gedüngt und gepflegt haben, die Größe beweisen würden, diese Fehler zuzugeben. Ich würde es aber auch begrüßen, wenn man zuhören könnte. Getrieben von Angst, dem Glauben erlegen, dass alles richtig ist, die unsichtbare Gefahr ständig vor das innere Auge gemalt, waren viele Menschen nicht Herr ihrer Sinne.
Dauerdelirium
Viele Menschen haben sich an der Angst und Panik besoffen. Und immer, wenn der Kater einzusetzen drohte, wurde nachgegossen. Pegelsaufen mit Panik. Das macht kaputt.
Das an sich ist keine Entschuldigung, nur eine Erklärung. Man könnte zumindest gewillt sein, diese nachzuvollziehen. Wenn außenherum der Dauerlärm tönt, kann die innere Stimme schon mal überhört werden.
Wer schreit, hat Unrecht
Ist es nicht an der Zeit, ein wenig Ruhe zu geben? Ist es nicht an der Zeit, Stille einkehren zu lassen, damit die innere Stimme und die leise Bitte um Verzeihung, die vielleicht von der ein oder anderen Person kommt, überhaupt gehört werden können?
Können wir reden?
Ich fände einen offenen Dialog großartig. Wer ist bereit, sich mit Vertretern der „Maßnahmenkritiker“ an einen Tisch zu setzen? Wer ist bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man Fehler gemacht hat, und welche Maßnahmenkritiker sind bereit und in der Lage, ihrerseits ohne Häme und Nachtreten in einen solchen Dialog zu gehen?
Vielleicht werde ich es nie erfahren, oder ist es noch zu früh?
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