Trotz der anhaltenden Proteste in Gaza, die seit Ende März 2018 jeden Freitag unter dem Banner des „Great Returnmarch“ stattfinden, erscheinen in der deutschen Mainstream-Presse darüber kaum Berichte.
Um die Welt auf das Elend der Bevölkerung Gazas und die völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens aufmerksam zu machen und an die Nakba zu erinnern, organisieren Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten seit fast einem Jahr große Protestmärsche.
Nakba ist das arabische Wort für Katastrophe und weist auf die Vertreibung der über 700.000 Palästinenser durch israelisches Militär im Jahre 1948 hin. Der „Great Returnmarch“ soll an das Rückkehrrecht der aus ihrer Heimat Vertriebenen erinnern, die damals nach Gaza flüchteten. Seit dem 30. März protestieren jeden Freitag viele BewohnerInnen Gazas gegen die Blockade, gegen die zunehmende grassierende Armut, gegen die unzureichende Stromversorgung und das menschenverachtende Verhalten der israelischen Soldaten und der israelischen Regierung.
Jeden Freitag werden Menschen verstümmelt, weil gezielt auf die Knie geschossen wird, was zu einer großen Anzahl von Amputationen führt, oft gibt es Tote. Allein am 25. Januar 2019 wurde ein 24-jähriger Palästinenser erschossen, 117 wurden verwundet, darunter 25 Kinder, 3 Frauen und 3 Sanitäter. Israelische Soldaten schießen nicht nur mit scharfer Munition, sondern auch mit Tränengaskanistern, die sie gezielt auf die Köpfe der Menschen richten, was teilweise schwere Verletzungen bewirkt. Bei allen Demonstrationen wird Tränengas versprüht, das große Atembeschwerden, wenn nicht Schlimmeres, hervorruft (1).
Seit dem Beginn der Demonstrationen in Gaza sind 235 Menschen von israelischen Scharfschützen getötet worden, darunter Journalisten und medizinisches Personal, alle als solche gekennzeichnet. Weit über 25.000 Palästinenser wurden verletzt. Selbst für eine deutsche Stadt wäre diese hohe Zahl von Verwundeten eine Überforderung, in Gaza aber ist diese Situation durch die weitgehende Zerstörung der Infrastruktur einschließlich Krankenhäusern im letzten Gaza-Krieg 2014, durch den Mangel an Medikamenten, Verbandszeug und dergleichen mehr einfach katastrophal.
Appell israelischer Prominenter: „Die Welt muss eingreifen“
Das Massaker am 14. Mai 2018, bei dem 60 Palästinenser und Palästinenserinnen getötet wurden, haben israelische Prominente, darunter Avraham Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency, zu einem dringenden Appell veranlasst: „Die Welt muss eingreifen“. Dort heißt es:
„Wir, israelische Bürger, die wünschen, dass unser Land sicher und gerecht ist, sind entsetzt und erschrocken über das massive Töten unbewaffneter palästinensischer Demonstranten in Gaza. Keiner der Demonstranten stellte eine unmittelbare Gefahr für den Staat Israel oder seine Bürger dar. Die Tötung von 60 Demonstranten und die Tausenden weiterer Verwundeter erinnern an das Massaker von Sharpeville im Jahr 1960 in Südafrika. Die Welt handelte dann.
Wir appellieren an aufrichtige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, zu handeln. Wir fordern, dass diejenigen, die Schießbefehle erteilten, untersucht und vor Gericht gestellt werden. Die derzeitigen Mitglieder der israelischen Regierung sind für das kriminelle Vorgehen verantwortlich, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Die Welt muss eingreifen, um das laufende Töten zu stoppen“ (2).
Neben verbalen Verurteilungen einiger Regierungen hat dieser eindringliche Appell prominenter Israelis nichts bewirkt. Das Töten, weithin unbeachtet, geht weiter. Es gibt keinen weltweiten Protest, geschweige denn Sanktionen, die bei jedem anderen Land zu erwarten wären. Immerhin hat der UN-Menschenrechtsrat mehrheitlich für die Einsetzung einer Kommission gestimmt, die das Töten von Zivilisten im Gazastreifen untersuchen soll. Bei dieser Abstimmung im UN-Menschenrechtsrat hat sich Deutschland unrühmlich enthalten, während Belgien und Spanien für die Untersuchungskommission gestimmt haben. Der Bericht dieser Kommission wird im März im UN-Menschenrechtsrat vorgestellt.
Die Menschen in Gaza kämpfen nicht nur gegen die Blockade, sondern auch für Grundrechte, Freiheit und Würde. Die israelische Journalistin Amira Hass zitiert in einem ihrer Texte einen Freund in Gaza:
„Wir sind ein Volk ohne Ressourcen, und jetzt auch ohne eine Vision oder einen Plan, am absoluten Tiefpunkt, was internationale Unterstützung und interne Organisation angeht. Aber wir gingen demonstrieren, um die Feierlichkeiten zum Umzug der Botschaft zu sprengen. (…) Wir gehen protestieren, um nicht lautlos zu sterben, weil wir es satt haben, still und leise in unseren Häusern zu sterben“ (3).
Der Gazastreifen mit fast 2 Millionen Einwohnern ist seit 2007 völkerrechtswidrig mit einer Blockade belegt, das heißt, die beiden Grenzübergänge Erez nach Israel und Rafah nach Ägypten sind meistens geschlossen, so dass weder Waren noch Menschen hinein- noch hinauskommen, oder erst nach langer Wartezeit, die monatelang dauern kann.
Dr. Abed Shokry, ein Ingenieur, der in Leipzig studiert hat und für eine Vortragsreise im Januar nach Deutschland kommen wollte, hat trotz Einreisevisums keine Erlaubnis von den israelischen Behörden erhalten, Gaza zu verlassen. Er verfasst regelmäßig Rundbriefe und berichtet von dem alltäglichen Leben in Gaza.
Im Oktober 2018 schrieb er:
„Nach langer Zeit wollte ich unseren Kindern etwas Süßes mitbringen. Als ich das Geschäft betrat, war ich überrascht, denn das Geschäft, das eigentlich immer sehr voll war, fand ich fast leer. Es ging und geht vielen kleinen Geschäften und Familienbetrieben leider ähnlich. Es gibt kein Geld. Eigentlich stehen wir nicht am Rande des Zusammenbruches, sondern befinden uns schon im Abgrund selbst, denke ich manchmal.
Die Gehwege sind nun zu Geschäften geworden, denn die Geschäftsinhaber können sich die Mieten nicht mehr leisten und so kündigen sie die Mietverträge und stellen ihre Ware auf den Gehweg. Und sie verkaufen billiger. Die Preise für viele Produkte, die in Gaza hergestellt werden, sind gesunken, da die Menschen kaum Geld haben. Über eine Viertelmillion junge Menschen mit Universitätsabschluss sind in Gaza auf Arbeitssuche. Hinzu kommen die, die keinen Universitätsabschluss haben. Vor drei Tagen las ich die folgende Meldung:
Eine berühmte Bäckerei in Gaza, veröffentlichte auf ihrer Facebook Website, dass ‚3000 Menschen sich um eine Stelle als Bäcker, innerhalb von nur 24 Stunden beworben haben‘. Ihr Alter lag zwischen 18 und 49 Jahre. 60 Personen hatten einen Bachelorabschluss und einer einen Master. Unter diesen katastrophalen Lebensbedingungen ist es kein Wunder, dass jeder und jede froh ist, wenn er oder sie überhaupt etwas Geld verdienen kann.“
Diese Zeilen illustrieren das ganze Elend im Gazastreifen.
Gaza 2020 unbewohnbar
Die drei Gazakriege 2008/9, 2012 und 2014 haben den Küstenstreifen mit seinen 365 Quadratkilometern — so groß wie Bremen — fast unbewohnbar gemacht. Laut einer bereits 2015 veröffentlichen UN-Studie wird Gaza im Jahr 2020, also im nächsten Jahr, nicht mehr bewohnbar sein (4). Was dann sein wird, mag man sich kaum ausdenken.
Während des Krieges 2014 warf die israelische Armee Hunderte von Bomben gefüllt mit über 20.000 Tonnen von Chemikalien ab, die Grundwasser und Böden weitgehend verseuchten und Krankheiten hervorriefen, deren Symptome bislang nicht bekannt waren.
Durch die Zerstörung der Abwasseranlagen gelangt ungeklärtes Wasser ins Meer, darum ist auch das Baden gesundheitsgefährdend. 2017 musste Israel erstmalig zwei Strände aufgrund von Umweltverschmutzung sperren, denn durch die Meeresströmung gelangt verseuchtes Wasser auch nach Israel.
Verseucht werden auch die Fischbestände, eine der wichtigsten Einkommensquellen im Gazastreifen, die ein ernstes Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung darstellen. Die palästinensischen Fischer können nur sehr eingeschränkt agieren, da sie nur innerhalb von 9 Seemeilen aufs Meer hinaus fahren dürfen — damit sind 85 Prozent der Meeresgebiete, die in den Osloer Abkommen den Palästinensern zugesagt worden waren, für die palästinensische Bevölkerung nicht zugänglich. Bei „Zuwiderhandlungen“ werden sie von der israelischen Armee beschossen, tausende Fischer sind quasi arbeitslos und können sich und ihre Familien kaum ernähren. Parallel dazu wird den Palästinensern der Zugang zu 17 Prozent des Gazastreifens verwehrt, da die israelische Regierung diese Gebiete zu „Pufferzonen“ erklärt hat.
UN-Warnung vor humanitärer Katastrophe — Krankenhäuser haben keinen Strom
Im Dezember 2018 hat die UN-Organisation für Humanitäre Angelegenheiten OCHA vor einer noch nie dagewesenen humanitären Krise in Gaza gewarnt, die durch die massive Gewaltanwendung bei den im März begonnenen Demonstrationen noch verschlimmert wird (5).
Der Verband der palästinensischen Gewerkschaften wies kürzlich darauf hin, dass die Armutsrate inzwischen bei 80 Prozent liegt und die Arbeitslosigkeit auf noch nie dagewesene 54,9 Prozent gestiegen sei. Der Verband macht die israelische Besatzung verantwortlich für die massive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Gaza (6).
Die Situation in Gaza wird noch verschärft, weil einerseits Donald Trump die Zahlungen an das Flüchtlingshilfswerk der UNO für die Palästinenser UNRWA, das fast zwei Drittel der Bevölkerung mit Nahrung, Bildung und medizinischen Leistungen versorgt, drastisch zusammen gestrichen hat und andererseits, weil auch die palästinensische Autonomiebehörde die Zahlungen an die Hamas-Regierung in Gaza um 30 Millionen US-Dollar gekürzt hat.
Um einen völligen Zusammenbruch Gazas zu verhindern und um auch die Hamas zu unterstützen, hat Katar ein Hilfspaket von 90 Millionen US-Dollar für Gaza bereitgestellt, was allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Allein der Bedarf für die Reparaturen der Schäden, die der letzte Gaza-Krieg 2014 verursacht hat, wird auf 1,7 Milliarden US-Dollar geschätzt.
In dem Finanzpaket sind 15 Millionen US-Dollar, gestreckt über sechs Monate, enthalten, die die Gehälter der 40.000 Beschäftigten im öffentlichen Sektor abdecken sollen. Kürzlich hat die israelische Regierung den Kataris den Transfer von Geldern nach Gaza verweigert, so dass die Angestellten derzeit kein Einkommen haben.
Neben der finanziellen Unterstützung lieferte Katar im Oktober 35.000 Liter Treibstoff, so dass die Bevölkerung bis zu 11 Stunden pro Tag mit Strom versorgt werden konnte. Es gab danach noch weitere Lieferungen, aber jetzt ist dieser Treibstoff aufgebraucht, so dass der Gesundheitsminister in Gaza Ende Januar vor einer humanitären Katastrophe warnte, da die Krankenhäuser kein Diesel mehr für ihre Generatoren hätten.
Laut der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Mezan sind durch den Strommangel 800 Nierenpatienten akut gefährdet, da die 128 Dialysegeräte ohne Elektrizität nicht funktionieren. „Um unser Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, brauchen wir monatlich 300.000 Liter Diesel“, betont ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Der Direktor des Kinderkrankenhauses Al-Rantisi, Dr. Mohammed Abu Salmiyyah, klagt: „Dies ist gegen alle internationalen Regeln und Gesetze“ (7).
Um das sich abzeichnende Desaster und das Sterben von kranken Kindern und Erwachsenen aufgrund von Strommangel (!) zu verhindern, müsste die internationale Gemeinschaft massiven Druck auf die israelische Regierung ausüben und die lebensnotwendigen Treibstofflieferungen nach Gaza fordern.
EU-Israel-Assoziierungsabkommen muss ausgesetzt, Menschenrechte durchgesetzt werden
Mit dem EU-Israel-Assoziierungsabkommen, das in Artikel 2 alle Vertragspartner zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet, haben die EU-Mitgliedsländer eine völkerrechtliche Verpflichtung in der Hand, dem „Sterben mit Ansage“ in Gaza Einhalt zu gebieten. Die Suspendierung dieses Abkommens ist lange fällig, aber jetzt ist es unabdingbar. Der Appell aus Israel „Die Welt muss eingreifen, um das laufende Töten zu stoppen“ ist jetzt dringender als je zuvor.
In diesem Zusammenhang soll auch noch einmal an die Entscheidung des Bundestags erinnert werden, der im Juni 2010 die Bundesregierung aufforderte, „die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen und darauf hinzuwirken, dass Israel die Positivliste von Gütern, deren Einfuhr möglich ist, in eine Negativliste verbotener Güter wie Waffen und waffenfähiges Material umwandelt“ (8).
Dieser einmütig von allen Parteien angenommene Antrag wird seit fast neun Jahren nicht beachtet.
Der Umgang mit Gaza führte im letzten November zu einer Regierungskrise in Israel. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman trat im November von seinem Amt zurück, weil er eine härtere Gangart gegen die in Gaza regierende Hamas wollte — mit anderen Worten: Er hätte Gaza gern mit militärischen Mitteln attackiert. Dem widersetzte sich Premierminister Netanjahu, die Koalitionsregierung zerbrach, darum sollen die Israelis im April an die Wahlurnen gehen. Das laufende Töten geht derweil weiter, doch die Welt tut — nichts.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das Palästinensische Menschenrechtszentrum in Gaza sammelt akribisch Informationen über alle Getöteten und Verwundeten unter http://www.pchrgaza.org
(2) https://www.tagesspiegel.de/politik/appell-israelischer-prominenter-nach-den-blutigen-protesten-in-gaza-die-welt-muss-eingreifen/22571212.html
(3) Nakba-Proteste, Gaza und die Folgen: https://www.medico.de/blog/gaza-und-die-folgen-17134/
(4) Unctad-Bericht von 2015, hier im engl. Original: http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/tdb62d3_en.pdf
(5) https://www.ochaopt.org/content/gaza-strip-early-warning-indicators-december-2018?fbclid=IwAR0RE685Dnrg6IJgV2ssibXRvgthaCuQJ_BkJcUyerugIWOcfyuqhC7tubw&fbclid=IwAR0RE685Dnrg6IJgV2ssibXRvgthaCuQJ_BkJcUyerugIWOcfyuqhC7tubw
(6) https://www.newsclick.in/fuel-shortage-due-israeli-military-blockade-puts-thousands-lives-risk-gaza
(7) https://www.middleeasteye.net/news/parents-children-gaza-hospital-plead-help-amid-fuel-shortage
(8) http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/023/1702328.pdf
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