„Ich bin nicht dieses kleine Mädchen, das sich im Keller versteckt“, sagt Golda Meir in dem Film „Golda“, der 2024 in die Kinos kommen wird. Ihre Stimme ist entschlossen. Die israelische Regierungschefin seit 1969 wollte sich nicht mehr verstecken und klein machen. Sie wollte ein wehrhaftes Israel repräsentieren, das sich im Jom-Kippur-Krieg 1973 gegen die Übermacht der arabischen Nachbarstaaten zu behaupten wusste. Es war ihr Kindheitstrauma und wurde zu ihrer Kraftquelle. Als Mädchen erlebte Golda in ihrer Heimat antijüdische Pogrome. Die gingen nicht von den Nazis aus, vielmehr wuchs Meir in Kiew auf dem Gebiet des zaristischen Russlands auf. Dennoch hat die Verteidigungsbereitschaft, die Israel nach der Staatsgründung 1948 auszeichnete, viel mit der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ zu tun.
Der legendäre Verteidigungsminister Mosche Dajan kämpfte mit den Alliierten gegen die Nazis, Menachem Begin, ebenfalls israelischer Ministerpräsident, war sogar der Sohn zweier im Holocaust ermordeter Eltern gewesen und musste selbst vor den Nazis aus Polen fliehen. Etliche bekannte Politiker der ersten Generation wie David Ben-Gurion, Shimon Perez und Jitzchak Rabin gehörten der Hagana an, der paramilitärischen jüdischen Untergrundorganisation gegen die britische Oberherrschaft von 1920 bis 1948. Die Hagana kann man je nach Perspektive als Befreiungsbewegung oder als terroristische Organisation ansehen. Zahlreiche, auch tödliche Bombenanschläge gingen auf ihr Konto.
Durch die Schuld deutscher Antisemiten und Mitläufer, aber auch aufgrund der Verfolgung unter anderem in Russland und einigen arabischen Ländern, kannten viele Juden in jener Epoche nur den Kampf um ihr persönliches und kollektives Überleben. Ein ruhiges privates Glück war ihnen in ihren ersten Lebensjahrzehnten nicht beschieden. Es ist berührend und stimmt zugleich traurig, sich mit diesen Biografien zu beschäftigen. Notwendigerweise haben diese harten Schicksale die betreffenden Politiker auch selbst bis zu einem gewissen Grad hart werden lassen. Ihre Überzeugung war, Juden dürften sich nie mehr wehrlos von ihren Feinden hinmorden lassen. Sie bauten erfolgreich den Staat Israel auf, der sich in mehreren Kriegen („Sechs-Tage-Krieg“ und „Jom-Kippur-Krieg“) tatsächlich als sehr wehrhaft erwiesen.
Das Gewalt-Virus
Die Gewalt pflanzte sich auf verhängnisvolle Weise fort. In den Jahren 1947 und 1948 übten jüdische Milizen im „Heiligen Land“ nun auch Gewalt gegen palästinensische Zivilisten aus. Die „Nakba“, die teils gewaltsame Vertreibung von über 700.000 Palästinensern im Zuge der Gründung des Staates Israel, wurde zu einem Trauma für die Opfer und deren Nachkommen, mit Folgen bis hinein in die Gegenwart. Für die Rolle Deutschlands gilt es, festzuhalten:
Ohne den Hintergrund der Verbrechen der Nazis wäre es wahrscheinlich nicht über Jahrzehnte zu Gewalt und Unterdrückung von Palästinensern durch den Staat Israel gekommen, wäre den Menschen wohl auch die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt erspart geblieben, die sich nun seit Jahrzehnten dreht.
Auch wenn Opfererfahrungen keine Rechtfertigung für selbst verübte Verbrechen an unschuldigen Dritten ist und auch wenn ich die Existenz eines freien Willens nicht leugne, muss diese Dynamik zunächst als Fakt akzeptiert werden.
Obwohl es schon vor 1948 jüdische Zuwanderung und erhebliche Spannung zwischen den Neulingen und der arabischen Urbevölkerung gegeben hat, hat das Holocaust-Trauma das Geschehen im Nahen Osten doch in dreierlei Hinsicht beeinflusst. Erstens stieg die Anzahl jüdischer Siedler im Heiligen Land mit dem Einsetzen der Verfolgung in Deutschland rasant an. Zweitens erschien infolge dessen eine besondere Dringlichkeit der Gründung eines Staates Israel geboten – als Schutzraum für die zuvor millionenfach verfolgten und hingemordeten Juden. Und drittens führte die Traumatisierung vieler Nazi-Opfer und Holocaust-Überlebender zu psychischen Bewältigungsstrategien, die nicht alle geeignet waren, um ein friedliches Zusammenleben zwischen Vertretern der beiden Religionen zu gewährleisten.
Die Journalistin und Friedensaktivistin Christa Dregger führte mit Freunden bei einem Besuch in Israel 2005 ein Theaterstück mit dem Namen „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ auf. Sie erzählt: Da „stand ein Mann wütend auf und brüllte dazwischen. Unser Übersetzer fasste es so zusammen: ‚Ihr Deutschen seid doch schuld an allem. Ohne den Holocaust würden die Israelis uns nie so unterdrücken.‘“ Das ist nicht gerecht gegenüber persönlich unschuldigen nachgeborenen Deutschen, es zeigt aber im Kern eine Wahrheit auf. Alain Gresh, Sachbuchautor mit ägyptischen und jüdischen Wurzeln, fasst es so zusammen: „Die Palästinenser bezahlten den Preis für ein Verbrechen, das sie nicht begangen haben und für das sie keinerlei Verantwortung tragen.”
Das quälend vertraute Deutschland
Leider ist mit dem neuen Gaza-Krieg nun die für die kollektive deutsche Psyche belastendste aller denkbaren Krisen nach oben gespült worden. Wie schon im Fall deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine, die Erinnerungen an den Überfall von Hitlers Wehrmacht auf Russland wachrufen, haben wir es auch hier mit einem Thema zu tun, das wir nicht einfach von unserer Seele weghalten können, das uns fordert und belastet. Wieder sind wir in diesem quälend vertrauten Deutschland angekommen, „das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird“, wie es Günter Grass in seinem umstrittenen Israel-Gedicht „Was gesagt werden muss“ schrieb. Wieder ist es geschehen, dass „es“ uns keine Ruhe lässt. Und das Tragische ist: Vermutlich hat gerade das, was jetzt wieder emphatisch verkündet wird – bedingungslose deutsche Solidarität mit Israel – mitgeholfen, die Situation herbeizuführen, die jetzt zu neuem Schrecken und neuen Gegenschlägen führt. Denn immer, wenn israelische Regierungen Menschenrechtsverletzungen an Palästinensern ausüben ließen, konnten sie sicher sein, dass ihnen ein Land dabei ganz gewiss nicht im Wege stehen würde: Deutschland.
Was ist das nur mit Deutschland? Die schwedische Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg setzte sich für die Menschen im Gaza ein; die deutsche Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer – bisher mit Thunberg ein Herz und eine Seele – verurteilte sie dafür scharf. Deutsche Gazetten schrieben von „Antisemitismus“ und einem „Skandal“, wollen die Umweltikone zusammen mit UN-Generalsekretär Guterres abgestraft und aus dem öffentlichen Raum verbannt wissen.
Das „Markenzeichen“ Mosche Dajans war seine schwarze Klappe auf dem linken Auge. Sie war das Ergebnis einer Kriegsverletzung, die sich Dajan 1941 zuzog, als er auf Seiten der Alliierten gegen Deutschland kämpfte. Leider ist Einäugigkeit auch ein Kennzeichen dafür geworden, wie die ganze Debatte geführt wird. Fast alle deutschen Politiker gefallen sich in Bekenntnissen von vollendeter Einseitigkeit. „Klar“, „unmissverständlich“ und „rückhaltlos“ müsse das Bekenntnis zu Israel sein.
Kräfte des Lichts und Kräfte der Finsternis
Die israelische Kommunikationsberaterin Melody Sucharevicz kritisierte in der Sendung „Maybrit Illner“ den Versuch, eine „verrückte Äquidistanz“ zwischen der Terrororganisation Hamas und dem Staat Israel zu halten. Meines Erachtens ist das ein Scheinargument, denn es geht nicht darum, die mathematische Mitte auf einer gedachten Linie zwischen beiden Kombattanten einzunehmen; es geht darum, beide Seiten zu sehen, wo es ganz offenbar zweierlei Perspektiven gibt. Erforderlich ist es nach Ansicht vieler aber, so nah bei Israel zu stehen, dass zwischen Deutsche und Israelis kein Blatt Papier passt, zwischen Deutsche und Palästinenser jedoch ein Ozean. Dies ärgert auch viele in Deutschland lebende Muslime.
Der israelische Präsident Jitzak Herzog sagte unlängst in einem Interview: „Wir kämpfen mit den Kräften des Lichts gegen die Kräfte der Finsternis.“ Ist Herzog einfach ein sehr schlichtes Gemüt, das eine mythische Weltsicht pflegt? Ich halte das für unwahrscheinlich. Seine Aussage ist bewusst platzierte, irreführende Propaganda.
Es gibt jedoch auch eine automatisierte Parteinahme für die Palästinenser in „linken“ wie auch in „alternativen“ Medien. Hier müssen wir aufpassen, dass wir nicht einfach die Klappe vom linken Auge auf das rechte ziehen, um dann zu verkünden: „Seht her: Wir sehen so viel mehr als der Mainstream!“
Keinesfalls darf im Zuge der Anteilnahme am Schicksal der Menschen im Gaza-Streifen Antisemitismus verharmlost oder wieder salonfähig gemacht werden. Es ist aber auch nicht hilfreich, einen solchen herbei zu fantasieren und als Waffe gegen jeden zu nutzen, der die eigene Agenda zu stören droht. Mangelndes Differenzierungsvermögen ist ja gerade die Krankheit, die half, das Übel des Antisemitismus zu erschaffen. Wie kann da mangelndes Differenzierungsvermögen zugleich das Heilmittel sein? Konkret gesagt: Die unsinnige Annahme, alle Juden handelten immer richtig, ist nicht die richtige Antwort auf den Hass, den diese Religionsgruppe in vielen Ländern leider immer wieder erlebt hat.
Das Schicksalsdreieck
Ich verstehe aber gut, wenn Juden die Berichterstattung über Israel und Palästina in Teilen der Presse als zu einseitig empfinden. Die Angst der Menschen vor Bomben aus Gaza, die Trauer über die Verluste lieber Menschen, die viele Israelis zu erleiden hatten, das Lebensgefühl, von einer erdrückenden Übermacht feindlich gesonnener arabischer Staaten umgeben zu sein – diese Aspekte werden teilweise auch in den linken und den „alternativen“ Medien zu wenig gesehen. Verständnis ist angebracht, wenn in Deutschland lebende Jude angesichts einer „Schwemme” israelkritischer Informationen unruhig werden und das Gefühl haben: „Jetzt geht es schon wieder gegen uns.” Wichtig ist es hier zu signalisieren: „Wir sehen auch eure Position, eure Bedenken und Ängste.”
Es gibt ganz offensichtlich ein konfliktträchtiges „Dreieck“ zwischen Deutschen, Juden und Arabern. Deutsche und Juden sind durch den Holocaust schicksalhaft aufeinander bezogen, wobei eindeutig ist, wer die Opfer und wer die Täter waren. Juden und Araber indes sind durch den Konflikt im „Heiligen Land“ kämpferisch ineinander verhakt. Wie um den Kreis zu schließen, erschuf die verstärkte Zuwanderung von Menschen aus arabischen Ländern nach Deutschland nun einen zusätzlichen Konfliktherd, denn die Sympathien der Einwanderer muslimischen Glaubens gehören weithin der palästinensischen Seite.
Nun wissen die Deutschen, die es immer allen recht machen wollen, gar nicht mehr, auf wessen Interessen sie Rücksicht nehmen sollen: auf die der Juden, aus Respekt vor den Opfern Nazideutschlands – oder auf die Wünsche arabischer Zuwanderer, denen zu folgen man geneigt ist, um sich nicht dem Verdacht des „Rassismus“ auszusetzen.
Statt „Partei zu ergreifen“ wäre es vorzuziehen, sich zu unteilbarer Menschlichkeit zu bekennen, unabhängig davon, welche Interessengruppen gerade an uns zerren. Wenn ein Berliner Ladenbesitzer, dessen Schaufenster mit einem Davidstern markiert wurde, um sein Leben bangen muss – sollte unsere Unterstützung dann nicht ihm gelten? Wenn andererseits eine palästinensische Frau beim Versuch, auf israelisches Staatsgebiet zu gelangen, von Grenzposten gedemütigt wird – sollte uns nicht dasselbe Gerechtigkeitsgefühl dazu veranlassen, uns auf ihre Seite zu stellen?
Deutschlands Dilemma
Die „deutsche Vergangenheit“ ist bei solchen Abwägungen mitunter nicht der beste Ratgeber, denn sie kann uns – je nach Betrachtungsweise – mehr auf die Seite der Juden oder auf die der Palästinenser ziehen. Wo Klarheit nicht möglich ist, weil Täter- und Opferidentität so unauflöslich miteinander verzahnt sind, ist es besser, wenn wir uns ehrlich unsere Ratlosigkeit eingestehen, unser mit Entsetzen und Traurigkeit gemischtes Nicht-weiter-Wissen. Das ist besser, als mit dem Furor der Einäugigkeit auf politisch Andersgläubige einzuhacken und vollkommenen Durchblick zu simulieren.
Das moderne Deutschland kämpft derzeit einen aussichtslosen Kampf auf zwei Fronten. Einmal gegen den Schatten des verbrecherischen Antisemitismus der Nazis und zum anderen gegen moderne „rechte“ Islamfeindlichkeit, die durch die größer werdende Anzahl der Muslime in Deutschland und die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft auf diese virulent geworden ist. Der Versuch der Rücksichtnahme auf Muslimen in Deutschland kann jedoch als Verrat am Ziel der Versöhnung mit den Juden wahrgenommen werden – und umgekehrt. Deutschland sieht sich, wie Raymond Unger anmerkte, als Nation von „Wiedergutmachern“. Die beiden wichtigsten Strategien der Wiedergutmachung – „Willkommenskultur“ und Kampf gegen Antisemitismus – scheinen einander aber in der jetzigen Situation zu widersprechen, was den deutschen Hang zu quälenden Debatten verstärkt.
All diese teilweise verkrampft wirkenden Bemühungen von Deutschen, das Richtige zu tun, haben einen humanen Kern. Niemand sollte niemanden diskriminieren, hassen oder gar ermorden.
Aber Deutsche wählen ihr Verhalten nie unbefangen und ohne Bezug zu „unserer problematischen Geschichte“. Damit machen sie mindestens zur Hälfte etwas falsch. Sie büßen sich permanent in neue Schuld hinein.
Leidtragende sind oft die Palästinenser, aber auch nachgeborene Deutsche, die in büßende Sippenhaft genommen, als „Freunde Israels“ bis hin zur Komplizenschaft bei Kriegsverbrechen rekrutiert werden oder als Mitglieder willkommenskultureller Empfangskomitees neue Antisemiten und mitunter Kriminelle ins Land winken. Speziell Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben, haben dann mit jenen Problemen zu kämpfen, die entstehen, wenn Wiedergutmacher so gut wie alles schlecht machen.
Schuldlos schuldig
Menschen meiner Altersstufe wurden schon von Geburt an der Chance beraubt, als Bewohner ihres Landes ein positives Selbstbild zu entwickeln. Wir wurden von Älteren darauf vorbereitet, als Deutsche im Ausland unwillkommen zu sein und mit Schuldvorwürfen konfrontiert zu werden. Wir waren und sind eine Gesellschaft von persönlich Unschuldigen, über denen ein Schatten von Schuld und Scham hängt. Dieser führt als Gegenreaktion zu angestrengten Versuchen der Schuldabwehr oder Schuldweitergabe. Eine besondere Fixierung auf negative Handlungen von Israelis kann ein Symptom dafür sein, dass nichtjüdische Deutsche hier eine „Retourkutsche“ geben wollen. „Warum sollten nur wir uns für unsere Nazivergangenheit schämen? Ihr habt doch auch…“ Ich halte den Verdacht, den die Chansonsängerin Sandra Kreisler stark zuspitzend geäußert hat, Nachkriegsdeutsche würden sich durch Kritik an Israel von einer gefühlten Kollektivschuld entlasten wollen, durchaus für bedenkenswert. Jeder Deutsche sollte sich da ehrlich selbst prüfen.
Aber gibt es so etwas wie Kollektivschuld überhaupt? Der jüdische Psychotherapeut und KZ-Überlebende Viktor Frankl glaubte: nein. Er schrieb: „Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht (…). Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein – die Schuld an etwas, das ich selbst getan habe oder vielleicht zu tun unterlassen habe!“ Viele sagen in diesem Zusammenhang: Wir nachgeborenen Deutschen haben keine Schuld, aber eine Verantwortung dafür, dass nie mehr annähernd Vergleichbares geschieht. Wir haben die Pflicht, zu prüfen, ob in uns nicht zumindest das Potenzial zum Mitläufertum existiert. Die Reaktion der Mehrheitsbevölkerung auf den unter dem Stichwort „Corona“ bekannten Generalangriff auf unsere Grundrechte hat gezeigt, wie berechtigt solche Mahnungen sind. Allerdings sind nicht nur Deutsche zu Verantwortungsbewusstsein und ehrlicher Selbstprüfung aufgerufen. Redewendungen der Art „Gerade wir Deutschen…“ möchten gern edel und selbstkritisch wirken, sind aber im Grunde auch sehr eitel.
Sicher ist: Wir bekämpfen Diskriminierung – etwa Antisemitismus – nicht wirksam durch Selbst-Diskriminierung, also nicht, indem wir zu „Antideutschen“ werden, die sich selbst grundsätzlich für moralisch minderbemittelt und gefährlich halten. Darin könnte auch eine krankhafte Lust am Vorgang des Diskriminierens liegen, die sich, da es gesellschaftlich verpönt ist, Fremde pauschal abzuwerten, nun nach innen entlädt: in Form eines geradezu manisch zelebrierten, permanenten Selbst-Bashings. Letztlich beinhaltet die Kollektivschuldthese ja die Vorstellung einer vererbbaren Minderwertigkeit, ist also selbst diskriminierend und erinnert an schlimme Erscheinungsformen des Rassismus in der Geschichte. In verschiedener Gestalt manifestiert sich nun in Deutschland der verdrängte Schatten.
Deutsche wollen zeigen, dass sie gegen rechts sind, indem sie die Taten der israelischen Rechten verharmlosen. Sie halten sich für umso bessere Antifaschisten, je mehr Unschuldige sie als Antisemiten brandmarken. Sie bekämpfen den Hass am liebsten durch Selbsthass.
Die einzig legitime Lehre aus dem Holocaust
Der israelische Historiker Tom Segev benennt zwei gegensätzlich Lehren, die man aus dem furchtbaren Verbrechen des Holocaust ziehen kann: „Erstens: Niemand hat das Recht, die Israelis an moralische Imperative wie die Achtung der Menschrechte zu erinnern, da die Juden zu sehr gelitten haben und die Regierungen anderer Staaten sich unfähig zeigen, ihnen zur Hilfe zu kommen. Zweitens: Der Völkermord an den Juden mahnt einen jeden, die Demokratie zu bewahren, Rassismus zu bekämpfen und die Menschenrechte zu verteidigen.” (1) Mit Sicherheit ist die zweite Lösung, die „universelle”, vorzuziehen, sie ist menschlicher und weist eher in eine gewaltfreie Zukunft.
Die jüdische Publizistin Deborah Feldmann sorgte Ende Oktober 2023 bei Markus Lanz mit einer sehr besonnen vorgebrachten und zugleich bewegenden Rede für eine Sternstunde. „Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine einzige legitime Lehre des Holocaust gibt. Und das ist: die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle. Wer den Holocaust instrumentalisieren will, um weitere Gewalt zu rechtfertigen, hat seine eigene Menschlichkeit verwirkt. (…) Wenn diese Eskalation der Gewalt nicht jetzt zu beenden ist, erleben wir möglicherweise eine dramatische, gefährliche Änderung in der Welt und in unserer Gesellschaft, die wir vielleicht nicht mehr in den Griff kriegen.“
Man sieht an diesem Beispiel: Selbst im Fall, dass wir meinen, als Deutsche verpflichtet zu sein, uns die Perspektive von Juden zu eigen zu machen, muss die Frage gestellt werden: Von welchen Juden genau sprechen wir? Ein Offener Brief jüdischer Intellektueller, der in der taz veröffentlicht wurde, klingt zum Beispiel ganz anders als der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich selbst als „faschistischer Schwulenhasser“ bezeichnete.
Alle Israelis?
Es kann aber nicht angehen, sich als souveräner Staat auf Gedeih und Verderb an ein anderes Land zu ketten – und zwar zeitlich unbegrenzt und unabhängig vom konkreten Verhalten dieses anderen Landes. Ein solches Treueverhältnis ist nicht nur grundsätzlich unangebracht, es wird auch durch die sehr durchwachsene Menschenrechtsbilanz Israels seit 1948 nicht unterstützt. Die innenpolitische Entwicklung in Israel gibt Anlass zu der Sorge, dass sich in dem Land ein militaristischer, autoritärer Überwachungsstaat mit reduzierten demokratischen Kontrollinstanzen enwickelt – einschließlich leider der fortgesetzten Diskriminierung einer Minderheit. Die richtige Art und Weise, die Verbrechen der deutschen Vergangenheit „aufzuarbeiten“, besteht nicht darin, zu Verbrechen der Gegenwart zu schweigen – mögen diese auch von vergleichsweise kleinerem Format sein. Wir laden so beim Versuch der Selbstbefreiung von Schuld nur neue Schuld auf uns – durch Duldung und Mittäterschaft.
„In diesen Tagen sind wir alle Israelis“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock bei einem Treffen mit ihrem israelischen Kollegen Eli Cohen in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen. Damit fühle ich mich eher überfordert. War ich als Deutscher nicht schon Papst, Exportweltmeister, Charlie Hebdo, Ukrainer und vieles mehr? Natürlich begreift man den Sinn dieser Emphase: Solidarität und Mitgefühl sollen damit angeregt werden. Baerbocks Aussage impliziert aber noch etwas anderes.
Könnten wir Deutschen wirklich Israelis sein – quasi aus unserer Haut schlüpfen und in deren hinein –, so wären wir endlich schuldbefreit, Opfer, nicht mehr Täter. Eine für viele Deutsche vielleicht verführerische Rollentauschfantasie.
Hilfreich ist eine solche Überidentifikation aber nicht.
Die falsche Schlussfolgerung
„Was ist Ihre verhältnismäßige Reaktion auf die Tötung von Babys, die Vergewaltigung und Verbrennung von Frauen und die Enthauptung eines Kindes?“ hielt der israelische Außenminister Eli Cohen UN-Generalsekretär António Guterres entgegen, nachdem dieser behauptet hatte, die Angriffe der Hamas hätten „nicht im luftleeren Raum“ stattgefunden. In der Tat sind es gerade die grausamen Details des von der Hamas verübten Massakers vom 7. Oktober 2023, die bei vielen entweder Sprachlosigkeit hinterlassen oder starke Emotionen hervorrufen. Wie reagiert man auf „so etwas“? Vielleicht sollte man umgekehrt fragen: Wie darf man auf keinen Fall darauf reagieren? Meine Antwort ist: indem man seinerseits Kinder tötet und verstümmelt – oder auch Frauen und Männer. Doch genau das tut Israel gerade.
Jedes Menschenleben ist von unschätzbarem Wert, jeder gewaltsame Tod einer zu viel. Dennoch sprechen die Zahlen gerade eine deutliche Sprache: 1.400 getöteten Israelis standen schon Anfang November 9.400 getötete Palästinenser gegenüber. Diese Zahl dürfte sich noch deutlich erhöhen. Grauenhafter Massenmord auf beiden Seiten. Was genau gibt hier Anlass für eine völlig eindeutige, bedingungslose Parteinahme? Und wenn eine solche schon notwendig erscheint – warum stellt man sich dann ausgerechnet auf jene Seite, die mehr Morde auf dem Gewissen hat? Es ist unfair, wenn bei Taten der Hamas das Forschen nach dem historischen Kontext durch öffentlichen Entrüstungsdruck delegitimiert werden soll, während umgekehrt die israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen ausschließlich aus dem Kontext erklärt und gerechtfertigt wird – im Sinne der unterkomplexen Maxime „Die anderen haben angefangen!“
Israel und die Weltöffentlichkeit sind zu Recht entsetzt über die Brutalität der Anschläge der Hamas auf Unschuldige. Als Resultat dieser traumatischen Erfahrung reagiert die israelische Regierung jedoch nun, indem sie eine noch größere Zahl von Unschuldigen töten lässt. Als wolle sie die moralische Überlegenheit, die sie seit dem 7. Oktober nach 75 Jahren abwechselnd verübter Gewalttaten für einen kurzen historischen Moment innehatte, möglichst bald wieder verspielen, indem sie sich genauso schlimm verhält wie die, die sie zu Recht verurteilt.
Aus Abscheu vor Tötungsvorgängen selbst in noch größerem Umfang töten zu wollen – diese Logik verstehe, wer wolle. Deutsche Politiker mögen dieses Vorgehen aus politischem Kalkül unterstützen. Man nenne das dann aber bitte nicht Respekt vor den Lehren der Geschichte, zu denen „gerade wir Deutschen“ verpflichtet seien.
Wenn du Frieden willst…
„Wenn du Frieden willst, redest du nicht mit deinen Freunden. Du redest mit deinen Feinden.“ So sagte es Mosche Dajan in einem lichten Moment. Das „Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden“, das laut Robert Habeck durch die Gründung des Staates Israel zum Ausdruck kam, kann unter solchen Umständen weder von Deutschland noch vom israelischen Staat selbst eingelöst werden. Mit jeder „Sicherheits“- oder Rachemaßnahme wird die Lage für Juden in Israel, aber auch anderswo, unsicherer. Entscheidend ist hierbei die Frage nach den möglichen Folgen dieser Maßnahme für den Frieden, die Sicherheit und das Leben von Juden und Palästinensern in der Zukunft. Nehmen wir an, der jetzige israelische Eroberungsfeldzug wäre mit Bezug auf das vergangene Geschehen vollkommen gerechtfertigt – welche Zukunft hilft er zu kreieren? Sind nicht weitere auch unschuldige israelische Opfer vorprogrammiert?
Leider muss man befürchten, dass der Hass derer, die die Angriffe auf Gaza überleben oder ihnen als emotional Beteiligte aus der Ferne zusehen müssen, maßlos sein wird. Was wir in den Jahren vor 2023 an Gewaltexzessen erlebt haben, könnte nur ein matter Vorgeschmack auf das gewesen sein, was noch kommt. Als Deutsche diese Politik nibelungentreu zu unterstützen, ist alles andere, nur nicht verantwortungsbewusst „vor der Geschichte“. Denn selbst wenn man es bejaht, dass unsere besondere Fürsorge allen Juden zu gelten hätte, wäre doch zu konstatieren: Wir verhalten uns nicht solidarisch, indem wir eine selbstzerstörerische Politik durchwinken.
Wie sich deutsche Politiker jetzt zu den Angriffen auf Gaza verhalten, ist nicht „Staatsräson“, sondern teilweise Staatswahnsinn.
Wir haben es in der derzeitigen öffentlichen Debatte zum Thema mit einer Meinungstyrannei des Unterkomplexen zu tun. Differenzierung und die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, sind obsolet geworden. Gefordert ist die fahrlässige Einengung des eigenen mentalen Spielraums – quasi geistige Selbstverstümmelung um des fragwürdigen Gewinns willen, Teil einer Geborgenheit spendenden Rechtgläubigkeitsgemeinschaft zu werden. Dabei eignet sich aber in Wahrheit kein Konflikt weniger für „eindeutige“ Bekenntnisse als gerade jener in Israel und Palästina. Kaum einer dauert schon so lange, kaum einer ist verwickelter und wendungsreicher, kaum einer emotional so aufgeladen durch Schuld und Gegenschuld.
Lizenz zum Vereinfachen
Manche, die eher der israelischen Rechten und ihren Unterstützern in der deutschen Politik nahestehen, sehen offenbar ein einzigartiges Gelegenheitsfenster, unbequemen Kritikern endlich den Mund zu verbieten, indem sie auf den ohnehin szeneüblichen Antisemitismusvorwurf noch den Vorwurf der Verhöhnung der Opfer des 7. Oktobers 2023 draufpacken. Sie glauben sich endlich im Besitz einer Lizenz zum Vereinfachen, wo einzig ein ehrliches Bemühen um einen möglichst großen Blickwinkel helfen könnte.
Wir Deutschen stehen als weinende Dritte neben diesem grausamen Konflikt, können kaum wirklich helfen und wagen es aus eigener Schuldverstrickung heraus doch nicht, den Blick abzuwenden. Dabei verlangt niemand, dass wir mit allen Aspekten deutscher Geschichte „im Reinen“ sind. Die Taten Nazideutschlands waren entsetzlich und dürfen nicht vergessen werden. Die Nachkriegsdeutschen allerdings sind daran nicht schuld, die meisten haben – abgesehen von üblicher menschlicher Fehleranfälligkeit – nichts Schlimmes getan. Wir sollten aufhören, das ererbte Unbehagen in unserer Seele betäuben zu wollen durch die Aneignung fremder Schuld. Wir täten nicht nur uns selbst damit einen Gefallen, sondern auch unseren Mitmenschen, denn wir wären angenehmere, frohere Zeitgenossen, nicht mehr so leicht von der Politik manipulierbar, nicht mehr unter dem ständigen Drang stehend, Schuld weiterzureichen wie eine zu heiße Kartoffel.
Wann endlich lernen wir, uns zu verzeihen, dass wir unschuldig sind?
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Alain Gresh: Israel – Palästina, Unionsverlag