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Der Traum dachte, er sei ein Pferd

Der Traum dachte, er sei ein Pferd

Markus Jöhring erzählt über Tod und Verlust in einer Gesellschaft ohne Raum für Trauer.

1. Ankunft

Die Melodie des Telefons legt sich wie eine Schlinge um meinen Hals, zieht mich aus dem Bett, schleift mich durch den Flur.
„Ihre Mutter ist tot. Kommen Sie bitte. Ich kann nicht warten.“

Die Jeans. Das zerknitterte Leinenhemd vom Vortag. Ein Schluck Leitungswasser. Landstraße oder Autobahn? Landstraße. Zeit gewinnen. Den Wald mitnehmen. Angst aus dem offenen Fenster werfen. 50. 70. 100. Ich schlucke aufkommende Schreie und suche im Rückspiegel nach anderen Sprachlosen, die mit ihren Blicken einem Baum folgen, ihn verlieren, um sogleich den nächsten zu erfassen und dabei ihre Köpfe unablässig zu einem Nein drehen. Entdecke niemanden. Leere Sitze. 100. 70. 50. Ortseinfahrt nach Unterführung. Kalter Hals.

Aufgereihte Verbrenner hinterm Straßenrand. Verbraucher schleichen unablässig um Boliden, wie Raubtiere um ihre Beute. Grenzenlose Kraft für kraftlose Silberköpfe. DIN A4-Schilder hinter Windschutzscheiben. Analoge Auspreisungen. QR-Codes für mehr. Zwei, drei grüne Ampeln. Ungewöhnlich: freie Zebras im Kreisverkehr. Schließlich: Ankunft in der Sackgasse.

„Wer sind Sie?“, will eine Polizistin wissen. Ich schaue auf den zugedeckten Leichnam im Wohnzimmer. Es ist jetzt ganz allein ihr Zimmer. Ein letzter Schutzraum, ohne alltägliche Bewegungen zu betreten — so meine Anordnung an mich selbst. Der Vater in der Küche, fest verankert an seinem Platz. Der Bruder weint. Der Seelsorger — ein Automat — ist froh, als ich ihn entlasse. Kein zweites Mal am Leichnam vorbei. Besser über die Terrassentür. Fluchtweg — trotz fehlender Kennzeichnung — erkannt. Im Garten eine Sammlung von Geflüchteten. Überwiegend stehend, den Rasen betrachtend.

2. Farben

Blumen. Von einer Wand bis zur anderen. Sie verteilt Blumen. Auf dem Teppich. Auf dem kalten Laminat. In meiner ganzen Wohnung. In ihrem Schutzraum hatten wir eine kleine Blumeninsel gelegt und am Abend — wie vor einem Lagerfeuer — still in die Farben geschaut. Und nun, Tage später, in meinem Wachtraum ihre reiche Geste. Alle Farben. Kein RGB. Kein CMYK. Ein neuer Farbraum, der mir zu Füßen liegt.

3. Speicherkapazität

„Ich bin seit Tagen allein.“

„Nein, bist du nicht.“

„Nein?“

„Heute morgen war der Pflegedienst bei dir.“

„Ich bin seit Tagen allein.“

„Dann kam Heike und hat mit dir eingekauft.“

„Davon weiß ich nichts.“

„Um 11.30 Uhr dann Essen auf Rädern.“

„ ... seit Tagen allein.“

„Petra hat dann später mit dir Kuchen gegessen, und dann kam wieder der Pflegedienst, und gestern habe ich den Rasen gemäht.“

„Allein ... wer sind Sie überhaupt?“

„Ich bin dein Sohn.“

„Ach? Ich bin seit Tagen allein. Wussten Sie das?“

4. Freiflug

Die Landschaft: zerklüftet. Hinter Wäschebergen: ungeöffnete Briefe. Decken in den Fenstern — verhängte Wolkenbilder. Zick-Zack-Schleichwege durch leere Blisterverpackungen, Papiertaschentücher in praktischen Spenderboxen, extragroß, und drei, vier Feuerzeuge, Socken, eine leere Dose Red Bull. Ganz unten der Gestürzte. Rettungsseile unters Bett gekehrt. Bruderschaft gescheitert. Ich räume einen Stuhl von Trümmern frei, atme verbrauchten THC-Rauch ein und warte auf erste Worte.

„Ich darf mich töten, noch in diesem Jahr.“

Freiflug ins Sternenreich. Geplant. Gebucht. Genehmigt. Fluglinie: DGHS.
Die zweite Urne. Dann die dritte Urne — ein Jahr später. Bestattungsroutine.

„Ich kann nicht so schnell trauern, wie ihr sterbt.“

5. Ausfahrt

Mit den Füßen voran lege ich mich auf das Fließband. Ich lege mich auf das Fließband. Ich lege mich auf das Fließband, gleich nach dem eingeschweißten Brokkoli.

„Sie haben vergessen, sich zu wiegen“, kommentiert die Kassiererin mein horizontales Erscheinen.

Damit es weitergeht, bezahlt mich ein alter Freund, der es nicht mehr sein will. Von hinten wird geschoben. Starr falle ich in eine große Papiertüte. Mit dem Kassenbon auf meinem Kopf, krümmend um mein Herz, lese ich neue Kommentare.

Wenn ich mich bewege, knistert das raue Papier, erinnert mich die Tüte daran, sie nicht von innen heraus zu formen. Ich will nicht ihre äußere Form, ihre Identität verändern, brauche aber etwas mehr Platz, als die Tüte hergibt. Ich erinnere sie an ihre Funktion. Sie gibt nach, unterlässt jedoch nicht das Knistern.

6. Energie

Alle Apps signalisieren: Akku leer. Tesla. E-Bike. Mährobotor. Zahnbürste. Und dann auf dem Fluchtweg im klappernden Einkaufswagen: kein Empfang trotz Strahlenmast auf Nachbardach.

„Wer schiebt da? Wer schnauft und flucht? Wer hebt mich über Bordsteinkanten?“

Ich wage keinen Blick, fasse nach meinen Schuhen und schlafe im dunklen Kofferraum endlich ein. Der erste Traum denkt, er sei ein Pferd. Ohne Pause reiten wir, an Bäumen vorbei, unter denen Urnen liegen, bis ich denke, ich selbst bin das Pferd, die Kraft. Jedoch: Eine Idee wartet noch. Ich bin froh, einen Winnetou-Traum zu träumen und keinen Pippi-Langstrumpf-Traum.

Etwas später: Kartoffelschalen prasseln auf mich ein, wecken mich. Gönne mir zwei, drei Melatonin-Sprühstöße. Schmollend schlafe ich wieder ein. Der zweite Traum ist ein Bio-Traum.

7. Feuer

Die Wärme: angenehm. Der Geruch: unerträglich, vertreibend. Bioabfälle um mich herum verwandeln sich. Ich bleibe versteckt. Handcreme gegen Risse. Auf meinem Gesicht verteilt und überall, wo ich hinkomm’. Pause in der Transformation. Dann zischende Geräusche außerhalb der Tüte. Getuschel. Getratsche. Spitze Zungen. Mutmaßungen. Unterstellungen. Herablassungen. Spracherkennung deaktiviert. Das Papier redet mit, knistert auch ohne meine Tritte, wird heiß, fängt Feuer, gibt mich mit allen verkrusteten Familienfesten wieder frei. Ich weine wie ein Neugeborenes, huste und suche nach dem noch nicht eingelösten Flaschenpfandbon.

8. Auferstehung

„Sie müssen Ihre Ware auf das Band legen.“

Hinter ihr, auf dem Regal: Blumen. Dahinter die automatische Glastür.

„Sie lässt jeden rein,“ protestiere ich.

„Sie müssen Ihre Ware auf das Band legen. Die Papiertüte haben Sie ja schon hingelegt?

„Es war sehr heiß in der Tüte.“

„Ihre Tüte liegt auf dem Band, und nun müssen Sie ihre Ware ...“

„Sie sind nicht feuerfest, Ihre Papiertüten.“

Von hinten Gelächter. Ein Frauenduft und ungebremster Einkaufswagen.

„Ich warne Sie alle. Diese Tüten sind zu klein. Das Leben ist zu klein.“

Zahlung per Karte. Konzentration auf das optimale Befüllen der Tüte. Nach der Glastür: Regenduft. Tropfenmuster auf braunem Papier. Zuverlässig bis Küchentisch. Zuverlässig bis entleerte Heimat. Das Telefon auf stumm geschaltet. Blinkende Ladestationen warten auf meine Kontrollen. Ich lecke Strichcodes ungeöffneter Verpackungen, suche Identität. Ich wasche von Hand hastig alte Fotoalben, bürste jedes Foto. Jedes.

Das Rascheln und Knistern kehrt zurück. Unerwarteter Besuch oder ein Flashback?

„Schrecklich“, rufe ich meiner betrunkenen Vermieterin, die unablässig durch den schmalen Schlitz des gekippten Fensters alte Zeitungen, Rechnungen, Werbeprospekte und Klopapierrollen in meine Wohnung schiebt, entgegen. „Können Sie nicht schellen, Sie Reptil?“

„Sie können bestimmt etwas damit anfangen, Sie haben immer so Ideen.“

Montiere die leere, noch feuchte Papiertüte in Höhe des Fensters — für den nächsten Einwurf. Praktisch weiterleben. Kontakte pflegen. Reden ohne Trauer.


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Quellen und Anmerkungen:

Bei der 37. Recklinghäuser Literaturnacht wurde diese Kurzgeschichte im Rahmen der Literatur-Eule 2024 mit dem 2. Platz honoriert.

Der Text und die weiteren Beiträge sind als Buch zu beziehen:
37. Recklinghäuser Literaturnacht 2024, Neue Literarische Gesellschaft Recklinghausen (Hrsg.), BoD, ISBN 978-3-7583-4006-2

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