„Ein unnütz‘ Leben ist ein früher Tod“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe, und fragte: „Ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft?“ „Nur vom Nutzen wird die Welt regiert“, schrieb sein Zeitgenosse Friedrich Schiller. „Cui bono — wem nützt es?“, fragte der römische Dichter Cicero. „Überall immer nach dem Nutzen zu fragen, ziemt sich am wenigsten für hochsinnige und freie Männer“, meinte Aristoteles.
Zum aktuellen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte wird von unnützen Essern und von gefährlichen Ausatmern geredet. Gemeinhin hat sich der Gedanke festgesetzt, wir seien zu viele auf dem Planeten, hätten ohnehin nur Unheil angerichtet und täten gut daran, so schnell wie möglich wieder von der Erdoberfläche zu verschwinden. Unser Nützlichkeitsdenken hat uns schließlich dahin geführt, nicht nur die Natur und alles Lebendige in die Kategorien „brauchbar“ und „unbrauchbar“ einzuteilen, sondern auch uns selbst auszusortieren.
Wir müssen uns, wie es in der französischen Sprache heißt, unser Leben erst verdienen, um sozusagen ein Anrecht auf einen Platz, wenn schon nicht in der Sonne, so doch zumindest in einer bescheidenen Wohnbox zu erwerben.
Um mit dabei sein zu dürfen, müssen wir uns nützlich machen. Der gilt als Schmarotzer, der aus der Kasse herausnimmt, ohne genug einbezahlt zu haben, und der als nützlich, der sich von anderen ausnutzen lässt. Wir erlauben uns selbst nicht, einfach nur da zu sein, am Leben, ohne dass jemand von uns profitiert.
Wertverlust
Dem Begriff „nutzlos“ hängen überwiegend negative Konnotationen an: schädlich, unnötig, sinnlos, überflüssig, bedeutungslos, minderwertig. Das hat niemand Lust zu sein. Also strengen wir uns an, uns möglichst nützlich zu machen. Während andere herumlungern — vor allem die aus den südlicheren Ländern —, möchte man selbst als fleißig, arbeitsam und zuverlässig dastehen. Tief hat sich in die deutsche Mentalität eingeprägt, es anderen zeigen zu wollen.
Lange waren wir Vorbild darin, für die Welt besonders nützlich zu sein. Doch das hat sich geändert. In den vergangenen Jahren hat Deutschland bedeutend an Einfluss verloren. Die Wirtschaft ist stark angeschlagen. Auch renommierte Traditionsfirmen geben auf. Nach 600 Jahren meldete das älteste sächsische Unternehmen Konkurs an. Revolutionen und Weltkriege hat es überstanden, doch nicht die deutsche Energiepolitik.
Drei Millionen Menschen sind in Deutschland als erwerbslos gemeldet, mehr als 3,7 Millionen sind unterbeschäftigt (1). Jeder fünfte ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Es gibt in Deutschland wieder Hunger. Haben nun die weniger Wert, die auf Hilfe angewiesen sind? Misst sich der Wert eines Menschen an dem, was er tut? Suchen wir uns deshalb alle möglichen Tätigkeiten herbei, so als gäben sie uns eine Rechtfertigung, hier sein zu dürfen? Sind unsere To-do-Listen letztlich auch nur dazu da, unserer Existenz einen Wert zu geben?
Leben, das leben will
Müssen wir zu etwas „nütze“ sein? Bedienen wir nicht immer wieder ein ausbeuterisches und lebensverachtendes System, indem wir uns darauf ausrichten, was etwas „bringt“? Haben wir mit dieser Haltung nicht eine Welt erschaffen, in der der Zweck alle Mittel heiligt, wenn er dazu dient, den Gesamtnutzen zu maximieren? Ist es nicht auch diese Nutzethik, die dafür verantwortlich ist, dass wir versuchen, Frieden mit Krieg herbeizuführen?
Krieg und Macht, kriegen und machen — führt unser utilitaristisch ausgerichtetes Weltbild nicht in letzter Konsequenz dazu, dass wir uns in einem betriebsamen, unreflektierten und letztlich ziellosen Handeln immer mehr verlieren? Was machen wir da überhaupt? Ist es das, leben?
Für unsere Wissenschaft ist Leben ein Sammelbegriff für materielle Erscheinungen in der Natur, ein Energie- und Baustoffwechsel, die Fähigkeit zu Entwicklung und Reproduktion. Sie kann Leben beschreiben und auseinandernehmen. Doch sie kann nicht sagen, was es ist. Denn auch sie ist utilitaristisch orientiert. Geforscht wird an dem, was einmal einen Nutzen bringen soll und möglichst viel Profit verspricht. Hierfür muss die Forschung sich das Lebendige unterwerfen. Erfahren, was es eigentlich ist, das kann sie dadurch nicht.
Doch wir können es. Wir können das Leben spüren. Hierzu müssen wir stille sein, ganz in Ruhe, und nichts tun. Wir müssen zumindest einen Augenblick lang vollkommen unnütz sein, zu nichts zu gebrauchen. Beim Ein- und Ausatmen spüren wir, wie das Leben durch uns hindurchfließt. Nichts wollen, nichts müssen. Und letztlich das tun, was jedes andere Lebewesen von sich aus tut: einfach nur da sein. Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.
Präsenz statt Nutzen
Wer in die Stille taucht, der kann seinen Puls spüren. Er fühlt das Pochen und Vibrieren und wird gewahr, dass Stille nicht still ist und Leere nicht leer. Da bewegt sich etwas. Etwas zirkuliert. Unsichtbare Kräfte sind unterwegs, die nichts mit Ertrag, Gewinn oder Vorteil zu tun haben. Wer in die Stille kommt, innehält und einen Moment einmal nichts tut, der erfährt etwas, was zu einem seltenen Gut geworden ist: Entspannung. Wohlsein. Vertrauen.
Hier ist alles, was es ist. Nichts treibt uns an, einzugreifen. Es gibt nichts zu tun. Atmen, beobachten, was kommt, sich nicht damit identifizieren, ziehen lassen. Manche nennen es Meditation. Es ist eine innere Haltung, die uns in gewisser Weise gleichgültig macht. Alles ist gleich gültig. Was es auch ist. Diese Haltung hat nichts mit Härte oder Verschlossenheit zu tun. Sie ist die Voraussetzung dafür, sich nicht von den Ereignissen zermalmen zu lassen. Es ist, als positioniere man sich in der Mitte eines fahrenden Rades: Je weiter außen man ist, desto turbulenter wird es. Innen jedoch, in der Mitte, ist es ruhig.
Aus dieser Ruhe heraus können wir uns Gedanken darüber machen, ob wir die vielen To-do-Listen eigentlich brauchen. Brauchen wir es, uns fremd- oder selbstauszubeuten? Müssen wir uns nützlich machen? Meinen wir nicht, dass man uns auch wertschätzen kann, wenn wir einfach nur da sind? Vielleicht müssen wir gar nichts tun, um anerkannt zu werden. Vielleicht tut es anderen gut, einfach mit uns in Kontakt zu sein und unsere Ausstrahlung zu spüren. Vielleicht sind wir wertvoll, einfach nur, weil wir sind.
Man kann sich an uns lehnen wie an einen Baum, sich an uns wärmen und Orientierung an dem finden, was wir ausstrahlen. Braucht es mehr? Statt nützlich zu sein, können wir einfach da sein. Zuhören.
Ein offenes Ohr haben. Annehmen. Und das tun, was uns Freude macht, um es mit anderen zu teilen. Sich vom Nutzen zu lösen, bedeutet nicht, nicht mehr zu handeln, sondern sein Tun von Erwartungen und bestimmten Resultaten zu lösen. Es kommt sowieso meistens anders.
Vom Nutztier zum Genießer
Wofür bin ich gemacht? Das ist die leitende Frage. Was ist so richtig meins? Was mag ich wirklich? Was möchte ich aus vollem Herzen geben? Wer das tut, wer sich nicht mehr dem Nutzen unterwirft, der wird frei. Er lässt sich nicht mehr kontrollieren, denn er macht, was er will. Er lässt aus sich herausfließen, was er in die Welt geben möchte, und nimmt voller Dankbarkeit, was ihm gegeben wird. In einem ständig sich ausbalancierendem Gleichgewicht von Geben und Nehmen ist er kein Untertan mehr, keine Ressource, kein überflüssiger Esser, sondern ein Mensch in seiner Kraft.
Diese Kraft verwendet er nicht dazu, sie sich regelrecht absaugen zu lassen und Zwecken zu dienen, die dem Lebendigen und der Gemeinschaft schaden. Er stellt sie dem allgemeinen Wohl zur Verfügung. Aus seiner Mitte heraus stärkt er das Ganze, anstatt es zu schwächen. Anstatt immer neuen Aufgaben und Anforderungen hinterherzulaufen, bleibt er bei sich und sorgt dafür, dass in ihm die Welt so ist, wie er sie im Außen haben möchte.
Davon bekommt vielleicht der keine Arbeit, der sie verloren hat. Doch er kann das schwere Joch ablegen, das Gefühl, zu nichts nütze zu sein.
Seien wir unnützlich! Werden wir unausbeutbar, und damit unregierbar!
Teilen wir, was wir teilen wollen, und nicht, was man uns auferlegt, leisten zu müssen. Nutzen wir diese Zeit des Übergangs, in uns aus dem Vollen zu schöpfen, gerade dann, wenn es um uns herum knapp wird.
Lassen wir uns nicht von dem Mangel und der Angst davor einfangen. Geben wir mit vollen Händen, was wir haben, und vertrauen wir darauf, dass die Gesetze des Lebens immer für Ausgleich sorgen. Erwarten wir nicht, dass der, dem wir gegeben haben, uns mit gleicher Münze zurückbezahlt. Erleben wir uns als Ganzes, als eine Gemeinschaft, in der jeder gibt, was er kann. Nicht um sich nützlich zu machen, sondern weil er genau weiß, dass wir letztlich genau so viel bekommen, wie wir gegeben haben.

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Quellen und Anmerkungen: