Wer in Deutschland einen Heimplatz für sein Elternteil sucht, ist nicht nur vor enorme finanzielle Herausforderungen gestellt, sondern auch vor solche des Vertrauens. Es ist ratsam, vor Auswahl der entsprechenden Einrichtung zumindest eine kurze Internetrecherche mit dem Namen des Heims und dem Wort „Skandal“ durchzuführen. Die Trefferquote bei der Suche nach sogenannten Pflegeskandalen ist beachtlich. In den unzähligen Berichten über unhaltbare Zustände, die großteils auf massive Überlastung und Überforderung des Personals zurückzuführen sind, findet sich häufig ein beschreibendes Adjektiv, das versucht, die Sprachlosigkeit und das Entsetzen darüber zum Ausdruck zu bringen, was Bewohner ertragen und Angestellte leisten müssen: „würdelos“.
Eines der drastischsten Beispiele der letzten Jahre ist das des Pflegeheims am Schliersee, wo insbesondere während der ersten Coronajahre immer wieder ein besorgniserregendes Maß an Unterernährung und Verwahrlosung dokumentiert wurde. Eine damalige Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes äußerte gegenüber dem Bayerischen Rundfunk, sie habe das Pflegeheim im Jahr 2020 mehrmals kontrolliert und dabei Erschreckendes vorgefunden:
„Generelle Verwahrlosung eigentlich über alle Etagen, massiver Personalmangel, der (…) mehr als offensichtlich war. Dieser Zustand muss schon lange angehalten haben.“
Und:
„Ich habe Bewohner gefunden, die einen Bodymaßindex von 15,9 hatten. Ich habe noch nie so viele ungepflegte Füße, nicht dokumentierte Wunden (gesehen) (…). Wir haben einen Mann gefunden, der hatte offene Beine. Da tropften Eiter und Blut auf den Teppichboden. Die Wunde war nicht mal versorgt“ (1).
Die Maßnahmen der Coronapolitik dürften für solche Einrichtungen eine merkwürdig ambivalente Rolle gespielt haben. Verschlimmerten sie doch beispielsweise durch Quarantäneregelungen den ohnehin bestehenden Personalmangel. Gleichzeitig war es wie in diesem Beispiel die gesteigerte Überwachung durch das Gesundheitsamt, die überhaupt erst dazu führte, dass die Zustände registriert wurden.
Eine neueres Beispiel findet sich in einer Recherche des Stern vom November 2024, die sich mit einem Pflegeheim im nordrhein-westfälischen Königswinter befasst, wo Bewohner immer wieder Gewalt und Erniedrigungen erleben mussten (2). Auf einem Video ist zu sehen, wie sich eine Pflegerin die Hose herunterzieht und sich selbst mit einer Windel abwischt, bevor sie sie dem wehrlosen Patienten anlegt. Der Sohn einer ehemaligen Bewohnerin ist kaum in der Lage, sich das entsprechende, wenn auch verpixelte, Video dieser Entwürdigung anzusehen. Er verlässt den Raum (1).
Ein extremes Beispiel, das nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass die überwiegende Mehrheit der Pflegenden so etwas nicht tut, sondern sich engagiert darum bemüht, Patienten gerecht zu werden. Leiden Sie doch selbst unter dem massiven Druck, den die Arbeit in drastischer Unterbesetzung mit sich bringt. Gleichzeitig macht es deutlich, wie schwer es ist Vertrauen zu empfinden, den Menschen, gegenüber denen man die eigenen Angehörigen anvertraut und deren grundlegende Würde man gewahrt sehen möchte.
Ähnliches gilt für Eltern, die eine Kita für ihr Kind suchen. Berichte über Kinder, die auf den Kopf geschlagen, bis zum Erbrechen gefüttert werden oder sogar sexuelle Übergriffe erleben, finden sich wie Sand am Meer und erschreckenderweise immer häufiger. Subsumiert wird das Ganze statistisch unter dem Begriff „pädagogisches Fehlverhalten“.
Es sind die Vulnerabelsten der Gesellschaft, die sich immer öfter in Kontexten wiederfinden, in denen ihre Würde massiv untergraben wird. Dabei ist ihnen diese grundgesetzlich garantiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist nicht nur der Leitsatz, den sich der deutsche Staat gegeben hat, es ist auch das Versprechen der Aufklärung und der westlichen Zivilisation nach dem Zweiten Weltkrieg.
Doch je weiter man an die Ränder der Gesellschaft und hinter verschlossene Türen von Institutionen vordringt, desto weniger scheint die Realität diesem Ideal gerecht werden. Dabei sind Pflegeheime und Kitas nur der Anfang, von Psychiatrien und Flüchtlingslagern ganz zu schweigen.
Ist „Würde“ als Leitmotiv unserer Gesellschaft gescheitert, wenn wir es doch anscheinend regelmäßig nicht schaffen, sie im Alltag zu garantieren? Welche Bedeutung können wir diesem Wort noch zuschreiben, wenn es doch offenbar wieder und wieder zur Worthülse verkommt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury in ihrem im Dezember 2024 erschienen Buch „Die Klinik der Würde“.
Dabei ist für Fleury von entscheidender Bedeutung, in welchem Sinne das Wort Würde gebraucht wird. Sie spricht von einer „Dichotomie zwischen der Unantastbarkeit der Menschenwürde und ihrer physischen Realität“. Gebe man sich mit dem Konzept einer rein abstrakten Würde zufrieden, so untergrabe man letztlich die Idee der Würde selbst. Gleichzeitig könne man ihr keine vollständige Materialisierung abverlangen, insbesondere dann nicht, wenn subjektive Empfindungen eine Rolle spielen.
Heißt im Klartext:
Die Würde ist ein abstraktes Ideal, dessen konkrete Verletzung nicht in jeder Situation vermieden werden kann, schon allein deshalb nicht, weil jeder Mensch eine eigene Wahrnehmung seiner persönlichen Würde und davon, wann sie verletzt ist, besitzt.
Wer aber daraus folgert, man könne sich entspannt zurücklehnen und sich mit einer tatsächlichen Entwürdigung abfinden, sitzt einem Irrtum auf und hat das Konzept der Menschenwürde nicht verstanden.
Als Umgang mit diesem Dilemma schlägt Fleury vor, nicht von oben aus einer Metaperspektive auf die Gesellschaft zu blicken, sondern Würde grundsätzlich von der Position der Vulnerabelsten aus zu definieren. Sie spricht von „schwarzen Narrativitäten“. „Schwarz“ meint damit nicht zwangsläufig die Hautfarbe, sondern ist ein Synonym für jede Art von Menschen und Menschengruppen, die sich unwürdiger Behandlung ausgesetzt sehen. Sie schreibt:
„Was ist das Gefühl der Unwürde? Es ist das Gefühl der Verletzung der physischen und psychischen Integrität, so als wäre das Irreduzible an sich gedemütigt und entehrt worden und dass die Institutionen ringsum genau das Gegenteil von dem tun, was sie sollen: Während sie Bedingungen aufrechterhalten sollten, die mit der Entfaltung von Individuen einhergehen, setzen sie skrupellose Triebfedern der Singularität außer Kraft“ (3).
Betont sei hierbei, dass, wenn Fleury von Institutionen spricht, sie nie den einzelnen Mitarbeitern die Schuld gibt, sondern stets strukturell denkt.
Fleurys Fokus auf die Vulnerablen, Schwachen und Diskriminierten einer Gesellschaft sowie ihre Perspektive kann man als philosophischen Unterbau des identitätspolitischen Zeitgeistes lesen, muss das aber nicht. Darüber, wer die Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen sind, besteht bekanntlich oft Dissens. Vielmehr beschreibt sie den sympathischen — bevor er ins Extreme verdreht wurde — Grundgedanken dessen, was man heutzutage „Wokeness“ nennt. In Anlehnung an Rosa Luxemburgs berühmten Ausspruch „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ könnte man ihre These mit dem Satz „Die Würde ist immer die Würde der Vulnerabelsten“ zusammenfassen.
Dabei unterscheidet sich „Die Klinik der Würde“ in einem essenziellen Punkt von dem typischen Narrativ der Fokussierung auf Opfergruppen: Es ist ihr ein explizites Anliegen, sie ihrer Opferrolle zu entheben. Denn sonst, so Fleurys These, verbleiben sie in ihrer Unwürde.
Als Beispiel zieht sie die Geschichte der Sklaven in Amerika heran. Diesen würde es nicht gerecht, sie ausschließlich als Opfer zu betrachten, waren sie doch auch Zeitzeugen, Denker und Widerstandskämpfer, deren Erfahrungswissen einen Wert hat, der darüber hinaus geht, Opfer gewesen zu sein.
Darin liegt ein außerordentlich wertvoller Gedanke, auch für aktuelle Debatten: Wer Opfer nur als Opfer beschreibt, schreibt ihren Opferstatus eigentlich fort, denn Opfer sind Menschen, die umsorgt und gepflegt gehören, weil sie Unrecht erfahren haben, die man damit jedoch weiter objektiviert. Im Grunde herrscht man über die, denen man eigentlich helfen, die man von ihrem Stigma befreien will.
Politisch bedeutet das, dass derjenige, der öffentlich bestimmte Gruppen wie „die Flüchtlinge“, „die Frauen“, „die Transsexuellen“ „die Pflegekräfte“, „die AfD-Wähler“ oder „die Ungeimpften“ als Opfer deklariert, diesen gar keinen Gefallen tut. Er schiebt sie mehr oder weniger in die Rolle eines misshandelten Kindes, das einem zwar zwangsläufig leidtut, das man aber nicht als aktiven Gestalter seines Lebens und vor allem seiner Lebensverhältnisse in der Gesellschaft anhört.
Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese Gruppen keine Opfer sind, nur dies ist eben nicht ihr ausschlaggebendes Merkmal. Das, was es als solches erscheinen lässt, ist die Unterdrückung. Die wenigsten Menschen würden zum Beispiel ihr Frausein als ihre definitorisch wichtigste Eigenschaft beschreiben, solange sie nicht in einer Gesellschaft leben, in der Frauen massiv unterdrückt werden.
Fleury solidarisiert sich mit den Vulnerablen und Entwürdigten nicht nur, sie gibt ihnen auch auf originelle Weise ihre Würde zurück, indem sie ihr Opfersein zwar anerkennt, daraus aber keine Opferhaltung ableitet.
Auch wenn deutlich wird, wer die von ihr gemeinten Opfer sind — Menschen mit dunkler Hautfarbe, Pflegekräfte, Flüchtlinge, Frauen, Alte und Kranke et cetera —, bleibt ihr Konzept nicht auf sie beschränkt. Jeder, der sich als Vulnerabler, Bedrängter, von der Gesellschaft Vergessener oder Diffamierter betrachtet, kann sich ihre Interpretation der Würde und deren Rückeroberung zunutze machen. Diese nicht theoretische, aber tagespolitische Unschärfe beinhaltet eine große Chance auf gesellschaftliche Versöhnung, auch wenn dies nicht nur Begeisterung hervorruft. So steht beispielsweise in einer Rezension von Deutschlandfunk-Kultur:
„Fleury übersieht, dass eine Philosophie der Würde nicht allein auf die Therapie der Individuen zielen kann, sondern dass es gerade heute ihre Aufgabe ist, in den Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheit zu treten. Und die Frage zu stellen, was ein richtiges und was ein falsches Verständnis von Würde ist.“
Diese Ansicht jedoch missversteht Fleurys Ansatz, der kein politisches Manifest, sondern grundlegende philosophische Analysen liefert. Dabei gibt sie sich keine Mühe, simpel zu schreiben. Ihre hypotaktischen und theoretisch komplexen Sätze erstrecken sich nicht selten über mindestens eine halbe Seite, und der Leser kommt nicht darum herum, den ein oder anderen von ihnen doppelt oder vielleicht sogar dreimal zu lesen. Dabei ist ein solides philosophisches Vorwissen durchaus hilfreich. Manchmal wirkt ihr Sprachstil fast etwas dünkelhaft und lässt die Frage offen, ob die Autorin von denjenigen, mit denen sie sich inhaltlichen solidarisiert, überhaupt gelesen werden möchte oder ob es sich bei ihrer tatsächlichen Zielgruppe vielmehr um ein privilegiertes Akademikermilieu handelt.
Dennoch: „Die Klinik der Würde“ liefert auf anspruchsvolle Art und Weise nicht nur intellektuelles Training für Gehirne, die sich allzu selten aus der geistigen Komfortzone bewegen, sondern auch eine Reihe von Werkzeugen zum Erhalt der eigenen Würde, selbst wenn diese von außen auf die Probe gestellt wird.
Hier können Sie das Buch bestellen: Buchkomplizen

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.youtube.com/watch?v=X7_vCMOs2zY&pp=ygUJI2t1cmhlaW1l
(2) https://www.stern.de/panorama/horror-pflegeheim--erschreckende-zustaende-aufgedeckt--video--35203736.html
(3) Fleury, Cynthia: Die Klinik der Würde, 2024, Suhrkamp Verlag, Seite 29