Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Spiegelgefechte

Spiegelgefechte

Die Erfindung des Spiegels war ein bedeutender Einschnitt in die Entwicklung des Menschen. Nun sollten wir auch den Mut haben, uns zu sehen, wie wir wirklich sind.

Bis vor etwa fünf- bis sechstausend Jahren lebten die Menschen ohne etablierte Autoritäten und formale politische Institutionen in autonomen und autarken Gemeinschaften. Sie benötigten keine institutionalisierte Regierung oder politische Klasse. Es gibt keine Nachweise für Kriege während der Steinzeit. Mit ihrem Ende begannen sich erste Staaten zu bilden, durch Abgaben von Untertanen finanzierte Gewaltmonopole (1). Die künstlichen Gebilde wurden nach innen durch Hierarchien gestärkt und nach außen hin verteidigt und vergrößert. So begann eine bis heute nicht endende Aneinanderreihung von Kriegen, die wir in unseren Geschichtsbüchern nachlesen können (2).

Etwa zur gleichen Zeit wurden Schriftstysteme erfunden, die die Ereignisse dokumentierten. Nachdem es bereits im alten Ägypten vorübergehend alleinherrschaftliche Bestrebungen gegeben hatte, wurde um etwa 3500 vor Christus der Grundstein für den auf reiner Männerherrschaft beruhenden Monotheismus gelegt.

Das Fundament, auf das er gebaut wurde, war die Unterdrückung der Frau und ist es bis heute geblieben. In den folgenden Jahrtausenden hatte nur noch ein Geschlecht das Sagen: das männliche.

In der griechischen Antike, deren Beginn auf 800 vor Christus datiert wird, etablierte sich die Polis als vorherrschende Staatsform. Auf die Attische Demokratie wird bis heute Bezug genommen. In Wirklichkeit handelte es sich um keine Demokratie: Frauen waren von vornherein vom Mitspracherecht ausgeschlossen. Auch Sklaven, die bis die Hälfte der Bevölkerung ausmachen konnten, und Metöken — dauerhaft im Staat lebende Fremde — durften nicht an Entschlüssen teilnehmen, die alle betrafen. Wahlberechtigt waren ausschließlich einheimische Männer.

Bedeutsame Erfindung

Wie kam es, dass Menschen, die nach unserer Geschichtsschreibung über zwei Millionen Jahre lang friedlich zusammenlebten, vor etwa sechstausend Jahren begannen, sich gegenseitig zu unterdrücken, zu versklaven und zu vernichten? Was hat den Mann dazu gebracht, sich die Frau unterordnen zu wollen — und mit ihr den ganzen Planeten?

Nach heutigen Forschungsstand soll es die Gattung Homo seit etwa 2,6 Millionen Jahren geben. So alt sind die ersten Steinwerkzeuge, die gefunden wurden. Die Steinzeit dauerte in Europa bis etwa 5500 vor Christus. Sie wurde durch die Kupfersteinzeit abgelöst und diese etwa 2200 vor Christus durch die Bronzezeit. Mit der Erfindung der Metalle konnte der Mensch nicht nur Werkzeuge und Waffen herstellen, sondern auch ein Objekt, das eine große Bedeutung für die weitere Entwicklung des Menschen haben sollte: den Spiegel.

Die ersten Spiegel, so wird angenommen, haben aus Schalen bestanden, in die Wasser gefüllt wurde. Um 3000 vor Christus gab es in Mesopotamien Bronzespiegel, in denen die Menschen ihr Antlitz betrachten konnten. Fortan hatte sich der Mensch selbst vor Augen. Hiermit änderte sich nicht nur das Verhältnis, das er zu sich hatte, sondern auch das Verhältnis zu anderen. Zwischen den einen und den anderen hat sich quasi eine Scheibe geschoben, in der das eigene Abbild steht.

Verschobene Mitte

„Wer bin ich?“ ist die große Frage, die sich in unserem Individuationsprozess zwischen die anderen und uns selbst schiebt. Wer bin ich im Vergleich zu anderen? Von nun an verschmelzen wir in gewisser Weise nicht mehr mit der Gruppe, der Sippe, dem Clan.

Wir schwimmen nicht mehr in der Ursuppe, in dem Ozean, in dem der Tropfen noch keine Konturen hat, keine Begrenzung zwischen dem Innen und dem Außen. Wir haben uns auf einen Weg der Selbsterkenntnis gemacht, auf dem wir uns von anderen abgrenzen.

„Citius, altius, fortius“ — schneller, höher, stärker — ist das Motto der olympischen Spiele, deren Ursprung in der Antike im zweiten Jahrtausend vor Christus vermutet wird. Es reichte nicht mehr aus, einfach zu sein — Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Wir wollten mehr. Mehr Stärke, mehr Größe, mehr Anerkennung, mehr Ruhm, mehr Besitz, mehr Macht. Schaut her, wie mächtig ich bin! Und der Spiegel widersprach nicht.

Frauen spielten in dieser Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Die ursprünglichen matriarchal geprägten Gesellschaftsformen waren vor der Übermachtstellung der Männer zurückgewichen. Die Welt hatte nichts mehr zu tun mit der Zeit, in der, so erzählt es der Mythos, Zeus zwei Adler von je einem Ende der Welt hatte fliegen lassen. Sie hatten sich in Delphi getroffen. Hier befand sich der Mittelpunkt der Erde.

Der Ort war der Erdmutter Gaia gewidmet. Der Sage nach vereinigte sich Gaia mit dem Schlamm, der nach dem Ende des Goldenen Zeitalters übrig geblieben war, und gebar die geflügelte Schlange Python, die auch als Drache bezeichnet wurde. Python wurde von Apollon besiegt und erfuhr das Schicksal aller Schlangen und Drachen: die Vernichtung durch männliche Hand.

Der neue Tempel war einer männlichen Gottheit gewidmet. Delphi wurde zu der wichtigsten Kultstätte der hellenischen Welt und bestand bis in die Spätantike. „Gnothi seauton“ — erkenne dich selbst — lautet die Inschrift des Apollon-Tempels und markiert einen Meilenstein in der Geschichte einer Menschheit, die sich in großen Schritten von ihren Ursprüngen entfernte.

Endlose Suche

Wer bin ich? Der Mensch will es wissen. Auch in den neu entstandenen monotheistischen Religionen, in denen das Weibliche so gut wie keine Rolle mehr spielte, geht es um Selbsterkenntnis. Im christlichen Schöpfungsmythos verlieren Frau und Mann nach dem Auszug aus der paradiesischen Einheit die Fähigkeit, einander zu erkennen. Aus Scham vor ihrer ursprünglichen Blöße haben sie sich Tierhäute übergeworfen.

Von Anfang an war diese Schöpfungsvariante darauf ausgerichtet, das Weibliche zu verdrängen. Eva war gewissermaßen ein Klon Adams. Lilith, die gleichberechtigte Frau, hatte sich in die Wüste zurückgezogen.

Die Frau war dem Mann nicht mehr ebenbürtig. Sie war nur ein Teil von ihm, ein ungleiches Gegenüber, in dem er sich spiegeln konnte. In ihrer Niedrigkeit suchte er die Bestätigung seiner eigenen Größe und Macht. Auf sie warf er, was er in sich nicht haben wollte.

Im Reflektieren im anderen suchen wir die Bestätigung dessen, was wir selber sind. Er soll uns zeigen, wie schön wir sind, wie stark, wie gut. Schätzen soll er uns, bewundern und schmeicheln. Von anderen erwarten wir, dass sie uns glücklich machen. Sie machen wir dafür verantwortlich, wenn wir unglücklich sind. Andere sollen uns geben, was wir nicht haben. Unermüdlich zieht der Mensch durch die Welt auf der Suche nach seiner anderen Hälfte, seit er kein ebenbürtiges Gegenüber mehr hat.

Da haben wir den Salat

Auf unserer Suche haben wir alles vergessen. Vor allem haben wir vergessen, dass wir vergessen haben. Wir haben vergessen, dass wir unser ebenbürtiges, gleichberechtigtes Gegenüber in die Wüste geschickt haben. Wir haben vergessen, dass es ein Abbild unserer selbst ist, was wir im anderen sehen. Wir haben vergessen, dass das, was wir im anderen bekämpfen, unsere eigenen Schatten sind.

Seit wir das Metall entdeckt haben, sind wir in ein Spiegelkabinett geraten, in dem wir uns komplett verlaufen haben. Unser Gegenüber soll schuld sein an dem, was wir selber angerichtet haben. Immer raffinierter sind die Waffen, mit denen wir es bekämpfen, immer aufgebrachter sind wir gegenüber den Schatten, die wir selbst an die Wand werfen. Die Steinzeit liegt lange hinter uns, doch aus den Höhlen sind wir nicht herausgekommen: aus dem Gedankengefängnis, das uns gegen Windmühlen ankämpfen und auf Chimären schießen lässt.

Es sind Emanationen eines verlorenen Geistes, der sein Gegenüber verloren hat, die die Menschen vorgeben lassen, „divers“ zu sein. Das biologische Geschlecht zählt nicht mehr. Um jeden Preis muss das Natürliche überwunden werden. Neben „männlich“ und „weiblich“ soll es nun jede Menge anderer Geschlechter geben. Männer sind Frauen und Frauen sind Männer. Trans, inter, nichtbinär, cis- oder endogeschlechtlich — sie alle entspringen letztlich ein und demselben Ereignis: der Weigerung des Mannes, die Frau als ebenbürtig anzuerkennen.

Bei den vielen Paraden und Maskeraden geht es nicht darum, die Diversität des anderen anzuerkennen. Während mit schrillen Tönen und bunten Fahnen Menschen durch die aussterbenden Innenstädte ziehen, die ihr Recht darauf verteidigen, „anders“ zu sein, wird das „andere“ systematisch unterdrückt.

Kaum noch jemand ist bereit, sich mit Andersdenkenden an einen Tisch zu setzen. Während queer in Mode ist, wird Querdenken verfolgt.

Ganz klar werden die Feindbilder definiert. Wer davon abweicht, gilt als Verbrecher. Während der Coronazeit gab es nur „die“ Wissenschaft und die Forderung nach einstimmiger Unterordnung. Keine Spur von Diversität in der öffentlichen Meinung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein Mensch, der sich, wie etwa in der Furry-Bewegung (3), für ein Plüschtier hält, mehr Zuspruch bekommt als jemand, der das Klimawandelnarrativ infrage stellt oder die Kriegsvorbereitungen kritisiert.

Vom Grauen zum Abenteuer

Immer absurder sind die Verzerrungen geworden, immer verwirrender das Spiegelkabinett. In alle Richtungen wurde die Realität verdreht, so lange, dass heute kaum noch jemand weiß, wie er wahr von falsch unterscheiden kann. Die meisten entscheiden sich dafür, dem zu folgen, der ihnen in ihrem Selbst- und Weltbild Bestätigung gibt. Denn das „andere“ macht vor allem eines: Angst.

Lilith gehört zur anderen Seite, so wie der Tod. Der 2001 erschienene Film „The Others“ beschreibt das Grauen einer Mutter mit ihren zwei Kindern in einem Haus, in dem die vermeintlich Lebenden die Toten sind. Noch verwirrender ist der im Jahr 2022 erschienene Science-Fiction-Horrorfilm „Das Andere“, in dem eine besessene Protagonistin ihren Freund nach einem Heiratsantrag umbringt, bevor sie sich von einem Außerirdischen absorbieren lässt.

Niemand weiß mehr, wer er ist, und noch weniger, wer der andere ist: Frau, Mann, oder etwas dazwischen, Freund, Feind oder Außerirdischer. Nach und nach wurden alle Brücken abgebrochen, über die wir erneut das andere in unser Leben hineinlassen. Die Brücke, die uns bleibt, gleicht einer wackligen Hängebrücke in einem Indiana-Jones-Film. Mehr noch: der unsichtbaren Brücke, die nur den trägt, der an ihre Existenz glaubt.

Was Adam verraten hat, müssen wir uns zurückholen. Wie es mit der Menschheit weitergeht, hängt davon ab, ob es uns gelingt, unser Gegenüber in seiner Andersartigkeit anzuerkennen. Wollen wir noch weiter die Erfahrung machen, uns ständig aneinander zu messen und gegenseitig auf- und abzuwerten, oder machen wir uns daran, in unserem Selbstwerdungsprozess etwas anderes auszuprobieren? Fliehen wir weiter das andere, oder erkennen wir mit der Andersartigkeit der anderen auch die eigene Andersartigkeit an, die eigene Besonderheit?

Trau dich!

Auf diese Brücke gilt es, den Fuß zu setzen. Wir können die Geschichte überwinden, in der ein Jüngling sich in das eigene Spiegelbild verliebte. Nie konnte Narziss das Objekt seiner Sehnsucht erreichen. So sehr verzehrte er sich nach ihm, dass er schließlich an Kummer starb. Er hatte sich in seinem eigenen Spiegelbild verloren. Wie Adam sah er nur sich selbst.

Die Täuschung kann sich auflösen, wenn wir die Besonderheit und Einzigartigkeit eines jeden anerkennen, einschließlich der eigenen. „Sei du selbst. Alle anderen sind schon vergeben“ heißt ein geflügeltes Wort. „Trau dich!“, ermutigt Kayvan Soufi-Siavash, Dinge zu tun ohne den Zuspruch von anderen, ohne die Suche nach Bestätigung und Anerkennung (4). Mach dein Ding. Tu das, wozu du gemacht bist. Vertraue deinen Gefühlen und deiner Intuition. Scheue dich nicht, dich in die Nesseln zu setzen, und hör auf, dich von der Meinung anderer abhängig zu machen.

Wenn wir wollen, dass unsere Welt wieder echt wird, müssen wir echt werden. Wagen wir den Blick in den Spiegel, ohne uns selbst zu erhöhen oder zu erniedrigen. Wagen wir es, auf den ständigen Vergleich zu verzichten.

„Iste ego sum“ — das bin ich. Das bin ich mit meinen Zweifeln und Fragen, mit meinen Schwächen und meiner Verletzlichkeit. Das bin ich mit meinen Stärken und Qualitäten, mit meinen Gaben und meinen Besonderheiten. Das bin ich. Ich bin völlig in Ordnung so, wie ich bin. Und das muss ich niemandem beweisen.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsentstehung
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen_und_Schlachten_im_Altertum
(3) https://diversmagazin.de/glossar/furry-bedeutung/
(4) https://www.youtube.com/watch?v=l5YcQXfrwbs

VG-Wort Zählpixel

Weiterlesen

Deren Demokratie, unser Krieg
Thematisch verwandter Artikel

Deren Demokratie, unser Krieg

Immer unverblümter treffen Politiker ihre Entscheidungen entgegen den Interessen der Bürger. Die nächste Eigenmächtigkeit dieser Art könnte für uns alle tödlich enden.