Die Welt hat sich verändert. Diese Veränderung nimmt der Mensch als „neue Normalität“ unmittelbar zur Kenntnis. Auch die wissenschaftliche Disziplin, der ich als Student angehöre, hat diesen allgemeinen Wandel registriert. Die Rede ist von der Soziologie, einem Teilbereich der Sozialwissenschaften. Ihr Ausgangspunkt ist der Mensch, dessen individuelle und gesellschaftliche Verhaltensweisen sowie Fehlentwicklungen beobachtet und gedeutet werden.
Gerade in dieser außerordentlichen Zeit fällt der soziologischen Forschung sehr viel Arbeit zu. Doch die Vorgehensweise ist die gleiche geblieben. Kaum anders als sonst, muss die Soziologie ihre vielfältigen Grundbegriffe und Methoden einsetzen, um neue Erkenntnisse zu liefern. Verfolgt man die aktuellen soziologischen Untersuchungen und öffentlichen Aussagen, dann wird einem schnell bewusst, dass die Corona-Thematik überwiegt.
Doch eine Empfindung lässt mich angesichts der derzeitigen soziologischen Öffentlichkeitsarbeit nicht los: Etwas Elementares fehlt. Irgendetwas innerhalb der Soziologie ist anders. Obgleich die üblichen soziologischen Deutungsmuster vorhanden sind, mangelt es am Wesentlichen; ein essenzielles Charakteristikum hat sich in Luft aufgelöst:
Denn wo sind die Verantwortungsträger aus der Soziologie, die mit Argusaugen einen kritischen Blick auf die Kehrseite gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse werfen? Wo ist das ständige Hinterfragen, wo findet man die kausalen Zusammenhänge und Schlussfolgerungen? Wo sind die Zeitdiagnostiker, die auf das Gefahrenpotenzial von machtgierigen Eliten, korrupten Konzernen und technokratischen Ideologien aufmerksam machen? Kurz: Die Welt der Gesellschaftswissenschaften ist wie gelähmt. Soziologen, kritische Theoretiker, eine ganze Wissenschaft leidet an einer Krankheit: Es ist die Selbstverleugnung.
Freilich ist heutzutage Kritik an der Corona-Politik nicht willkommen. Die massenmediale und politische Schelte gegen Andersdenkende ist gnadenlos. In ihrer Neujahrsrede nennt die Bundeskanzlerin sie Verschwörungstheoretiker und Leugner. Der hinterfragende Mensch wird öffentlich gebrandmarkt — man denke an all die Mediziner, Mikrobiologen, Anwälte, Journalisten, Musiker, Fußballer und so fort. Ist das Zusammenspiel von Freiheit und kritischem Denken nicht eine Grundvoraussetzung in einer Demokratie? Ist diese fatale Entwicklung nicht alarmierend und ein Fall für die Soziologie?
Doch auch die Universitäten haben sich den Bedingungen der „neuen Normalität“ untergeordnet. Masken, Distanz – sogar die Anzahl der Personen, die sich auf dem Universitätsgelände unterhalten, ist auf zwei Haushalte begrenzt. Skeptischer Meinungsaustausch über die Corona-Politik soll vermieden werden. Kritische Überlegungen, ein demokratisches Gut, werden gleichgesetzt mit rechter Verschwörungsideologie. Paradoxerweise befinden sich in der Universitätsbibliothek unzählige kritische Publikationen über Akteure und Konzerne, die in der Corona-Politik großen Einfluss ausüben.
Und wieder hat sich die Bundeskanzlerin kürzlich zu Wort gemeldet. Dieses Mal spricht sie zu den Studierenden. Sie fordert, eine klare Haltung gegen Verschwörungstheorien einzunehmen. Hinter der Direktive der Bundeskanzlerin verbirgt sich aber eine ernst zu nehmende Gefahr:
Eine Regierungschefin — genauer gesagt: der Staat — möchte ein bestimmtes Verhalten von Universitätsstudenten erzwingen. Einen Gedanken als „verschwörungstheoretisch“ zu brandmarken, ist letztlich nichts anderes, als ein Denkverbot zu verhängen.
Im Klartext verlangt die staatliche Autorität nach Konformität — oder sogar nach Defätismus. Doch die grundlegende Handlungsfreiheit von Studierenden basiert gerade auf der Wissenschaftsfreiheit, welche sie vor staatlicher Bevormundung schützt. Sollte dieser staatliche Appell, diese Einmischung in universitäre Wissenschaftspraxis, aus Sicht der Soziologie nicht entschieden zurückgewiesen werden?
Interessanterweise befinden wir uns gegenwärtig in einem ereignisreichen Zeitraum, der für die Soziologie wie gemacht ist. Tagtäglich springen uns in den Medien soziologische Grundbegriffe nur so vor die Augen. Einige davon sind Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Ausgangssperren, Bewegungsradius, gesellschaftlicher Wandel, Digitalisierung, Massenüberwachung, sogar das Thema Impfpflicht. Wahrscheinlich war Soziologie noch nie so realitätsbezogen wie heute. Doch inwieweit beschäftigen sich versierte Soziologen mit diesen Begriffen und hinterfragen ihre Schattenseiten?
Die Originalität der Soziologie liegt darin, dass sie die Fragen der Zeit behandelt. Dazu gehört der kritische Blick. Vor allem in Zeiten von Corona ist dieser gefragt und auch erlaubt. Schlussendlich geht es darum, einen gesellschaftlichen Diskurs zu starten. Allerdings verweigern bekannte Berufssoziologen ihre kritische Sicht auf die Dinge. Stattdessen bejahen sie die „neue Normalität“ und produzieren ihre soziologischen Thesen und Fragestellungen in diesem neuartigen Bezugsrahmen. Aber warum? Vielleicht spielen hier Angst, Feigheit oder arrivierter Konformismus eine wichtige Rolle: „Nur nicht aus der neuen Normalität ausbrechen und die herrschende Obrigkeit verärgern!“ Bedienen sich die etablierten Soziologen deshalb der massenmedialen Angstrhetorik, fordern von der Politik noch härtere Zwangsmaßnahmen und stigmatisieren Andersdenkende als Verschwörungstheoretiker?
Offen gesagt: Irgendetwas ist faul an der ganzen Sache. Deutlich macht es der folgende Vergleich eines Soziologen und eines Vogels im Käfig.
Für den Vogel ist der verschlossene Käfig eine unanfechtbare Realität, die seiner natürlichen Umgebung widerspricht. Hingegen wird der Soziologe nicht in einem Käfig gefangen gehalten. Und dennoch nimmt er die „neue Normalität“ als unanfechtbares, wenn nicht sogar als natürliches Käfig-Konstrukt an.
Im Unterschied zum Vogel hat der Soziologe jedoch keine verriegelte Tür vor sich — es gibt kein unüberwindbares Hindernis! Weshalb nehmen die meisten Soziologen also ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht wahr?
Bleibt die Frage, wie lange die verhängnisvolle Metamorphose bei der Soziologie noch anhält und welche Folgen sie für diese Wissenschaftsdisziplin hat. Nicht, dass demnächst Studenten, die kritische Hausarbeiten über die Corona-Politik verfassen, wegen nonkonformen Verhaltens ermahnt oder sogar exmatrikuliert, also aus der Universität ausgeschlossen werden. Auch wenn es überspitzt klingt, möglich wären diese bedrohlichen Szenerien, betrachtet man die jetzigen Entwicklungen in der „neuen Normalität“. Oder es passiert etwas anderes: dass sich die Soziologen wieder auf die eigentlichen Grundlagen des soziologischen Denkens besinnen. Dann wird ein anderer wissenschaftlicher Diskurs denkbar, den es dringend braucht — ein ganzheitlicher Diskurs.
Der Autor studiert Soziologie und Politikwissenschaften. Obgleich er anfangs von der Soziologie nicht sehr überzeugt war — schuld waren vor allem die mokanten Schriften von Literaten wie Imre Kertesz und Kurt Tucholsky —, entwickelte er im Laufe der Zeit ein wachsendes Interesse an der Disziplin. Insbesondere haben ihn Erich Fromms humanistische und gesellschaftskritische Ansichten beeinflusst. Sich selbst sieht er als mündigen Menschen an, der sich geistig nicht auf die zuweilen engen Denkräume der Universitäten beschränken will. Er ist seit der Corona-Politik parteilos, da er das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie verloren hat.
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