Vermutlich hat Sahra Wagenknecht Glück, dass sich ihre Partei aufgrund der anhaltenden Beschränkungen nicht zu einem Parteitag treffen kann. Das Risiko wäre groß, dass sie erneut mit einer Schokoladentorte beworfen würde. Im Mai 2016 ist ihr das widerfahren. Ihr braun gefärbtes Gesicht zierte manche Zeitung — und die besonders linken Vertreter der Linken freuten sich tierisch darüber.
Meines Wissens handelt es sich dabei um den einzigen Fall von Blackfacing, den diese Klientel nicht verurteilte.
Vorgeworfen hatte man der linken Galionsfigur einen Rechtsruck. Sie hatte es seinerzeit gewagt, die allgemeine Flüchtlingspolitik kritisch zu hinterfragen und die Willkommenskultur mit konkreten Einwänden zu tangieren. Neben der Torte musste sie den Vergleich mit Beatrix von Storch von der AfD über sich ergehen lassen. All das hätte sich jetzt, da Sahra Wagenknecht ein Buch zum Holzweg der Linken geschrieben hat, wiederholen können. Stattdessen muss sie nur einige Memes und Tweets aushalten, die ihren Parteiausschluss fordern. Speziell von einigen Ortverbänden des linken Kindergartens Solid vernahm man solche Töne.
Der Wesenskern der Linken
Ganz neu ist es nicht, die identitätspolitische Fixierung der Linken zum Gegenstand eines Buches zu machen. Der Autor dieser Zeilen übte sich vor drei Jahren darin, „Rechts gewinnt, weil links versagt“ nannte er seine bescheidenen Ergüsse. Wenn Sahra Wagenknecht prognostiziert, dass die AfD sich zur Arbeiterpartei mausern könnte, dann tut sie es diesem Titel nach. Freilich benötigte die linke Frontfrau nicht mich, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Das Standardwerk der Identitätskritik ist nämlich weitaus älter und stammt aus Frankreich.
Im Jahr 2009 veröffentlichte der Soziologe Didier Eribon seine autobiographisch inspirierte Sozialanalyse der französischen Linken. „Rückkehr nach Reims“ hieß sie: Aus dieser nordfranzösischen Stadt stammte der Autor. Als homosexueller und intellektuell interessierter Sohn einer Arbeiterfamilie setzte er sich früh nach Paris ab. Dort konnte er sich frei entfalten; in Reims fühlte er sich hingegen unverstanden, in den Strukturen des Arbeitermilieus gefangen. Bei jeder Heimkunft hatte er Bauchschmerzen, er hatte sich von seinen Leuten entfremdet. Man verstand sich gegenseitig nicht mehr, lebte in verschiedenen Welten.
Für den jungen Intellektuellen war die machohafte, ja teils rassistische Welt der kleinen Leute ein Graus. Im Laufe der Jahre verschwanden diese Affekte aus dem sozialistischen Milieu. Aber mit ihnen eben auch die zentrale Frage linker Politik: Die Verteilungsfrage — oder auch die soziale Frage genannt. Eribon erklärt, dass Mitglieder der kommunistischen Partei zwar durchaus rassistische Sätze fallenlassen konnten, aber im Arbeitskampf standen sie geschlossen als Franzosen neben ihrem Kollegen aus dem Maghreb. Er rätselt, wie die soziale Frage „aus der Vorstellungswelt und dem Vokabular der Linken verschwinden“ konnte — und er nennt diese Entwicklung eine „Entleerung des Wesenskerns der Linken“.
Die Linke hat also ihr Wesen aufgegeben, teils verraten — und ist so unwesentlich geworden.
Sie spielt keine Rolle mehr in den westlichen Demokratien, bleibt einflusslos, obwohl die Zeit reif wäre für Wahlalternativen, die sich der Sache der kleinen, der ausgebeuteten, der schuftenden Menschen annimmt. Zur neuen Arbeiterpartei in Frankreich hat sich aber die Le-Pen-Partei entwickelt: Sie hat das Vakuum gefüllt, das die eigentlichen Linken erzeugt haben.
Linke vor und in der Pandemie: Ohne Realitätssinn
Diese kleinen Leute hat die Linke im Grunde vergessen. Oder verraten. Man erinnere sich nur mal daran, wie die ehemalige Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping sich für Billigarbeitskräfte aus Osteuropa einsetzte, damit die Spargelernte gelingen könne. Im Zuge der Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes der letzten Wochen, meldete sich auch ihre Nachfolgerin Janine Wissler zu Wort: Es sei nun notwendig, den Arbeitsalltag zu reglementieren. Der würde von der Bundesregierung quasi ausgeklammert. Jetzt seien Homeoffice, strikte Maskenpflicht und Betriebsstilllegungen umzusetzen. So gehe Seuchenschutz.
Die Frau sitzt einer Partei vor, die sich die Folklore einer Arbeiter- und Angestelltenpartei bewahrt hat. Aber das sind nur rituelle Affekte und leere Worthülsen.
Viele ihrer Mitglieder wissen wenig darüber, wie es tatsächlich ist, von seiner Hände Arbeit lohnabhängig zu sein. So eine Maskenpflicht am Arbeitsplatz mag erträglich sein, wenn ich mich immer wieder ins Einzelbüro verkrümeln kann. Aber doch nicht acht, neun Stunden am Stück im Großraumbüro — und als Pendler noch Stunden darüber hinaus vorher und nachher.
Und Homeoffice: Das trifft doch eh nur eine kleine Zahl von Lohnabhängigen — und ist auch nicht für jedermann daheim umsetzbar.
Überhaupt hat sich die Realitätsverweigerung der Linken innerhalb der Pandemie bestätigt und teilweise sogar verschärft. Dieser Eskapismus, der immer dann die Beine in die Hand nahm, wenn es um realistische Einschätzungen und an der Wirklichkeit messende Beurteilungen ging, war ja schon lange vor der Corona-Zeit etabliert. Ob es nun die Flüchtlingspolitik oder der Klimawandel war: Da beherrschte fatale Ahnungslosigkeit und pflichtvergessene Unangemessenheit den Diskurs.
Schon alleine formulierte Denkansätze, die von einer klar eingeforderten Integrationsbereitschaft nach Deutschland geflüchteter Menschen sprechen, wurden da als rechtslastig disqualifiziert — und in Sachen Klimawandel predigte man Verzicht, einen neuen frugalen Lebensstil ohne Urlaub und Auto und bevorzugte im Grunde das, was noch nie geklappt hat: Man hätte gerne einen neuen Menschentypus erzogen. Während dieser Pandemie vernahm man hier und da aus den linken Netzwerken, dass man im Grunde den Klimawandel mit denselben strikten Verbotsmaßnahmen aufhalten könnte.
Die Einschränkung der Grundgesetze schafft Fantasie.
Übertünchung der sozialen Spaltung
Das Wegsperren der Welt scheint die letzte Antwort zu sein, die eine orientierungslos gewordene Linke noch in petto hat. Es fehlt ihr ein Konzept, ein roter Faden. Jener rote Faden des Arbeitskampfes, der sozialen Frage, die es ja an sich mal gab, ist durch Ideologisierungen dekonstruiert worden. Man verliert sich in der Vielheit, zerlegt die Potenz, die im gemeinsamen Nenner der Werktätigen steckte, und konstituiert eine Spaltung, die schwächt.
Diese Identitätslinke feiert die Unterschiede und weiß nicht mehr, was vereint.
Der Autor Nils Heisterhagen nannte dieses Phänomen in seinem ausgezeichneten Buch „Die liberale Illusion“ ein „Lob der Differenzen“. Unter dem Label „Celebrate diversity“ würde der moderne Kulturliberalismus die Verschiedenheit nur feiern, um damit die soziale Spaltung zu übertünchen. Zwanghaft sucht er nach Divisoren, erzeugt so weitere Gruppen- und gar Grüppchenbildungen. Der Gemeinschaftssinn kommt in dieser Gleichung gar nicht mehr vor. Diese Identitätsvereinzelung mündet in Abschottung und in eine Befangenheit, im Anderen nicht mehr sich selbst, sondern den Träger des Andersseins zu sehen.
Diese Spaltung durch Identitäten begünstigt andere Erscheinungen, die in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen haben: Nämlich die Wokeness und die Radikalisierung politisch korrekter Sprache und der Hang zur Symbolik und zu Bekenntnissen.
Denn es reicht innerhalb des linken Milieus heute ja nicht mehr, der sozialen Frage nachzugehen, sich etwa als Gewerkschaftslinker einzubringen. Man muss die richtigen Worte benutzen, sensibel sein, Safe Spaces beachten und jedem rhetorischen Fettnäpfchen aus dem Weg gehen.
Am allerbesten gelingt das, wenn man Bekenntnisse ablegt, die wohlfeil sind. Gegen rechts nämlich. Gegen Nazis oder gegen die AfD. Da kann man nichts falsch machen, da ist auch die politisch korrekte Sprache ausgehebelt, denn Nazis zu klatschen gilt da als akzeptierte Rohheit, als Unsensibilität, die gestattet ist. Daher geht es auch gar nicht, dass man wie Wagenknecht auf die AfD schielt, auf deren Wähler und sich dort Themen abholt, die die Menschen interessieren.
Denn wenn die AfD weiß sagt, muss man als Gegenbekenntnis schwarz betonen. Ob das dann stimmt oder nicht, ist egal.
So selbstgerecht muss man offenbar sein, wenn man heute als Linker angenommen werden will. Dass Wagenknechts Buch dann auch „Die Selbstgerechten“ heißt, kann man als gute Titelwahl betrachten.
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