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Ruhe bewahren!

Ruhe bewahren!

Die Ängste, die der Ukrainekrieg in uns auslöst, sind die Ursache für sein Fortbestehen.

Ich habe Angst. Das fühle ich in den vergangenen Tagen ganz deutlich in mir aufsteigen, angesichts der über mich hereinbrechenden Nachrichtenflut zur russischen Invasion in der Ukraine. Ich spüre, wie es mich körperlich unter Stress setzt, Sätze zu hören wie: „Wenn er nicht einlenkt, wird Herr Putin (…) einen schrecklichen Fehler für die gesamte Menschheit begangen haben“ oder „Diese Nacht hätte das Ende Europas sein können“.

Ich erwische mich dabei, wie ich im Internet nach Gewissensgründen für die Kriegsdienstverweigerung recherchiere. Informationen, die in meinem subjektiven Relevanzempfinden bisher nie aufgetaucht waren und von denen ich es vor wenigen Wochen nicht im Ansatz für möglich gehalten hätte, dass sie es jemals tun würden.

In meinem Kopf spielen sich imaginierte Horrorszenarien ab. Vor etwa zwei Jahren hätte niemand damit gerechnet, dass ein Virus, ein simples politisches Ereignis, den Großteil der alltäglichen Lebensrealität einer Mehrheit auf den Kopf stellen könnte. Diese Erfahrung sitzt. Wie lange mag es also dauern, bis auch der Krieg in der Ukraine unser bisheriges, zumindest auf militärischer Ebene einigermaßen friedlich verlaufenes Leben, aus den Angeln heben wird (1, 2)?

Diverse politische Entscheidungsträger fordern bereits vehement die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Ich bin zwar eine Frau, aber unter einer grünen Außenministerin wird das wohl kaum eine Rolle spielen. Und tatsächlich: Selbst der Reservistenverband fordert, die Wehrpflicht bei ihrer Wiederbelebung wenn schon, dann für beide Geschlechter zu installieren (3).

„Was wenn ich eingezogen werde?“ — „Dann gibt es sicher die Möglichkeit eines Zivildienstes“, versuche ich mich selbst zu beruhigen. „Wenn ein großer Krieg in Europa ausbricht, ein Weltkrieg vielleicht, dann ist hier nichts mit Zivildienst“, sagt der Anteil in mir, der Angst hat. „Dann kann ich immer noch das Land verlassen oder mich weigern, ins Gefängnis gehen, lieber untertauchen als jemals eine Waffe in die Hand zu nehmen und sie auf einen Mitmenschen zu richten. Das weiß ich. Aber wohin eigentlich untertauchen und was, wenn der Krieg bis nach Deutschland kommt?“

Die Szenarien in meinem Kopf werden immer imaginativer, immer illusionärer und ich weiß, dass sie mit der Realität wenig zu tun haben. Die Konsequenzen meines Handelns, die ich in Gedanken durchspiele, sind mindestens vier, fünf, wenn nicht mehr große Kausalschritte vom Status quo entfernt. Ich weiß auch, dass es keinen Sinn hat, Angst vor etwas zu haben, was noch nicht im Hier und Jetzt angekommen ist, vor allem dann nicht, wenn ich nichts daran ändern kann. Wie ich auf den Löwen reagiere, kann ich entscheiden, wenn er mir an der nächsten Kreuzung gegenübersteht.

Und doch habe ich, gerade nach zwei Jahren Corona, das Bedürfnis, das Extreme abzuwägen, zu wissen, was ich im schlimmsten aller Fälle tun kann, mich auf das maximale Worst-Case-Szenario vorzubereiten, damit es die Wirklichkeit nicht mehr vermag, mich kalt von hinten zu erwischen. Frei nach dem Motto: „Ich muss nur wissen, was mir im schlimmsten Fall passieren kann, dann kann ich eigentlich alles tun, was ich will.“ Dieser Glaubenssatz stimmt zwar und gibt mir auch eine gewisse Sicherheit in einer Welt, die ich nicht berechnen kann. Dennoch ändert er nichts an der Tatsache, dass an der nächsten Kreuzung kein Löwe steht und ich mein Adrenalin zumindest momentan noch ganz umsonst verpulvert habe.

Mein Bedürfnis nach persönlicher Wappnung und Planbarkeit ist fast so groß wie das nach eindeutigen Informationen, danach zu wissen, was ist, zu verstehen, wer zur Durchsetzung welcher Interessen was genau getan hat. Ich habe das Gefühl, dass es Politik und Mediengeschehen diesmal gelungen ist, mich in Beschlag zu nehmen, in Angst zu versetzen und dass mein Verlangen, die Situation eindeutig und vor allem sofort bewerten zu können, mir dabei im Weg steht, eine nüchterne und neutrale Beobachterrolle einzunehmen, wie ich es eigentlich für angemessen hielte.

Ich bin sicher, dass es vielen Menschen in diesen Tagen ähnlich geht, kurze Zeit, nachdem die ersten Nachrichten zum Krieg in der Ukraine über uns hereingebrochen sind, und ich denke auch, dass es unsere Verantwortung ist, uns emotional wieder aus diesem Zustand zu befreien, um rational und intellektuell agieren zu können. Denn diejenigen, die uns bewusst oder unbewusst in ihn hineinmanövriert haben, werden uns mit Sicherheit nicht wieder hinaushelfen.

Der Zaubertrick beginnt meist, bevor der Zuschauer anfängt, genauer hinzusehen. Und während alle wie gebannt auf die Geschehnisse in der Ukraine stieren, bleibt die Frage, was wir vergessen, wo wir nicht hinsehen, was vorher da war und was auch danach in veränderter Form bleiben wird. Um aber auch nur die Möglichkeit zu eröffnen, das zu verstehen, multikausale Zusammenhänge zu erfassen, müssen wir einen Schritt zurücktreten und uns aus der gesellschaftlich verordneten Medienkonsumparalyse lösen.

Identifikation zur Kohärenzerzeugung

Der Krieg im Osten Europas kommt auch der deutschen Regierung als gelegener Zufall daher, um eine möglicherweise ins Kippen geratende innenpolitische Situation zu stabilisieren. Nicht nur, dass der Zustrom zu den Montagsspaziergängen in vielen Städten nicht abreißt, auch die umfassenden Lockerungen ab dem 20. März ließen die Notwendigkeit der Aufarbeitung der vergangenen beiden Jahre in den Fokus rücken — wäre da nicht etwas viel Dringlicheres, Allumfassenderes, worum wir uns alle, und sei es nur in Form eines Profilbildwechsels, nun kümmern müssen. Die Situation der Aufarbeitung könnte dabei durchaus brenzlig für die Verantwortlichen werden.

Die Coronapolitik hat über die zurückliegenden Monate zweifelsfrei einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung traumatisiert. Wie jeder Psychologe bestätigen wird, ist es oft nicht der Moment des Traumas selbst, dem der Zusammenbruch folgt, sondern der, in dem das Verdrängte wieder nach oben steigt, weil Zeit und Kapazität vorhanden sind, es zu bearbeiten.

Durch die aufkommende Kriegsbedrohung wird unser Erregungsniveau weiterhin hochgehalten, wenn nicht sogar noch einmal in die Höhe gejagt. Die Bilder aus der Ukraine führen uns die existenzielle Fragilität des Lebens vor Augen und damit, auf welch absurd abstrakter Ebene sich unsere Diskurse in sonstigen Debatten bewegen.

Mit dem Krieg bricht die Realität wie eine Bombe in eine eingeschläferte, halb dissoziative Gesellschaft, die sonst mit aller Macht versucht, den Schmerz zu vermeiden.

Es ist vor allem eine Bombe der diffusen halbkonkreten Angst, die die Betroffenen auf Hirnstammniveau rutschen lässt. Gerade in solchen Situationen beginnt unser Gehirn, Kohärenz als lebensnotwendig zu empfinden. Wir wollen dem Gesehenen einen Sinn geben, wollen wissen, wer welche Forderungen stellt und Interessen verfolgt, wer böse ist und wem wir vertrauen können, auch oder gerade, wenn es diesen Sinn gar nicht gibt. Das spiegelt sich auch in den medialen und persönlichen Reaktionen auf die militärischen Geschehnisse in der Ukraine wider, bei denen zwei extreme Hauptnarrative hervorstechen, die letztlich beide auf dem verzweifelten Versuch der Orientierung beruhen:

  1. Ich kann meiner Regierung vertrauen. Diese schützt mich und passt auf mich auf. Ich konnte mich bisher auf sie verlassen, also gibt mir die Orientierung an ihr auch jetzt Sicherheit. In den Medien sehe ich, was passiert, und fühle mich mit einer Gruppe verbunden, die ähnlich denkt wie ich. Wladimir Putin vertraue ich nicht, dazu habe ich keinen Grund. Meine Regierung verurteilt die Verbrechen Putins, sie handelt also im Interesse der Opfer. Sie identifiziert Putin als Täter, also ist Putin unser Gegner. Wir stehen an der Seite der Opfer und gehören somit indirekt zu den Geschädigten.
  2. Meiner Regierung kann ich nicht vertrauen, das hat sich in den vergangenen Jahren oft genug gezeigt. Meine Regierung hat mich bisher belogen. Warum sollte sie mir jetzt die Wahrheit sagen? Meine Regierung hat bisher Sündenböcke gesucht, um die eigene Täterschaft zu verschleiern. Warum sollte das diesmal anders sein? Meine Regierung identifiziert Putin als Täter. Meine Regierung lügt, also ist Putin das Opfer ihrer Verleumdung.

Beide Narrative und innerpsychischen Begründungsversuche der eigenen Solidarisierung haben nichts mit einem differenzierten Urteil zu tun. Es sind intuitive Einschätzungen, die in ihrem jeweiligen, hermeneutisch abgesteckten Bezugsrahmen Sinn ergeben, außerhalb dessen aber keiner Überprüfung standhalten.

Diese Narrative sind selbstreferenziell — und doch scheinen sich aus ihnen die politischen Haltungen vieler, die in den zurückliegenden Tagen öffentlich Bezug zur Thematik nahmen, abzuleiten.

Wir neigen dazu, uns grundsätzlich mit den Opfern und nicht mit den Tätern zu solidarisieren oder zumindest mit denjenigen, die wir oder andere für uns als Opfer und Täter identifiziert haben. Dass wir uns hierbei regelmäßig fatal irren können, wissen wir spätestens seit Anna Freuds Analyse zur „Identifikation mit dem Aggressor“, die auch beschreibt, dass es sich bei diesem Irren, dieser Verwechslung von Opfer und Täter, vor allem um einen spontanen Versuch der Angstbewältigung des Ichs handelt.

Also ist es in extremen, Angst auslösenden Sondersituationen grundsätzlich angebracht, auch dem eigenen, vielleicht schon seit langem verinnerlichten, Bild von Opfer und Täter zumindest einmal zu misstrauen, bevor man sich in unüberlegte Übersprungshandlungen stürzt. Es hat keinen Sinn, sich zu verteidigen oder zum großen Gegenangriff zu blasen, wenn wir nicht einmal sicher einschätzen können, wer und ob uns jemand bedroht.

Kultur in der Gegenkultur

Gerade in Kreisen von Menschen, die sich gegen die Coronapolitik der vergangenen Jahre aufgelehnt haben, ist bereits in den ersten Tagen des Ukrainekrieges ein ungeheures Spaltpotenzial zu beobachten. Die Existenzialität und Bedrohlichkeit der Coronakrise sowie die darauf folgenden gesellschaftlichen Umgestaltungen brachten Menschen mit unterschiedlichsten Weltbildern und Anschauungen zueinander. Gerade das barg eine ungeheure Chance zur Überwindung unüberbrückbar geglaubter Meinungsgräben, in denen plötzlich wieder Dialog stattfinden konnte.

Es war in der Szene des Widerstandes zeitweise möglich, auf menschlicher Ebene über etwaige Differenzen zu sprechen, eben weil man ein gemeinsames Anliegen verfolgte, sich auf persönlicher Ebene nicht mehr als Feinde betrachtete. Forderungen gegen die Spaltung der Gesellschaft, die Wiederbelebung eines wirklichen, pluralen und offenen Diskurses, einer anderen Kommunikationskultur, Achtsamkeit im Umgang mit anderen und der eigenen Meinung, der Versuch, einander wieder als Menschen zu begegnen: Um all diese Dinge haben wir uns in den zurückliegenden beiden Jahren mehr denn je bemüht, weil wir es mussten.

Jetzt müssen wir zeigen, dass wir diese Kompetenzen nicht nur vermeintlich erlernt haben, sondern bereit sind, ihre Prämissen auch dann anzuwenden, wenn wir selbst von der Angst ergriffen wurden.

Viele Menschen haben angesichts der Massivität und Bedrohlichkeit der Coronamaßnahmen ein neues emotionales und geistiges Zuhause im Widerstand gefunden: eine Gruppe von Menschen, mit der man sich verbunden fühlte, als die Mehrheitsgesellschaft einen ausschloss. Eine Gemeinschaft, in der die eigene Meinung zu den Maßnahmen Common Sense war, wo man seine Ansichten nicht verstecken musste, sich geistig frei wähnen konnte, ohne für seine Worte und Handlungen Konsequenzen fürchten zu müssen.

Nun wird angesichts der Ukraineproblematik deutlich, dass auch das eine Blase gewesen ist, eine Wohlfühloase, die einem in einer Welt des aufstrebenden Autoritarismus zwar eine wohl verdiente Atempause verschaffen konnte, aber mit der Komplexität und Unbequemlichkeit demokratischer Prozesse abseits von Corona oft überfordert ist. Letztlich versteckt sich in jeder Subkultur, die in Bezug auf ein bestimmtes Thema von einer gewissen Meinungshomogenität gekennzeichnet ist, die Gefahr des schleichenden Toleranzabbaus, wenn dieses Ziel der Homogenität bei einem anderen Thema nicht erreicht werden kann.

Die gesellschaftliche Gruppe der Maßnahmenkritiker und Alternativmedien muss nun, in Anbetracht der doch erheblich auseinanderklaffenden Ansichten beweisen, dass sie ihre eigens gesetzten Ideale selbst anzuwenden weiß und nicht nur als Forderungen an andere richtet. Und ja, es ist schwer, zuzuhören und offen zu bleiben, während man selbst unter Strom steht. Aber es ist auch mutig, die Perspektive des anderen auszuhalten; allem voran jedoch ist es notwendig.

Das erste Opfer des Krieges

Denn eigentlich wissen wir im Moment relativ wenig über die handfeste Realität in der Ukraine. Zwar werden wir von verschiedenen Seiten mithilfe verschiedener propagandistischer Mittel, mit Informationen und Interpretationen beschossen, aber die meisten von uns sind nicht ansatzweise in der Lage, realistisch einschätzen zu können, was davon stimmt und was nicht.

Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges: Das wissen wir so genau, wie dass wir sie meist nur retrospektiv erkennen können. Und auch wenn sich die Verhältnisse an der Front von Tag zu Tag vermeintlich zu klären scheinen, sich langsam ein aus unserer Sicht auf die eine oder andere Weise stimmiges Bild ergibt, so sind Tage und Wochen doch nichts, wenn es darum geht, Kriegsmanöver, verdeckte Interessen und die Sachlage im Krieg realistisch einzuschätzen. Ausnahmesituationen, und der Krieg ist wohl die massivste aller Ausnahmesituationen, sind immer durchzogen von Unwahrheiten und Verschleierungen zur Rechtfertigung des eigenen Handelns.

In der historischen Aufarbeitung ist oft deutlich zu erkennen, dass ein Staat eine Bedrohung erfindet oder hochstilisiert und ein Feindbild kreiert, um den Krieg bei der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Nur kaufen kann man sich im Nachhinein nichts davon. Die Aufdeckung der Wahrheit ist für die handelnden Akteure rückblickend meist kaum mehr bedrohlich, denn die internationalen Systeme und Institutionen der Postmoderne sind so konzipiert, dass zumindest den Großmächten keine ernsthaften Konsequenzen drohen.

Auf der Bühne des Krieges gilt das Recht des Stärkeren, das sich indirekt auch auf den postmilitärischen Frieden ausweitet. Nach dem Krieg wird es oft ersetzt durch das Recht der Moral. Die Gesellschaft ist nun in der Lage zu beurteilen, wer verwerflich und wer sehr verwerflich gehandelt hat, denn die Unschuld stirbt bekanntlich mit dem ersten Schuss. Das geht einher mit der Reduktion der Verantwortung der Verbrecher auf das rein Moralische und letztlich bleibt dem Einzelnen nur die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen, welches bei Personen oder Personengruppen, die einen Krieg entfacht haben, wohl grundsätzlich eher unterdurchschnittlich funktional ausgeprägt ist.

Sind wir Opfer?

Nun sind wir aber gerade jetzt im Krieg und es bleiben die Fragen für den Einzelnen: Wie geht man um mit der Realität? Wie sucht man nach der Wahrheit, wenn von allen Seiten gelogen und manipuliert wird?

Nun, zunächst einmal, indem man genau das anerkennt und damit auch die eigene Unfähigkeit, das Geschehen vollständig zu überblicken. Indem man akzeptiert, dass es keine Seite gibt, der man vertrauen, deren Darstellung man glauben kann; dass die Guten, mit denen man sich identifizieren und bei denen man sich ideologisch am liebsten zu Hause fühlen würde, eine Illusion sind. Es gibt keine Regierungen, Staaten oder militärischen Bündnisse, die Opfer sind.

Opfer sind immer nur die Menschen, die Zerstörungen und Verluste zu erleiden haben, welche durch territoriale, geopolitische, machtstrategische oder Rohstoffinteressen ausgelöst werden.

Opfer ist die Familie, die in Windeseile ihr Hab und Gut in ein Auto wirft, um stundenlang in der Schlange vor der Tankstelle zu warten und sich dann Hals über Kopf nach Polen aufzumachen. Opfer sind die Menschen, die nachts von Bomben- und Fliegeralarmen in Kiew geweckt werden. Opfer sind die an die Front geschickten, russischen Soldaten — unwissend, was sie wirklich erwartet. Opfer ist auch das Mädchen mit russischen Wurzeln, das am Wochenende verzweifelt bei einer Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche anruft, weil es von ihren Mitschülern für Dinge verantwortlich gemacht wird, die es nicht zu verantworten hat.

Zu Opfern werden wir in gewisser Weise alle gemacht, die wir paralysiert zu Hause sitzen und darauf warten, dass die Medien uns die Informationen liefern, die wir mittlerweile hören wollen, um unser festgefahrenes Bild von Gut und Böse zu bestätigen. Opfer aber sind niemals Wolodymyr Selenskij oder Wladimir Putin und schon gar nicht Joe Biden oder die NATO. Die Welt ist komplex und fordert uns heraus, das auszuhalten. Unsere Beobachtung der Medienwelt und der Spiegelung der Ereignisse in der Ukraine nötigt uns mehr Achtsamkeit denn je ab. Achtsamkeit, die uns auch abverlangt, andere Positionen zumindest einmal als gleichwertig wahrzunehmen.

Eine Fähigkeit, an der es offensichtlich doch einigen zu mangeln scheint. Wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine greift in Deutschland und Europa ein allgemeiner antirussischer Rassismus um sich. Die Bayerische Staatsoper annulliert das Engagement einer russischstämmigen Opernsängerin, weil sie sich nicht ausreichend von der Politik ihres Heimatlandes distanziert habe.

Ein italienischer Professor berichtet entrüstet, dass seine Seminare über Fjodor Dostojewski von der Universität Mailand aus aktuellem Anlass gecancelt wurden. Russische Geschäfte werden angegriffen und beschmiert. Das Ukrainische Buch-Institut fordert den weltweiten Boykott sämtlicher russischer Bücher und Verlage. Deutsche Supermärkte nehmen russische Produkte aus dem Sortiment. In den Sozialen Medien grassiert der Aufruf eines Hackerkollektivs, in den Google-Rezensionen zu russischen Restaurants die Betroffenen auf ihre Verantwortung in Bezug auf die Auswirkungen des Krieges aufmerksam zu machen. Russlanddeutsche berichten geschockt über massive Anfeindungen und Übergriffe im Alltag (4, 5, 6, 7, 8, 9, 10).

Angst und Hass

Angst hat auf gesellschaftlicher Ebene oft die Tendenz, sich mit der Zeit in das einzige Gefühl zu verwandeln, das es vermag, sie zu überdecken; das einzige Gefühl, das dem Einzelnen zumindest zeitweise Linderung verschafft: den Hass. Wer sich fürchtet, ist abhängig von demjenigen, vor dem er sich fürchtet. Hass hingegen gibt uns ein Gefühl von Autonomie. Wie jede Art der Abgrenzung bedeutet er: „Ich bin nicht du“, gibt sich damit aber im Gegensatz zur gesunden Autonomie nicht zufrieden, sondern fordert weiter: „Ich will dich zerstören“. Hass gehört zu den destruktivsten Formen menschlichen Ausdrucks. Das Phänomen, dass sich Rassismus und Ausgrenzung aus Unwissenheit und vor allem Unsicherheit entwickeln, ist dabei kein neues.

Erich Fromm unterscheidet zwei Formen des Hasses: den reaktiven Hass, der als verzweifelte Antwort des Ichs auf eine großen Schmerz auslösende Verletzung oder Bedrohung des eigenen Lebens stattfindet, und den charakterbedingten Hass, der zwar auch Reaktion auf eine Bedrohung sein kann, aber bereits früher entstanden und nun zu einer allgemeinen Feindseligkeit in der Persönlichkeitsstruktur gewachsen ist. Die Aktivierung des charakterbedingten Hasses unter der Bevölkerung bezeichnet Fromm deshalb als wichtigstes Mittel zur Vorbereitung eines Angriffskrieges (11).

Wenn wir also den Hass und die Destruktivität, und damit den Krieg und die Ausgrenzung, bekämpfen wollen, hilft es wenig, mit Flaggen und Transparenten gegen den Staatschef eines fremden Landes auf die Straße zu ziehen.

Viel sinnvoller ist es, sich mit den eigenen Ängsten und Gefühlen auseinanderzusetzen und die eigene emotionale Befangenheit, den persönlichen blinden Fleck, auch bei der Konstruktion der eigenen Meinung, immer im Hinterkopf zu behalten.

Wenn wir der Angst ihren Platz zuweisen, sie nicht regieren lassen, haben wir es weder nötig zu hassen, noch uns mit einer Partei des Kriegsgeschehens zu identifizieren. Wir sind dann in der Lage, Menschlichkeit und Empathie mit allen Beteiligten zu empfinden, denn auch wer Täter ist, war in der Regel einmal Opfer. Wenn wir uns das bewusst machen, laufen wir nicht länger Gefahr, uns zur Durchsetzung fremder Interessen auf eine Seite des Krieges ziehen zu lassen, und können authentisch für Frieden und Neutralität eintreten.


Anmerkungen und Quellen:

(1) https://www.rnd.de/promis/sean-penn-angriff-auf-ukraine-ist-brutaler-fehler-FPFZWWOUYVWSVENQKY5K6BT6LY.html
(2) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/ukraine-russland-krieg-wolodymyr-selenskyj-atomkraftwerk-beschuss
(3) https://www.report-k.de/reservistenverband-will-wehrpflicht-fuer-maenner-und-frauen/
(4) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/muenchen-entlaesst-chefdirigent-der-philharmoniker-100.html
(5) https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_91762564/universitaet-mailand-bicocca-cancelt-seminar-ueber-russischen-schriftsteller.html
(6) https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/kauver-oberhausen-nrw-attacke-supermarkt-ukraine-konflikt-russland-polizei-staatsschutz-91387793.html
(7) https://www.boersenblatt.net/news/totalboykott-russischer-buecher-gefordert-229131
(8) https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/supermaerkte-verbannen-russische-produkte-aus-regalen-a-e49ba55a-6440-418e-81eb-cc312c34f614
(9) https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/russische-staatszensur-anonymous-will-russen-per-google-maps-ueber-ukraine-krieg-aufklaeren/28123118.html?ticket=ST-9011191-zLbJZwPkFE7XnURbbs9g-ap1
(10) https://www.dw.com/de/zunehmende-anfeindungen-gegen-russen-in-deutschland/a-61030651
(11) Erich Fromm, Die Kunst des richtigen Lebens, Die Antwort der Liebe, Herder Spektrum 2003, Seite 90 bis 93.


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