Am Tatort befindet sich eine bisher unauffällige Person weiblichen Geschlechts, Alter 55, die vermutlich vergiftet wurde — mit Russophobie. Ich hatte ihr den Aufsatz „Die wilden Felder“ von Alexander G. Markowskij, einem Wissenschaftler am London Center for Policy Research, geschickt. Der Aufsatz schildert, wie die Bolschewiki die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik größtenteils aus ehemals russischen Gebieten zusammengestückelt haben. Das widerspricht natürlich dem westlichen Narrativ von der Ukraine als historisch gewachsenem Nationalstaat. Und das hat eine harsche Antwort auf meine gut gemeinte literarische Gabe ausgelöst.
Russophobie ist ein Narkotikum aus der Familie der westlichen Narrative, das von Dealern aus Politik und Medien einem meist ahnungslosen Publikum verabreicht wird. Die Droge macht abhängig und verlangt nach immer neuen Gaben, um die psychische Balance im Gleichgewicht zu halten. Ab einem gewissen Niveau der Intoxikation ist eine Heilung schwierig, da alle dem Narrativ widersprechenden Informationen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Markowskij, vehement abgelehnt werden.
Eine verräterische Antwort
Die oben genannte Person schreibt mir:
„Hallo Berndt,
ja, das ist schon alles irgendwie nachvollziehbar ... Was ich aber nicht nachvollziehen kann und was mir weder rational noch als Reflex in den Kopf will, ist die ‚Notwendigkeit‘, Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser zu bombardieren, um sich angeblicher Übergriffe zu erwehren. Und dass Putin bei und seit seiner Inthronisation in ‚seinem‘ Russland nicht weniger rigoros durchgegriffen hat, sobald jemand ihn oder seine Macht bedroht hat oder es so schien, ist dir ja sicher bekannt.
Übrigens, einen solchen kritischen Text hinsichtlich der eigenen Regierung hättest du als Russe in Russland dieser Tage wohl kein zweites Mal verschicken können. :-(
Ich schätze, da wären vorgestern schon irgendwelche Putin-Schergen vor deiner Tür gestanden und hätten dich mitgenommen. Gott sei Dank leben wir in einem Teil der Welt, wo man sich größtenteils frei äußern und an regierungskritische Berichte überhaupt herankommen kann. Das dürfte für den normalsterblichen Russen inzwischen ziemlich schwierig sein. Wobei die meisten wohl inzwischen eh gewollt unpolitisch sind. Schöne neue Welt lässt grüßen! Tut mir leid, aber dieser Kreml-Vorstand samt seinem Umfeld ist mir zutiefst unsympathisch.
Was nicht heißt, dass nicht auch der sogenannte Westen skrupellose Vollidioten an die Regierung bringen kann. Demokratie ist sicher auch nicht die beste Regierungsform in Anbetracht zunehmender Volksverblödung.
Was soll man machen? Es ist, wie’s ist, und war noch nie anders ...
Liebe Grüße!“
Meine Recherchen in ihrem Umfeld haben ergeben, dass sie nie in Russland war und keinerlei Kenntnisse über Land und Leute hat. Angesichts völliger Unkenntnis der Materie, über die sie sich äußert, lässt das Beweisstück nur den Schluss zu, dass sie über Jahre hinweg mit erheblichen Dosen Russophobie vergiftet wurde. Anstatt nach der Lektüre des Aufsatzes von Markowskij die westliche Version in Zweifel zu ziehen, attackiert sie Putin. Wer das westliche Narrativ verinnerlicht hat, reagiert aggressiv auf seine Infragestellung. Woher kommt diese aggressive Reaktion?
Das Problem liegt tiefer als es zunächst scheint, denn alles Denken ist „im Dschungel der Emotionen“ verankert.
Daher ist es angeraten, sich zunächst den Emotionen auf psychologischem Wege zu nähern, um ihre Wirkung für die Meinungsbildung zu verstehen (Emotionen/Gefühle/Affekte werden hier als Synonyme verwendet).
Emotionen bei Tier und Mensch
Wer einen Hund hat, sieht und hört, dass sein Tier etwas hat, das wir Emotionen nennen. Der Hund wedelt mit dem Schwanz, springt zur Begrüßung hoch, bellt, jault, fletscht die Zähne und macht vieles andere mehr, das unterschiedliche Stimmungslagen signalisiert. Ich beobachtete, wie Pferde Luftsprünge machten, als sie auf eine Weide mit frischem Gras durften. Wenn wir bei einem Tier keine Emotionen erkennen können, muss das nicht heißen, dass das Tier keine hat.
Die Annahme liegt nahe, dass alle Tiere mit einem entwickelten Gehirn Emotionen haben, womit ihnen nichts weniger als eine Psyche — früher sagte man Seele — zugestanden werden muss. Was sind Emotionen von außen betrachtet? Man könnte sagen, Emotionen sind der Augenschein dessen, wie ein Organismus auf eine gewisse Erregung von innen oder außen reagiert. Emotionen wären also die Darstellung einer bestimmten Erregung, die für Artgenossen oder Feinde Signalfunktion hat. Insofern dienen sie der Verständigung. Das tut Sprache auch, aber auf einer höheren Ebene (1).
So weit, so gut. Wenn Tiere auch Emotionen haben, hieße das aber im Falle des evolutionsgeschichtlich jungen Homo sapiens, dass jene zerebralen (hirnspezifischen) Bereiche, die für Emotionen zuständig sind, stammesgeschichtlich viel älter sind als jene Großhirnlappen, die unser sprachbasiertes Denken steuern, dessen Produkt wir Verstand oder Vernunft nennen.
Die zerebralen Areale, die Sprachsymbole verarbeiten, sind ein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens, dessen Alter, einschließlich der Vorformen, auf circa ein bis zwei Millionen Jahre geschätzt wird. Die Entwicklungslinien der Vorfahren des Schimpansen und des Homo sapiens müssen sich vor etwa 7 Millionen Jahren getrennt haben. Der „nächste Verwandte“ ist daher ein sehr weit entfernter Verwandter.
Da in der Phylogenese (Stammesgeschichte) Jüngeres auf Älterem aufbaut, würde also das erkennende Denken auf dem Humus der Emotionen wachsen. Das würde auch die starke Abhängigkeit des Denkens von Emotionen plausibel machen und andererseits den „eigenartigen“ Charakter von Emotionen erklären. Sie folgen weder Vernunft noch Logik und lassen sich schwer unterdrücken, auch wenn der Verstand es „besser“ weiß. Im täglichen Leben führt das Zusammenspiel von Verstand und Emotion zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. Ab einer gewissen Stärke kann die Emotion sogar zum Reiter werden und der Verstand zum Gaul, der sich in Rationalisierungen vergaloppiert.
Das Regime der Emotionen wird durch das sprachbasierte Denken um die Dimensionen von Raum und Zeit erweitert. Was ist damit gemeint? Tiere leben im Hier und Jetzt, und entsprechend sind ihre Emotionen an Ort und Augenblick gebunden. Der Soziologe Norbert Elias bemerkte einmal, dass die Aufforderung an einen Hund „Stell dir vor, es kommt ein Störenfried, und jetzt belle!“ nicht klappen würde, denn seine Reaktion ist an das tatsächliche Erscheinen eines anderen Hundes gebunden.
Demgegenüber kann ein kleines Mädchen, das mit einer Puppe spielt, traurig sein, weil die Puppe krank sei, und im nächsten Moment wieder fröhlich sein, weil die Puppe wieder gesund ist. Ihre Fantasie hebt sie über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Und Fantasie erst macht menschliche Emotionen wie Liebe oder Hass möglich.
Mit der Entwicklung des sprachbasierten Denkvermögens verändert sich die Verhalten steuernde Funktion emotionsgeladener Impulse. Ein Hund bellt los, wenn er einen „Störenfried“ sieht. Da hält ihn nichts auf. Ein Mensch kann einem verhassten Nachbarn aus dem Weg gehen. In beiden Fällen ist die Emotion das Primäre. Aber ein mit Denkvermögen ausgestattetes Wesen, ein vernunftbegabtes Wesen, wie man zu sagen pflegt, kann den Impuls der Emotionen in eine bestimmte Richtung lenken. Für den Hund ist die Sache erledigt, wenn der andere außer Sichtweite ist, und sein Seelenfrieden ist nicht weiter gestört. Der verhasste Nachbar, der im Gedächtnis des Betreffenden fortlebt, kann die Stimmung trüben, auch wenn er nicht anwesend ist. Fluch und Segen der Überwindung der Bindung an Raum und Zeit!
Poetisch und fantasievoll sind die Vorstellungen, ein göttliches Wesen hätte aus Lehm einen Menschen geformt oder eine Hirschkuh aus dem Eis den ersten Menschen geleckt, wie das in nördlichen Gefilden erzählt wurde. Wirklichkeitsnäher ist wohl die Annahme, dass die Art Homo sapiens sich aus tierischen Vorformen entwickelt hat, mit allen Konsequenzen, die daraus folgen. Wenn man davon ausgeht, dass ein emotionsgesteuertes Wesen dem vernunftbegabten Menschen vorausging und noch immer in ihm steckt, weil Neues auf Altem aufbaut, dann bedeutet das, dass Emotionen immer und überall, in unterschiedlicher Stärke, mit im Spiel sind.
Emotionsgeladene Glaubenswelten
Der vernunftbegabte Mensch fiel nicht vom Himmel, sondern tastete sich im Laufe der kulturellen Entwicklung langsam, in Jahrtausenden, an den heutigen Wissensstand heran. Mit der Vermehrung gesicherten Wissens verringerte sich die Angst vor Teufeln und Dämonen, entsprechend verlor auch der göttliche Gegenspieler an Gewicht.
Vor Kolumbus musste man sich über Amerika keine Gedanken machen, da man nichts davon wusste. Das Ausmaß des Nichtwissens, von dem oben die Rede war, wurde durch die „Globalisierung“ verhältnismäßig nicht kleiner, sondern größer. Der Bereich der eigenen Erfahrung, der persönlich erlebten Wirklichkeit, ist minimal im Vergleich zur großen, weiten Welt, über die wir meinen, Bescheid zu wissen, durch Informationen aus Medien und anderen Quellen. Überprüfen können wir diese Informationen in den seltensten Fällen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie zu glauben. Genau genommen leben wir überwiegend in einer Wolke des Glaubens anstatt auf dem Boden gesicherten Wissens.
Die Geistesgeschichten (Philosophien) der Menschheit sind in ihrem Ursprung überwiegend Geistergeschichten. Menschen früherer Epochen lebten in einer ihnen feindlichen Umwelt, permanent unberechenbaren Naturgewalten ausgesetzt, die sie auf das Wirken von Geistern zurückführten.
„Ihr Leben wäre unerträglich gewesen, hätten sie nicht das Vermögen gehabt, sich das Ausmaß ihres Nichtwissens durch Fantasien zu verdecken, deren Affektgeladenheit die Unsicherheit ihrer Lage, die Ungewissheit ihres Kenntnisbestandes widerspiegelte“ (2).
Nichts ist unerträglicher als die Angst vor einer unbegreiflichen Gefahr. Hier kommt die erlösende Rolle der Fantasie von Geistern und Göttern ins Spiel und mit ihr das Regime der Emotionen.
Denn solche Fantasien werden aus Emotionen geboren. Sie sind Erzählung gewordene Ängste, Hoffnungen oder Träume. Und alle religiösen Rituale wollen letztlich nur eines: in Kontakt treten mit der Fantasie entsprungenen höheren Wesen, sie befragen (Orakel), besänftigen oder um Hilfe bitten, durch Opfer und Fürbitte.
Im Wald, in der Nähe meines Hauses, steht eine kleine Kapelle mit frischem Blumenschmuck auf dem kleinen Altar. In die Wand ist eine Tontafel eingelassen, auf der steht: „Heiliger Antonius hat geholfen. Er wird auch weiter helfen.“
Experimentelle psychologische Forschung fand heraus, dass dort, wo die höchsten emotionalen Ladungen zu finden sind, auch die festesten Überzeugungen vorherrschen. Die stärksten Ladungen finden sich in jenen Bereichen, wo es um Glaubensfragen geht, also um das Reich der reinen Fantasien (3).
Die Religiosität früherer Epochen, von der bisweilen noch kleine versteckte Kapellchen Zeugnis ablegen, war rationalen Gegenargumenten nicht zugänglich. Diese Religiosität ist heute im urbanen Raum weitgehend verblasst. An ihre Stelle treten offenbar pseudoreligiöse Ideologien, die als emotionsgeladener Fanatismus in Erscheinung treten. Diese neuen Heilslehren sind ebenso wenig Gegenargumenten zugänglich wie die alte Religiosität, weil sie letztlich aus emotionalem Antrieb gespeist werden, der den Betroffenen selbst gar nicht bewusst sein muss.
Bisweilen hat man den Eindruck, dass die neuen „Frohen Botschaften“, sei es zum Klima, zur Sprache, zum Geschlecht und zu anderen „woken“ Blüten, nicht das Primäre sind, sondern die treibende Kraft ist Fanatismus um des Fanatismus willen. Vielleicht ist die Vermutung nicht zu abwegig, dass das spirituelle Vakuum, das durch den Verfall der alten Religiosität entstand, mit diesen neuen Heilslehren gefüllt werden soll.
In Deutschland und anderen westlichen Ländern scheint eine Revolution neuen Stils im Gange zu sein. Allüren der „woken“ Szene werden geheiligt und Bestandteil eines neuen pseudoreligiösen Glaubenskanons. Das Auftreten ihrer Missionare, seien es Frauen oder Männer, ist in seiner Unerbittlichkeit durchaus dem der Bußprediger des ausgehenden Mittelalters vergleichbar. Man denke an Savanarola. Auch damals brach eine alte religiöse Welt zusammen. Man kann aber auch „Fridays for Future“ mit dem Kinderkreuzzug des frühen 13. Jahrhunderts vergleichen.
Und zunehmend bestimmen affektgeschwängerte Phantasien das politische Denken und Handeln, sei es zum Klima oder zur Ukraine, auch wenn die vorgestellte Welt mit der realen Welt kaum etwas zu tun hat. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist hierfür ein eklatantes Beispiel. In der Manier von Fieberfantasien wird ihr der Krieg in der Ukraine zum globalen Endkampf zwischen Demokratie und Sklaverei.
Kulturhistorisch gesehen handelt es sich hierbei zweifellos um einen Schritt zurück. Vernunftgeleitete Diplomatie wird durch emotionsgeladene Predigt ersetzt. Ein einmal erreichtes kulturelles Niveau kann durchaus wieder verlorengehen.
Es dauerte fast tausend Jahre, bis jenes der sogenannten Klassischen Antike am Beginn der Neuzeit wieder erreicht wurde.
Die bürgerliche Errungenschaft der Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik, wird mit dem Siegeszug der neuen Heilslehren vernichtet, denn sie treten in der Camouflage von politischen Anliegen auf, sind aber als Heilslehren dem Religiösen zuzurechnen. Die Religion beziehungsweise die Ideologie beherrscht wieder die Politik, wie im Mittelalter — oder wie im Nationalsozialismus.
Psychologie auf animalischen Spuren
Bis vor etwa hundert Jahren gab es die psychologische Forschungsrichtung der Massenpsychologie. Mit ihr waren Namen verbunden wie Gustave Le Bon, Sigmund Freud, William McDougall oder Wilfred Trotter. Diese damaligen Forschungsansätze enthalten zahlreiche interessante Ideen, aber sie wurden nicht weitergeführt. Warum? Wenn deutlich würde, dass Menschen von Natur aus manipulierbar sind, könnte der Glaube an „Freedom and Democracy“ Schaden leiden. Aber sind sie das wirklich?
Der englische Arzt Winfred Trotter führt in seinem 1916 erschienenen Werk „Instincts of the Herd in Peace and War“ (übersetzt: Instinkte der Herde im Frieden und im Krieg) nicht weniges an, was zum Verständnis des Verhaltens der Massen während der Corona-Restriktionen oder zur Erhellung der aktuellen russophoben Hysterie beitragen könnte.
Trotter stellt zunächst einmal fest, dass der Mensch ein Herdentier (social animal) sei. Herdenhaftigkeit (gregariousness) sei eine fundamentale Eigenschaft des Menschen. Und er fragt sich sodann, was die Herdenhaftigkeit bei Herdentieren, seien es Wölfe oder Schafe, ausmacht.
Das auffälligste Merkmal ist ihm der Drang der Tiere, beisammen zu sein. Mit der Herde oder im Rudel zu sein hat absolute Priorität. In der Herde sein bringt Wohlbehagen und Ruhe. Entsprechend löst eine Trennung maximales Unbehagen aus und das unbändige Begehren, sich wieder mit der Herde zu vereinen. Im Sinne der biologischen Auslese lässt sich das laut Trotter so erklären: Der Wolf, der den Impulsen der Herde nicht folgt, verhungert, das Schaf wird gefressen.
Die Vorteile einer größeren Gemeinschaft liegen auf der Hand: Bei Weidetieren vervielfachen sich die Sinne, die Gefahren wittern. Murmeltiere stellen Wächter auf. Bei Alarm, einem bestimmten Pfeifton, verschwinden alle blitzartig in ihrem Bau. Die Bullen der Büffel bilden bei Gefahr mit ihren Leibern eine Art Wagenburg um die Kühe und Kälber in der Mitte. Bei Raubtieren multipliziert sich die Angriffskraft und ermöglicht das Reißen größerer Beute.
Der beobachtbare Gleichklang einer Tierherde legt die Annahme nahe, dass Herdentiere eine besondere Sensibilität für das Verhalten ihrer Mitgenossen haben. Diese Sensibilität geht über jene gegenüber fremden Tieren der gleichen Art hinaus. Impulse, die aus der Herde kommen, haben eine viel größere Wirkung auf das Verhalten eines Tieres als Impulse, die von einem Artgenossen außerhalb der Herde kommen.
Tiere die sich anschließen wollen, weil sie ihre eigene Herde verloren haben, müssen meist für eine „Probezeit“ in einiger Entfernung bleiben. Man könnte hier von „Fremdenfeindlichkeit“ sprechen.
Bei Raubtieren wie Löwen oder Wölfen ist Beute meist knapp, und fremde Artgenossen als Mitesser sind nicht erwünscht, solange der Hunger nicht gestillt ist.
Diese bei Tierherden beobachtbaren Impulse erkennt Trotter auch bei menschlichen Gemeinschaften. Geselligkeit ist eine dominante menschliche Eigenschaft und bringt Wohlbehagen und das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Die physische Trennung von der Familie oder der Bezugsgruppe wird als schmerzlich empfunden. Einsamkeit ist besonders jungen Menschen schwer erträglich. Auch andere Merkmale wie Fremdenfeindlichkeit oder Futterneid sind nur allzu menschlich. Trotter geht aber noch einen Schritt weiter und meint, diese Merkmale des Verhaltens in der physischen Welt auch in die Sphäre der mentalen Beziehungen übertragen zu können.
Er betont, dass die Meinung einer Bezugsgruppe — er spricht von der Herde —, sei es die Familie, ein Verein oder eine Partei, ein größeres Gewicht hat als die Meinungen Außenstehender. Was von der Bezugsgruppe kommt, ist von vornherein bedeutsamer als Impulse von außen. Die Auffassungen der eigenen Gruppe hätten gleichsam a priori Überzeugungskraft. Ein und dieselbe Meinung kann akzeptiert werden, wenn sie aus der Gruppe kommt, und abgelehnt werden, wenn sie von außen kommt. Man denke an das Schicksal von Anträgen der Opposition in deutschen Parlamenten ... Zustimmung zum Gruppenkonsens, mit den anderen einer Meinung sein, schafft Wohlbehagen und Zufriedenheit. Umgekehrt entsteht Stress und Unbehagen, wenn der Gruppenkonsens bedroht wird. Entsprechend heftig fällt die Reaktion aus.
Man wird hinzufügen dürfen, dass die Identifikation mit den Meinungen einer Bezugsgruppe das Selbstgefühl formt und somit ein Aspekt der eigenen Identität ist. Man denke an ein Parteimitglied in vergangenen Zeiten, dem die Partei so etwas wie Heimat war. Widersprechende Meinungen sind daher nicht nur ein sachliches Ärgernis, sondern ein Angriff auf die eigene Identität. Die emotionale und mentale Verankerung in einer Bezugsgruppe mag unter Umständen auch eine intellektuelle Bewegungshemmung zur Folge haben. Auch wenn das Gruppenmitglied eigentlich anderer Meinung ist, vertritt es den Gruppenstandpunkt, da Dissens mit der Gruppe Unlust oder sogar Angst auszulösen vermag.
Trotter verwendet das Vokabular seiner Zeit und spricht von Menschen als Herdentieren, die ihren Instinkten folgen. Das ist wohl etwas über das Ziel hinaus geschossen, denn der Instinkt-Begriff impliziert einen zwanghaften Reaktionsmechanismus, der jene Option unterschlägt, die den Menschen erst zum Menschen macht, nämlich seine Freiheit, den Verstand zu gebrauchen. Der Mensch ist nicht Sklave seiner biologischen Konstitution. Von dieser Einschränkung abgesehen zieht man aus den Ausführungen Trotters Gewinn, wenn man sie nicht als unvermeidliche Konsequenzen der biologischen Konstitution, sondern als wahrscheinliche Tendenzen auffasst, die unserem animalischen Erbe geschuldet sind, das sich stets dann durchsetzt, wenn wir es nicht mit unserem kritischen Verstand daran hindern.
Emotionen einerseits und Herdenhaftigkeit andererseits scheinen Erbstücke aus einer animalischen Vorzeit der Art Homo sapiens zu sein. Ab einer gewissen Stärke der Emotionen schimmert Animalisches durch die dünne Haut der kulturellen Oberfläche.
Kulturen, gleich welcher Art, könnte man als einen Kompromiss der Vernunft mit dem animalischen Erbe ansehen. Welcher Modus Vivendi gefunden wird, ist von Kultur zu Kultur verschieden. In der europäischen Kultur gibt es geschützte Reservate für animalische Orgien: kontrollierte Massenekstasen bei Fußballspielen oder Popkonzerten zum Beispiel.
Vor einem halben Jahrhundert hatten die Beatles Probleme bei Konzerten, weil das ohrenbetäubende Gekreische Tausender Mädchen ihren gewaltigen Lautsprechern Konkurrenz machte. Die erotisierten Teenager kreischten sich buchstäblich in Ekstase und wollten die Bühne stürmen. „Beatlemania“ nannte man das.
Der Pegel der Emotionen von Menschenmassen lässt sich gezielt steigern
Die Intendanten des Coronaregimes setzten ein unfehlbares Mittel ein: Sie verbreiteten Todesangst. Und die Verängstigten bestärkten sich gegenseitig in ihrer Angst und wurden gleichsam zu einer gefügigen Herde. Bei dieser Prozedur waren die Leitmedien die Scharfmacher, die die Angst der Herde durch nicht enden wollende Horrormeldungen schürten.
Und unisono machten sie Front gegen jene Ungläubigen, die sich von den weiß gekleideten Missionaren mit der Impfspritze nicht bekehren lassen wollten. Diese Unbekehrbaren störten den Glauben der Herde an einen erlösenden Impfstoff. Aber die Herde reagierte aggressiv auf Dissens. Deshalb wurden sie als Leugner und Querdenker diffamiert. Wer den Glaubenskanon der Herde infrage stellte, wurde angefeindet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das verhinderte eine sachliche Diskussion zwischen den beiden Seiten.
Der aus tatsächlicher Todesangst geborene Herdenimpuls machte die Herdengenossen (4) auch wehrlos gegenüber dem Verlust ihrer Freiheit. Die Menschen ließen sich Zumutungen gefallen, die sie in normalen Zeiten empört abgelehnt hätten. Zum Beispiel die Aufforderung, dass Enkelkinder ihre Großeltern nicht besuchen sollten, weil sie als Virenüberträger an deren Tode schuld sein würden.
Das Kartell aus Politik und Medien, das für das Coronaregime zeichnete, setzte auf Todesangst. Mit Erfolg! Die Beschneidung der Freiheit der Menschen gelang verblüffend leicht. Im Fall der Ukraine setzt das Kartell auf Hass — Hass gegen den Teufel in Menschengestalt, Putin, den kriegsgeilen Despoten, dessen imperiale Gelüste außer Rand und Band geraten sind. Hass ist der Treibstoff, der das Feuer der Emotionen am Lodern halten soll.
Und es ist nur folgerichtig, wenn alle widersprechenden, russischen Informationen restlos ausgeblendet werden. Sehr viele Russen kritisieren Putin, weil er zu lange mit der militärischen Hilfe für den Donbass gewartet habe, und werfen ihm Naivität vor, dem Westen in Bezug auf das Minsker Abkommen so lange gefolgt zu sein. Aber dennoch hat Putin in Russland Zustimmungswerte ,von denen ein Olaf Scholz nur träumen kann.
Das Frankenstein-Monster, welches das Kartell als Putin ausgibt, ist ein Phantom und hat mit der Realität nichts zu tun. Dieser Putin-Verriss stellt die Wirklichkeit auf den Kopf, löst aber ein Wohlbefinden, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen, bei denen aus, die daran glauben.
Der Hass auf das Phantom Putin durchdringt im Westen das gesamte öffentliche Leben, und es ist kaum möglich, sich seinem Einfluss zu entziehen. Nicht wenige werden geradezu in den Modus einer Kreuzzugstimmung versetzt.
Und auch hier wird jede Infragestellung wütend bekämpft, auch hier werden die Gegner diffamiert und massiv sanktioniert. Auch hier ist sachliche Auseinandersetzung nicht möglich, weil nicht Fakten, sondern Emotionen die Szene beherrschen.
Putinhass schafft Wohlbehagen
Die oben genannte Briefschreiberin assoziiert Putin mit einem Zaren, wenn sie von seiner „Inthronisation“ schreibt. Er würde „rigoros“ durchgreifen, wenn jemand seine Macht bedroht, und Russen, die aufmucken, werden von seinen „Schergen“ abgeführt. Die Russen seien deshalb „gewollt unpolitisch“.
Tatsächlich stieg das Interesse an der Politik in Russland seit den Ereignissen des Jahres 2014 sprunghaft an. Es ist vielleicht nicht übertrieben zu sagen, dass es in Russland so etwas wie einen nationalen Aufbruch gibt.
Erstaunlich, wie man sich so abschätzig über ein Land äußern kann, in dem man noch nie gewesen ist. Dennoch muss man Nachsicht gegenüber der Briefschreiberin walten lassen, denn sie ist in dieser Hinsicht kein Ausnahmefall, ganz im Gegenteil. Der Gestank der Russophobie wabert hierzulande schon seit Generationen durch den öffentlichen Raum. Es gehört zum guten Ton, sich negativ über Russland zu äußern. Damit ist man auf der Höhe der Zeit, ist mit dabei, gehört dazu. Das beruhigt und schafft Wohlbehagen.
Die Geschichte der Russenverachtung ist eine alte Mär. Die deutsche Kriegspropaganda während des Ersten Weltkrieges karikierte „den Russen“ als groben, bärtigen Bauernlümmel: Fellmütze auf rundem Schädel, Stupsnase und dummer Blick, breitbeinig, in überdimensionalen Filzstiefeln verankert, mit Wodkaflaschen im weiten Soldatenmantel.
In einem Kinderbuch der Zeit heißt es:
„Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ! (…)
Klein Willi greift sich das Gewehr, piff, paff, der Russe lebt nicht mehr.“
Im Nationalsozialismus wurde die Russenverachtung mithilfe einer Rassenlehre verfeinert. Die „ostische Rasse“ war minderwertig.
„Der Russe braucht die Knute“, sagte unser Geschichtslehrer mit lauter Stimme. Und bei diesem Satz zuckte der kleine Mann so zusammen, als ob ihm jemand einen heftigen Schlag versetzen wollte. Ich weiß nicht mehr, warum die Rede auf den Russen kam, aber die Geste des Zusammenzuckens hat sich meinem kindlichen Gedächtnis eingeprägt. Er war ein sehr beliebter Lehrer, weil er so spannend erzählen konnte, formal gesehen ein hervorragender Pädagoge. Das trug sich zehn oder elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu — in einem Salzburger Gymnasium.
Die Russophobie ist gleichsam soziales Erbgut in deutschen Landen, und es scheint eine Herdenimmunität gegen wirklichkeitsnähere Einsichten zu geben.
Weiter erfahren wir von unserer Briefschreiberin:
„Gott sei Dank leben wir in einem Teil der Welt, wo man sich größtenteils frei äußern und an regierungskritische Berichte überhaupt herankommen kann.“
Daniele Ganser, Ulrike Guérot, Sucharit Bhakdi, Ken Jebsen und viele andere würden der Behauptung, man könne sich frei äußern, wohl widersprechen. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit lässt sich, wie der Druck von Daumenschrauben, graduell verstärken. Das fängt bei den Filtern von Google oder den Manipulationen der Wikipedia an, geht weiter über Diffamierungen in den sogenannten Leitmedien, führt zu Auftrittsverboten in öffentlichen Räumen und kann bis zu existenzieller Vernichtung gehen. Selbst ein ehemaliger Chefredakteur des Springer-Blattes Die Welt wie Roger Köppel wird von ARD und ZDF gemieden.
Die wichtigsten Zugänge zu regierungskritischen Berichten wurden, wie die Nord-Stream-Röhren, gekappt. Ein ausgewogenes Urteil in einer kriegerischen Auseinandersetzung erfordert den Zugang zu den Verlautbarungen beider Seiten. Schon die römische Rechtsprechung wusste: „Audiatur et altera pars“ — es werde auch die andere Seite gehört.
Die BRD hat ihre Schäfchen von allen russischen Informationsquellen abgeschnitten. Das begann mit der Verweigerung der Zulassung des deutschsprachigen RT-TV-Kanals, der Abschaltung der russischsprachigen (!) Kanäle auf Eutelsat/Hotbird und ging bis zu Sperren russischer Webseiten im Internet. Sperren kann man zwar umgehen, aber man muss wissen, wie. Ein Regime, das so vorgeht, hat Leichen im Keller. Zwei Themen dürfen keinesfalls aufgerollt werden: die westlichen Provokationen, die den Krieg auslösten, und der faschistische Charakter des Kiewer Regimes.
Die Sprengung aller russischen Informationskanäle hatte intern einen gravierenden Kollateralschaden zur Folge, der zunächst nicht ins Auge springt: Mit der Vernichtung des Zugangs zur gegnerischen Argumentation bekommt das westliche Narrativ eine Allmachtstellung, mit der die Kontrollfunktion der sogenannten vierten Gewalt, der Medien, gegenstandslos wird.
Das Phantom frisst seine Väter.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Über den Zusammenhang von Sprache, Denken, Fantasie und Bewusstsein siehe den Aufsatz des Autors „Die verlorene Mimik“ in Rubikon/Manova.
(2) Norbert Elias: Engagement und Distanzierung, Frankfurt am Main 1987
(3) Seth Duncan und Lisa Feldmann Barett: Affect is a form of cognition: A neurobiological analysis, National Institute of Health, Cogn. Emot. September 2007; 21/6
(4) Das grammatikalische Maskulinum gewisser deutscher Substantive in der Pluralform wie „die Besucher“ oder „die Einwohner“ gilt dem Sinn nach für Männer und Frauen und sollte nicht einseitig als biologisches Geschlecht interpretiert werden. Sprachverschandlung aus ideologischen Gründen wird hier abgelehnt.
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