Diejenigen, die sich für das Wohl der Menschheit engagieren, könnte man – so scheint es mir manchmal – in zwei Lager aufteilen: „die Politischen” und „die Spirituellen”. In beiden Gruppen sollte man zunächst zwischen weniger hoch und höher entwickelten Formen des Engagements unterscheiden.
Eine fundamentalistische Geisteshaltung kennzeichnet unreife politische Einstellungen. Fundamentalisten verstehen die eigenen Grundsätze als die einzig Wahren. Sie halten an vorgegebenen Regeln und Ideologien fest oder fordern eine Rückbesinnung auf diese ein. Wer das akzeptiert, verhält sich gesellschaftskonform und genießt Unterstützung. Die Gesinnung zu hinterfragen, ist unerwünscht. Fremde Überzeugungen lässt man nicht gelten und schließt Andersdenkende aus. Im Extremfall kämpfen Fundamentalisten mit radikalen und gewalttätigen Mitteln um gesellschaftliche Vormacht.
Reife Politik
Reife politische Entscheidungsfindung erwächst aus argumentativem Austausch. Menschen mit einer reifen politischen Einstellung verfügen über eine offene Grundhaltung. Sie hinterfragen bestehende Denkmuster und lassen Kritik an eigenen Wertvorstellungen zu. Sie interessieren sich für die Sichtweisen anderer. Sie wollen diese nachvollziehen, um ihren eigenen Horizont zu erweitern. Dadurch entwickeln sie Toleranz auch für abweichende Meinungen. Sie schauen über den Tellerrand der eigenen Gruppeninteressen hinaus und beziehen das Wirken komplexer Systemzusammenhänge in ihr Denken und Handeln ein. Widersprüche zwischen Thesen und Antithesen lösen sich in umfassenderen Synthesen auf. Geschieht dies nicht, bleibt die Möglichkeit zu demokratischer Mehrheitsbildung.
Befreiende Spiritualität
Auch im Feld der Spiritualität gibt es unreife und reife Ausformungen. Erstere sind von egozentrischen Wunscherfüllungsfantasien durchzogen. Hier herrscht magisches Denken vor. Diese Menschen glauben, alles Ersehnte – quasi per Knopfdruck – kraft der eigenen Gedanken herbeizaubern zu können. Oder sie projizieren solche Allmachtsfantasien nach draußen, dann sollen Götter oder gottgleiche Gurus die Erlösung bringen unter der Voraussetzung, dass diese ihnen gefallen und sich ihnen unterwerfen. Zu dieser Art von Spiritualität gehört die Faszination für Symbole und Rituale. Religiöse Schriften werden wortwörtlich interpretiert. Wer daran glaubt, wird selig. Alle anderen werden als ungläubige Zweifler verbannt. Extreme Verzerrungen unreifer Spiritualität führen zu Heiligem Krieg und Terror im Namen der eigenen Gottesbilder.
Ken Wilber bezeichnet diese Art der Spiritualität in seinem Integralen Modell als prärational (prä = vor, ratio = Vernunft). Manche verwechseln diese mit reifer, transrationaler (trans = über/hinaus) Spiritualität, weil beide Formen einen nicht-rationalen Charakter haben. Doch beide unterscheiden sich wie Tag und Nacht.
Reife spirituelle Erkenntnis achtet den Wert der Vernunft, entlarvt aber auch ihre Begrenztheit. Sie gewinnt einen befreienden Abstand zu Denkprozessen.
Die Ratio wird vom Herrscher im Kopf zum Diener einer höheren Intelligenz. Dabei wandeln sich „Entweder-oder-Standpunkte” zu – manchmal paradox erscheinenden – „Sowohl-als-auch-Sichtweisen”. Weitsicht und Intuition blühen auf.
Schließlich erfährt Bewusstsein sich selbst jenseits von gedanklichen Reflexionen. Im Aufleuchten stillen Gewahrseins kommen sämtliche trennenden Vorstellungen zur Ruhe. Sogar unser sonst fragloses Ich-Gefühl – eine von der Welt und anderen getrennte Person zu sein – wird als Illusion erkannt. Der Glaube an seine Realität löst sich im Erleben eines alles verbindenden Einsseins auf. Daraus erwächst umfassendes Mitgefühl. Der persönliche Wille ordnet sich dem größeren Gefüge des göttlichen Plans unter. Sowohl wiederauftauchende Selbst- und Weltbilder als auch persönliche Bedürfnisse werden jetzt in der Weiträumigkeit innerer Freiheit und natürlicher Erfüllung erfahren.
Egozentrische Weicheier
Eigentlich sollte man meinen, dass Menschen mit einem reifen politischen beziehungsweise spirituellen Engagement viel gemeinsam hätten. Doch noch in jüngster Vergangenheit konnten sich beide Lager häufig nicht „riechen“. Klischees führten zu gegenseitiger Abwertung. Wenn im Folgenden von „den Spirituellen” und „den Politischen” die Rede ist, sind die unreifen Formen von Engagement gemeint.
Die Politischen sahen die Spirituellen als eine Art egozentrischer Weicheier. Sie warfen ihnen vor, auf Yogamatte und Meditationskissen ihre Bestellungen beim Universum bloß für ihr eigenes Wellness-Glück zu tätigen.
Das Bedürfnis nach innerer Versenkung mit einem Buddha-Lächeln auf den Lippen? Sehnsüchte nach der Rückkehr in die Gebärmutter! Gewaltfrei kommunizieren? Das ist feige Vermeidung echter Konfrontation! Mit Schattenarbeit die eigenen Gefühle annehmen? Nichts als unnütze Nabelschau! Im Urlaub zum Schweige-Retreat ins Kloster? Ist verantwortungslose Weltflucht! In der Arbeitspause die taz liegen lassen und auf den Atem achten? Noch so ein bequem eigennütziger Spinner!
Auf einen Satz wie „Der Yogi im Himalaja trägt genauso zum Weltfrieden bei wie der Friedensaktivist bei Amnesty International” erntete der Spirituelle ein verächtliches Kontra. „Noch alle Tassen im Schrank? Wer wirklich Mumm hat, geht auf Demos, besetzt Häuser oder setzt sich auf andere Weise konkret für Gerechtigkeit und Freiheit ein!”
Zwangsaktivisten mit Helfersyndrom
Auch die Spirituellen konnten gut über die Politischen lästern: Das sind doch alles Zwangsaktivisten mit Helfersyndrom. Gegen das Leid in der Welt ankämpfen? Wie unbewusst! Hehre politische Motive sind allein auf unverarbeitete, seelische Schattenanteile zurückzuführen. Der „Spiri” ist sich sicher: Politische Aktivisten bekämpfen im Außen (im Spiri-Jargon gerne „dem Außen” genannt), was sie im Inneren nicht integrieren können.
Gelassenheit und Glück unabhängig von äußeren Bedingungen in sich selbst finden? Ist bei diesen Getriebenen doch Fehlanzeige! Stehen ihnen Frust und Unzufriedenheit nicht ins Gesicht geschrieben? Voller Groll und Angst ziehen sie in die Schlacht für Frieden und Freiheit in der Welt! Wie soll das denn gelingen? Damit rufen sie doch nur das Gleiche hervor, was sie aussenden: noch mehr Groll und Angst, weitere Feindbilder, neuen Hass und neue Kriege! Eine Partei gründen und sich für Unterdrückte einsetzen? Ach ja, das Helfersyndrom! Oberflächenkosmetik für die eigene Hilflosigkeit und Abwehr des eigenen Schmerzes!
Der Einladung der Aktivisten „Komm doch auch mal zur Friedensmahnwache oder poste was politisch Aufgeklärtes im Web” entgegnete der Spirituelle mild lächelnd: „Wahre Freiheit ist nur in Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung zu finden. Schau nach innen! Erst wenn du mit dir selbst in Frieden bist, kannst du Frieden in der Welt bewirken!”
Homo spiripolitens?
Auch heute finden sich noch diese Lagerkämpfe. Zugleich hat sich die spirituell-politische Landschaft verändert. Es wäre verfrüht, schon jetzt einen neuen Homo spiripolitens oder Homo polispiritens auszurufen. Doch immer mehr politisch engagierte Menschen verfügen auch über eine spirituelle Grundhaltung. Und die spirituell Engagierten fühlen sich zunehmend zu politischen Betrachtungen und Handlungen hingezogen.
Um besser zu verstehen, wie politisches und spirituelles Denken und Handeln zusammenhängen, liefert uns die buddhistische Philosophie wertvolle Hinweise. Die „vier edlen Wahrheiten” sind die ersten Erörterungen des Buddhas kurz nach seinem Erwachen. Sie werden als wesentliche Zusammenfassung von Buddhas Lehre gesehen. Kurz lauten sie:
- Das (unerwachte) Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll.
- Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung.
- Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden.
- Zum Erlöschen des Leidens führt der Edle Achtfache Pfad.
Besonders die zweite der vier edlen Wahrheiten über die Ursache des Leidens kann uns die Augen öffnen. Wir müssen Gier, Hass und Verblendung nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten, um klar zu sehen, was die Spirituellen und die Politischen verbindet und unterscheidet.
Eine Wirklichkeit – zwei Welten
Welche beiden Perspektiven vervollständigen das Puzzle? Die Antwort ist nahezu banal: innen und außen. Der Unterschied ist einfach. Nehmen wir an, wir schließen die Augen und spüren in uns hinein. Was entdecken wir?
Sind unsere Hände warm oder frösteln wir? Drehen sich unsere Gedanken darum, wie dieser Text weitergeht, oder um den letzten Streit mit uns nahen Menschen? Ist unsere Stimmung eher heiter, getrübt oder ganz indifferent? Wir spüren Empfindungen unserer Sinne. Wir beobachten unsere Gedanken und inneren Bilderwelten. Wir fühlen Stimmungen. Wir spüren die schlichte Tatsache, bewusst zu sein. Das ist die Innenwelt.
Öffnen wir die Augen, sehen wir die Außenwelt. Wir schauen wieder auf die Buchstaben dieses Textes. Wir hören Geräusche. Wir spüren die Luft. Säßen wir gerade in einem Café, würden wir beobachten, was Menschen um uns herum tun.
Stellen wir uns vor, wir könnten aus unserem Stuhl heraus in die Luft schweben, immer weiter nach oben. Erst sehen wir die nahe Umgebung, unsere Stadt oder unser Dorf. Wir steigen weiter empor. Wir sehen auf unser Heimatland hinab. Dann auch auf Nachbarländer und ganze Kontinente. Jetzt konzentrieren wir uns auf das politische Weltgeschehen. Wir sehen wohlhabende Länder, in denen Frieden herrscht. Dort geht es vielen Menschen gut. Wir sehen auch arme Gegenden mit chaotischen Verhältnissen. Hier werden Menschen unterdrückt. Sie leiden Mangel. Sie hungern, sie verhungern. In den Kriegsgebieten sehen wir Panzer rollen und Bomben explodieren. Häuser werden zerstört, Körper zerfetzt, Leichen verfaulen. Beim Betrachten der Welt fällt unser Blick auf entsetzlich viel Leid.
Die beiden Grunddimensionen von innen und außen sind für den amerikanischen Philosophen Ken Wilber wichtige Elemente seines „Integralen Modells des Bewusstseins”.
Nach Wilber sollten wir bei Betrachtungen der Wirklichkeit immer beide Perspektiven – die äußere und die innere – gleichberechtigt würdigen. Sie besitzen beide Gültigkeit. Denn beide untersuchen die Wirklichkeit. Beide wollen Klarheit. Und beide wollen Freiheit vom Leiden! Nur eine dieser beiden Perspektiven als „die einzig wahre Wahrheit” zu verklären, führt zu verengter und irreführender Erkenntnis.
Gier, Hass und Verblendung lösen
Jetzt müssen wir nur noch die Dimensionen von innen und außen mit der zweiten edlen Wahrheit Buddhas von den Ursachen des Leidens verknüpfen. Schon wird uns klar, dass beide Lager, die Spirituellen und die Politischen, vieles gemeinsam haben. Beide sind feinfühlig für das Leiden des Menschen. Sie erkennen Gier, Hass und Verblendung als wesentliche Ursachen dieses Leidens. Sie erstreben beide die Freiheit von Gier, Hass und Verblendung und damit das Erlöschen des Leidens. Doch unterscheidet sich die Weise, wie sie das tun.
Die Spirituellen betonen die Innenperspektive. Sie wollen über den „normalen“ inneren Kummer und die menschliche Unzufriedenheit hinausgehen. Sie plädieren für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Dynamik von Gier, Hass und Verblendung. Sie erkennen, dass das ständige Verlangen nach mehr und mehr nur zu mehr und mehr Leiden führt. Sie lösen sich vom Zwang, stets haben und verändern zu wollen. Sie lassen auch die ewigen Selbst- und Weltverbesserungsprogramme zur Ruhe kommen. Und, oh Wunder: Sie entdecken eine innere Erfüllung, die sich selbst genug ist. Sie spüren ein Glück, das keine äußeren Ursachen braucht.
Die Spirituellen erforschen auch ihren Hass. Sie erkennen, wie Widerstand, Abwehr und Ablehnung innerliche Enge erzeugen. Sie lernen loszulassen, sich zu öffnen, anzunehmen. Selbst den heftigsten Schmerz umfangen sie mit Einverständnis und Liebe. Dadurch schmilzt ihr Zorn hinweg. Darunter kommt allumfassender Frieden zum Vorschein.
Die Spirituellen erhellen mutig die dunkelsten Ecken ihrer Psyche. Sie durchschauen die Verblendung durch zunächst weitgehend unbewusste Glaubenssätze des Mangels, Misstrauens und Kampfes. Sie lösen sich von der Identifikation mit einer begrenzten und von anderen getrennten Form. Das mündet in der mystischen Erfahrung unbegrenzter Weite und des Einsseins aller Wesen.
Empörung und Entsetzen nutzen
Auch die Politischen sind feinfühlig gegenüber Gier, Hass und Verblendung. Sie erkennen deren schädliche Auswirkungen in der Außenwelt.
Sie empören sich darüber, wie Habsucht in der Welt zu Ungerechtigkeit führt. Sie sind entsetzt darüber, dass Menschen unter Willkür und Brutalität leiden müssen. Sie hören die Lügen und Propaganda der Mächtigen und sind erschüttert. Das alles zu Recht! Es gibt verdammt viel herzzerreißendes Leid in der Welt. Dafür empfinden die Politischen Mitgefühl. Sie wollen helfen.
Ihre Lösungsversuche sind – gemäß ihrer Wahrnehmungsausrichtung – auf die Außenwelt bezogen. Sie treten für bessere Gesetze und gerechtere Machtverhältnisse ein. Sie wollen eine ausgeglichene Verteilungspolitik, ein faires Wirtschaftssystem, friedliche Formen der Konfliktlösung. Sie fordern Transparenz für politische und wirtschaftliche Abläufe. Ihnen sind Nachhaltigkeit und Umweltschutz wichtig. Die Politischen wollen, dass alle Menschen in Fülle, äußerem Frieden und mit freiem Zugang zu Informationen leben. Das sind achtenswerte Ziele. Für einen kleinen Teil der Menschheit – vor allem im westlichen Kulturkreis – gilt das heute schon in einem erfreulichen Ausmaß. Dafür dürfen wir den politisch engagierten Vorreitern und ihrem oft selbstlosen Einsatz dankbar sein.
Das Gift der Einseitigkeit
Die Politischen und die Spirituellen haben beide gute Absichten. Beide laufen aber Gefahr, in die Falle der Einseitigkeit zu geraten. Vor allem dann, wenn eine Seite glaubt, sie hätte einen Alleinvertretungsanspruch auf die Wahrheit gepachtet.
Das Motto der Spirituellen „Erst inneren Frieden, dann Engagement für die Welt” führt im Extrem zu egozentrischer Nabelschau. Dann geht es nur noch um das persönliche Glück. „Das Leiden der Welt ist doch bloß Illusion. Hauptsache, ich habe meinen Frieden in mir.” Das ist die traurige Losung einer giftigen Spiritualität.
Die Politischen neigen zum anderen Extrem: „Erst wenn der Weltfrieden hergestellt ist, können wir auch innere Erfüllung erleben.” Das ist ein Aufschieben von Glück im Namen einer falsch verstandenen Selbstlosigkeit. Es verleitet dazu, das Innenleben außer Acht zu lassen. Eigene Schattenanteile von Wut, Angst und Hilflosigkeit werden unerkannt nach außen projiziert.
Leben die Politischen Empörung, Entsetzen und Erschütterung ohne innere Weisheit aus, fördert dies neue Feindbilder und den Krieg von Menschen mit gegensätzlichen Standpunkten. Die Folge sind zerstörerische Lösungsversuche. „Einige böse Menschen sind immer noch für die Todesstrafe. Das regt mich echt auf. Wir sollten diese Schweine umbringen!” Solche oder auch schon harmlosere ähnliche Gedanken sind der Anfang von erneutem Faschismus.
Statt Frieden zu säen, streuen die Politischen wieder einmal den Samen der Gewalt und wundern sich über die Ernte.
Der buddhistische Weise Nagarjuna sagte im zweiten Jahrhundert: „Es gibt nur eine falsche Sicht – die Überzeugung, meine Sicht sei die einzig richtige.”
Sowohl als auch
Werden wir uns der schädlichen Auswirkungen der Extreme bewusst, verlassen wir die Irrpfade und entdecken eine heilsame Weitsicht. Anstelle des Entweder-oder zwischen Spiritualität und Politik eröffnet sich uns ein kraftvolles Sowohl-als-auch. Beide Seiten können voneinander lernen.
Die Politischen brauchen ein höheres Maß an klärender Innenschau. Der bewusste Umgang mit Wut, Angst und Hilflosigkeit kann ihre Handlungsweisen von zerstörerischen Impulsen bereinigen. Ein Verständnis für das Innenleben des Menschen fördert bei Konfliktpartnern das gegenseitige politische Einfühlen. Das erleichtert friedvolle Kommunikation und wirksame Lösungsentwicklung.
Nicht zuletzt dürfen auch politisch engagierte Menschen sich erlauben, in der schon jetzt zugänglichen Erfüllung unseres spirituellen Wesenskernes zu ruhen. Was nützt es ihnen und ihren Zielen, wenn sie sich – getrieben von guten Motiven – für politische Ziele verausgaben und dabei unzufrieden sind und ausbrennen?
Außerdem wirken sie weniger glaubwürdig, wenn man ihnen ihre Frustration deutlich anmerkt. Politisch engagierten Menschen, die mit der spirituellen Quelle in sich verbunden sind, steht viel mehr Kraft zur Verfügung. Sie strahlen Freude aus, sodass man Lust bekommt, mitzumachen und sie zu unterstützen, was ihre Wirkung verstärkt.
Aber auch die Spirituellen können von den Politischen lernen. Die feinfühlige und genaue Innenschau des geübten Meditierers kann sich auch auf die Wahrnehmung der Außenwelt richten.
Erwachen und Bewusstwerdung heißt auch, eine weite, vorurteilslose Sicht auf das regionale, nationale und globale Weltgeschehen zu entwickeln. Bei Themen wie Informationsvielfalt, Meinungsfreiheit, Verteilungsgerechtigkeit, demokratischer Mitbestimmung, Konfliktbewältigung, Umweltschutz und vielem mehr ist auch praktisches Handeln angesagt. Dazu können die Politischen anregen und mit ihrem Wissen unterstützen.
Der Spirituelle darf auf seinem Meditationskissen gerne ein bewusstseinserweiterndes „Ooom” hauchen und in die Tiefen reinen Seins abtauchen, aber er ist halbseitig blind, wenn er zugleich sein Geld zum Zwecke maximaler Rendite bei einem Unternehmen „arbeiten lässt”, das Mensch und Umwelt rücksichtslos ausbeutet. Die Außenwelt ist die andere Hälfte des zu Betrachtenden.
Ein hohes Maß an Unbewusstheit in Bezug auf die Außenwelt stellt auch die Tiefe der besten Innenschau infrage. Hier muss der Spirituelle sich vom Politischen aufklären und Taten folgen lassen.
Raus aus dem Hinterstübchen
Je mehr spirituelle Weisheit und politisches Verständnis zusammenfließen, desto echter und wirksamer entfalten sich innerer und äußerer Friede. Vereinzelt gab es schon immer Persönlichkeiten mit dieser kraftvollen Mischung: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi und der Dalai Lama bewirkten und bewirken Großes – vermutlich gerade durch ihre spirituelle Tiefe.
Heute scheint die Zeit reif dafür zu sein, dass mehr und mehr Menschen den Mut haben, spirituelle und politische Sichtweisen zu verbinden, und das nicht nur im Hinterstübchen eines intimen Freundeskreises. Das ist eine Herausforderung.
Der politisch aktive Künstler Konstantin Wecker schrieb 2014 auf seiner Online-Plattform: „In der linken Szene ist es teilweise Ehrensache, in Sachen Spiritualität rationalistisch drüber oder wenigstens gleichgültig daneben zu stehen. Auch in diesem Webmagazin hatten wir teilweise mit Gegenwind zu kämpfen, wenn wir es wagten, den Bereich des Geistigen oder Göttlichen nicht ausschließlich in den Kategorien einer Verschwörung zwischen Kapital und Vertröstungstheologie zu betrachten.”
In seinem Buch „Mönch und Krieger” stellt er ganz offen die These auf, dass „Spiritualität in der politischen Arbeit nicht nur erlaubt ist (quasi als verschämtes Gebet zwischen zwei Demos), sondern diese sogar befeuern kann.”
Friede für alle Wesen
Die Wirklichkeit, die da zu sich selbst erwacht, hat zwei Gesichter: ein inneres und ein äußeres. Es ist ein einziges, unauflösbar miteinander zusammenhängendes Sein, das sein selbst erschaffenes Drama des Leidens in menschlicher Form zu durchschauen beginnt und transzendieren will.
Mein Lehrer Sri Poonjaji begann seine Veranstaltungen mit spirituellen Suchern meist mit dem tiefen Brummen eines lang gezogenen „Ooom”. Er beendete die Treffen mit den Worten „Mögen alle Wesen in Frieden und Harmonie leben. Mögen alle Wesen ihre wahre Natur erkennen. Om Shanti.” Shanti ist das Sanskrit-Wort für Frieden. Dieses kleine Gebet floss ganz natürlich aus seiner tiefen Erkenntnis bedingungsloser Erfüllung und Liebe. Es deutet die Ahnung an, dass Frieden – innerer und äußerer Frieden – nicht nur für einige wenige Auserwählte möglich ist, sondern sich auf alle Wesen erweitern kann. Möge es so sein!
Redaktionelle Anmerkung: Textquelle ist die Buchreihe „Neues Wir“ – adecis Verlag, Herausgeber: Wolf Schneider, eine Sammlung von zeitlosen Texten aus dem spirituellen Print-Magazin „connection“, das von 1985 bis 2015 erschien. Der vorliegende Artikel entstammt Band 2: „Spiritualität – die offene Weite“.
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