Neue Kämpfe
Einige Wochen war es ruhig um Syrien gewesen. Die neue Regierung unter al-Scharaa hatte erste Erfolge erzielt durch die Duldung der westlichen Regierungen, die ihm, dem Islamisten, Erleichterungen zugestanden, die man der syrischen Bevölkerung unter der Herrschaft von Baschar al-Assad verweigert hatte. Sanktionen wurden aufgehoben oder deren Aufhebung in Aussicht gestellt, wenn der Prozess der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen zu einer neuen syrischen Gesellschaft so voranschreitet, wie der politische Westen es sich vorstellt.
Die Ruhe, die den westlichen Medienkonsumenten vermittelt wurde, schien auch tatsächlich Ausdruck einer Beruhigung der Lage zu sein. Syrien war aus den Schlagzeilen verschwunden, bis es für viele überraschend zu heftigen Kämpfen in der Küstenregion kam. Vordergründiger Auslöser waren koordinierte Angriffe von Teilen der alten Armeeführung und anderen Anhängern der gestürzten Regierung Assad auf Kräfte der neuen Machthaber.
In wie weit Spannungen zwischen den Volksgruppen, besonders betroffen waren die Alawiten, ausschlaggebend waren, kann angesichts der Berichtslage aus Syrien nicht klar gesagt werden. Auf Grund dessen ist schwer einzuschätzen, ob der Aufstand der alten Militärs eine Reaktion auf das Vorgehen von Kräften der Regierung al-Scharaa gegen die Alawiten war. Vielleicht aber haben auch Teile der Gesellschaft ihren ersten Schock durch dessen überraschende Machtübernahme überwunden und versuchen nun, die früheren Verhältnisse wieder herzustellen.
Unter der Führung eines ehemaligen Kommandeurs der 4. Division hatte eine „Gruppe, die sich Militärischer Rat zur Befreiung Syriens nennt“ (1) den Sturz des „dschihaddistischen Regimes“ (2) angekündigt. Zuvor war bereits die „Gründung einer Widerstandsgruppe namens Küstenschutzregiment“ (3) verkündet worden. Die „Anhänger des alten Regimes riefen zu einem Volksaufstand auf“ (4). Das spricht dafür, dass sich Teile der Gesellschaft unter der Führung früherer Militärs zum Widerstand organisieren.
Anscheinend aber ist es der neuen Führung in Damaskus gelungen, den Aufstand niederzuschlagen, nachdem sie frische Kräfte in die Küstenregion geschickt hatten. Im Moment sieht es nicht so aus, als könnten die Aufständischen eine breitere Unterstützung in der syrischen Gesellschaft finden.
Die ausgezehrte Bevölkerung hofft, dass den neuen Herrschern mehr Unterstützung aus dem Ausland entgegengebracht wird als der Regierung Assad. Diese Hoffnung würde ein Sieg der alten Garde zunichte machen. Die Türkei jedenfalls verurteilte die Angriffe auf die Regierungstruppen, auch Saudi-Arabien und Qatar unterstützen weiterhin die neuen Machthaber.
Auch der politische Westen scheint lieber auf jene Kräfte zu setzen, die man früher als Islamisten bekämpft hatte. Die Meinungsmacher der Frankfurter Allgemeine Zeitung machen Werbung für al-Scharaa:
„Er ist auf lange Sicht der Einzige, unter dem ein stabiles Syrien zumindest vorstellbar ist. (…) Mit ihm muss der Westen also einen Modus Vivendi finden“ (5).
Ein Islamist als Machthaber, der abhängig ist vom Westen, scheint ihnen allemal sympathischer zu sein als ein säkularer Assad, der aber von Moskau gestützt wird. Der Islamismus ist offensichtlich nur dann eine Gefahr, wenn er nicht für die eigenen Interessen genutzt werden kann.
Keine weiteren Kämpfe!
Es ist nicht auszuschließen, dass die Kämpfe an der Mittelmeerküste auch Auswirkungen hatten auf die Bemühungen der neuen Regierung, nun schnell mit den Kurden eine Einigung zu finden. Denn diese sind eine weitaus größere Gefahr für die Machthaber in Damaskus als die Reste des Assad-Regimes. Letztere haben anscheinend nicht mehr genug Unterstützung in der syrischen Gesellschaft und im Ausland schon gar nicht mehr, seit der Einfluss des Iran und Russlands zurückgedrängt werden konnte. Die Gefahr, die von Anhängern Assads ausgeht, scheint beherrschbar zu sein.
Dagegen stellen die Kurden einen bedeutenden Machtfaktor dar und ohne eine Einigung mit ihnen, wird die Herrschaft al-Scharaas nicht auf sicheren Füßen stehen. Dessen scheint er sich bewusst zu sein. Die Kurden sind nicht nur eine große homogene Bevölkerungsgruppe, kampfstark und gut organisiert, sie kontrollieren auch weitgehend die syrischen Ölquellen und die Einnahmen daraus. Zudem hält Washington noch immer seine schützende Hand über sie.
Aber dieser Schutz ist unsicherer geworden, seit Trump wieder an der Regierung ist. Schon während seiner ersten Regierungszeit hatte er die US-Truppen aus Syrien abziehen wollen. Nun da Assad gestürzt ist, scheinen sich die USA nicht mehr auf die Kurden im Kampf gegen den IS stützen zu wollen. Bereits im Dezember 2024 hatte der damalige US-Außenminister Antony Blinken dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan angetragen, dass die Türkei die Führung im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) übernehmen solle.
Vermutlich haben die USA auch kein Interesse mehr daran, jetzt wo die Kurden den IS weitgehend unter Kontrolle gebracht haben, ihretwegen immer wieder in Konflikte mit dem NATO-Partner Türkei zu geraten. Zudem ist mit dem Sturz Assads ein weiterer Grund für die Anwesenheit von US-Truppen weggefallen. Sie waren die Garantie, dass die syrische Regierung keinen Zugriff auf die Ölquellen bekommen konnte, womit die Erholung der syrischen Wirtschaft behindert wurde.
Somit schwindet das Interesse der USA an einer Unterstützung der Kurden. Ließen die Amerikaner diese nun fallen, was sich andeutet, stünden sie alleine gegen zwei starke Gegner, die Syrische Nationale Armee (SNA), unterstützt von der Türkei, und die Regierung in Damaskus. Beide haben ein gemeinsames Interesse an der Bekämpfung der Kurden.
Die syrische Regierung hat bereits angekündigt, außer der offiziellen Armee keine bewaffneten Einheiten auf syrischem Staatsgebiet zu dulden. Das richtet sich in erster Linie gegen die Kurden. Die von der Türkei unterstützte SNA wird Damaskus mit Sicherheit nicht angreifen, da für alle drei Kräfte die Kurden der gemeinsame Feind sind. Trotzdem dürfte die syrische Regierung auf dem derzeitigen Stand der Kräfteverteilung keinen bewaffneten Konflikt mit den Kurden zu deren Entwaffnung eingehen wollen.
Andererseits kann sie sich nicht sicher sein, dass es nicht doch noch zu weiteren Konflikten mit Teilen des alten Regimes kommt, die weiterhin im Militär, in Verwaltung und im Geheimdienst sitzen. Das würde wieder den Kurden in die Hände spielen, die in der neuen Regierung einen gemeinsamen Feind sehen.
Noch haben sich die Kräfteverhältnisse nicht zugunsten der Regierung gefestigt, wie die Kämpfe an der Mittelmeerküste zeigten.
Es gilt die Gunst der Stunde zu nutzen und durch ein Abkommen mit den Kurden einen weiteren Gegner und potentiellen Verbündeten der alten Kräfte ruhig zu stellen. Unter den beschriebenen Umständen scheinen beide Seiten wenig Interesse an Konflikten miteinander zu haben, die nur zur Schwächung der eigenen, ohnehin nicht so gefestigten Position beitragen würden. Die der Kurden aber dürfte angesichts der Ereignisse der vergangenen Wochen schwächer geworden sein.
Schwierige Lage
Die neue Regierung scheint die Oberhand über die Kurden zu gewinnen, denn sie wird immerhin von der Türkei und von anderen einflussreichen Staaten der Region unterstützt. Damaskus hat außer den inneren Feinden, anders als seinerzeit Assad, keine äußere Bedrohung zu befürchten, nicht einmal von Israel, solange man nicht versucht, die Israelis aus den besetzten Gebieten auf den Golanhöhen zu vertreiben. Und der Iran ist seit dem Sturz Assads außen vor.
Das Abkommen mit den Kurden verschafft der Regierung Zeit, ihre Herrschaft in Syrien zu festigen. Zudem haben die Kurden ihr auch vorteilhafte Zugeständnisse gemacht. „Grenzübergänge, Häfen, die Öl- und Gasfelder sollen (…) unter die Hoheit der neuen Regierung in Damaskus gelangen“ (6). Damit haben die Kurden viele Trümpfe aus der Hand gegeben, geben müssen.
Derzeit ist kein Vorteil aus dem Ankommen für sie zu erkennen, außer einer „echten Chance, ein neues Syrien aufzubauen, das alle Bevölkerungsgruppen vereine“ (7). Vermutlich setzen sie ihre Hoffnungen auf ein föderales System, um zumindest „Teile ihrer Selbstverwaltung zu erhalten“ (8). Da aber al-Scharaa selbst das ablehnt, deutet das Verhalten der Kurden darauf hin, dass sie eine Auseinandersetzung mit der Regierung in Damaskus vermeiden wollen.
Diese würde jedoch unweigerlich kommen, wenn ihnen der amerikanische Schutz verloren geht und die Zentralregierung in Damaskus weiterhin das Ziel der Einigung des Staates verfolgt. Darin aber besteht ihre eigentliche Aufgabe und Existenzgrundlage. Auf dem Weg dorthin ist sie durch die Zugeständnisse der Kurden nun einen erheblichen Schritt weiter gekommen. Warum sollte Damaskus nun ohne Not zu weiteren Zugeständnissen an eine kurdische Eigenständigkeit bereit sein?
Vermutlich haben die Kurden die Schwierigkeiten ihrer Lage erkannt und wollen durch einen militärischen Konflikt mit der Zentralregierung keine unnötigen Opfer bringen. Denn mit dem Rückzug der Amerikaner droht ihnen die vollkommene Isolierung.
Sie sind umgeben von Staaten, die ihre Eigenständigkeit, erst recht einen eigenen kurdischen Staat ablehnen. Die Übergabe der Grenzkontrollen an die Regierung hat diese Isolation weiter verfestigt. Sie sind weitgehend auf sich allein gestellt.
Zwar hatte es zu Beginn der Invasion der Rebellen aus dem Norden im Dezember des vergangenen Jahres in Israel Überlegungen gegeben, die „Kurden im Kampf gegen protürkische Milizen zu unterstützen“ (9), aber dabei scheint es auch geblieben zu sein. Als Drohkulisse werden sie den Israelis sicherlich willkommen sein, doch ob Israel ihretwegen einen Konflikt mit dem Nachbarn Syrien oder gar mit dessen Schutzpatron Türkei eingeht, ist eher unwahrscheinlich.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben dann noch einmal mehr die Aussichtslosigkeit ihrer Lage verdeutlicht. Ende Februar 2025 hatte der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, die Auflösung der Partei und die Einstellung des bewaffneten Kampfes bekannt gegeben. Die Parteimitglieder wurden aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Das war ein unerwarteter und schwerer Schlag auch für die Kurden in Syrien, deren Demokratische Kräfte Syriens (SDF) sich zu großen Teilen aus Mitgliedern der PKK rekrutierten.
Wie viele kurdische Kämpfer dieser Aufforderung folgten, ist nicht bekannt. Aber alleine die Aufforderung und die damit verbundene Verunsicherung dürften zu einer erheblichen Schwächung der Kampfkraft geführt haben. Als dann der Aufstand von Resten der Assad-Regierung an der Mittelmeerküste zerschlagen worden war, dürften letzte Hoffnungen der Kurden zerstoben sein, im Konflikt mit der neuen Regierung Unterstützung von Kräften in der syrischen Gesellschaft oder von außen zu erhalten.
Vielleicht versucht man, mit dem Abkommen bei der Regierung guten Willen zu schaffen und noch Zugeständnisse zu erhalten, die man mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen sieht, ohne ein weiteres großes Blutvergießen auszulösen. Das syrische Volk hat bereits genug Blut vergossen. Es ist müde und entkräftet, und vermutlich wissen die meisten auch nicht mehr so recht, wofür sie noch kämpfen sollen.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 10. März 2025: Ein Test für Syriens neue Herrscher
(2) ebenda
(3) FAZ 8. März 2025: Mindestens 130 Tote nach Kämpfen in Syrien
(4) ebenda
(5) FAZ 10. März 2025: Syrisches Inferno
(6) FAZ 12. März 2025: Ein Deal, der Damaskus und den Kurden Zeit verschafft
(7) ebenda
(8) ebenda
(9) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 15. Dezember 2024: Im staatsfreien Vakuum