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Krieg und Frieden in Kolumbien

Krieg und Frieden in Kolumbien

Das südamerikanische Land wird von brutalen Paramilitärs terrorisiert. Eine kleine Gemeinschaft hat sich konsequent dem Prinzip der Gewaltfreiheit verschrieben — derzeit wird sie erneut bedroht. Teil 3.

Die Natur ist ganz schön laut. Unbekannte Tiergeräusche tönen aus der Dunkelheit, während ich abends auf der Veranda arbeite. Alles scheint so friedlich, während die Comunidad de Paz die Anwesenheit von bewaffneten Personen in der Nähe ihrer Privatgrundstücke La Roncona und La Holandecita meldet. Genau da wohnt auch unsere kleine Frauendelegation aus Europa — Sabine Lichtenfels, Andrea Phoebe Regelmann, Katharina Müller und ich —, direkt im ersten Haus hinter dem Eingangstor.

Blick von unserer Terrasse auf das Eingangstor zur Friedensgemeinschaft von San José, Foto: Elisa Gratias



Vor unserer Terrasse der verschwenderische Reichtum der Natur. Üppiges Grün, ab und zu frei laufende Pferde oder Hühner auf dem Rasen. Eine latente Bedrohung liegt in der Luft, nur eben nicht für unser Leben. Die bedrohten Leute der Gemeinschaft haben es gelernt mit ihrer täglichen Bedrohung zu leben. Sie kommen ab und zu zum Plausch zu uns, beherrschen immer noch die Kunst des Humors und strahlen von innen heraus. Sie sind seit 19 Jahren mit meinen Mitreisenden aus der Partnergemeinschaft Tamera in Südportugal befreundet.

Unsere Präsenz und Berichterstattung über sie gibt ihnen Schutz, denn die Mörder vertuschen ihre Verbrechen und greifen dann an, wenn kein internationaler Zeuge hinsieht.

In Kolumbien herrscht das reinste Chaos. Desto mehr ich darüber höre und lese, was hier passiert, mich in Bücher über das Land vertiefe, desto ratloser, verwirrter und desillusionierter bleibe ich zurück. „Die Gewalt verließ Kolumbien nicht mehr seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier.“ In Kolumbien „gibt es allemal Platz für alle, aber ebenso die Möglichkeit, sich bis ins Unendliche gegenseitig zu töten“ (1).

„Don Gonzalo war nicht nur ein guter Mensch, er war auch ein fleißiger Arbeiter. Er stand bei Morgengrauen auf und ging in die Berge von Norcasia, um Bäume zu fällen. Eines Morgens brachte seine Schwester ihm nicht das Mittagessen, wie sie es sonst jeden Tag tat. Als Gonzalo nach Hause kam, fand er sie tot vor, an einen Pfosten gebunden. Sie hatten sie vergewaltigt. Im Hof lagen die geköpften Leichen seiner beiden Brüder, während die Leichen der Eltern im Haus lagen, im Flur. Der einzige, der noch lebte, war der jüngste Bruder. Bevor er in seinen Armen starb, konnte er ihm sagen, dass die Banditen für das Massaker verantwortlich waren. Seit diesem Tag beschloss Don Gonzales, Köpfe von Banditen abzuschlagen“ (2).

Malerei an einer Mauer um den zentralen und spirituellen Ort der Friedensgemeinschaft von San José, Foto: Elisa Gratias



Wer hier die Banditen sind, vermag ich nicht zu sagen. Paramilitärs, Militärs, Guerrilla. Der Staat, die Polizei, die Staatsanwaltschaft. Laut Gesetz und Verfassung ist das Land eine Demokratie. In der Praxis blickt kaum jemand durch, genießen Verbrecher völlige Straffreiheit. Bei einer Ausschreitung im Jahr 1948 in der Hauptstadt Bogotá, nachdem der sozialistische Politiker und Anwalt Jorge Eliécer Gaitán ermordet wurde, verteilten „in einem Viertel im Zentrum der Stadt Polizisten Waffen an die Demonstranten. In anderen Vierteln beschossen sie sie mit Gewehren“ (3).

Zunächst glaubten sowohl die Kolumbianer als auch nordamerikanische Diplomaten, dass Gaitán durch die konservative Partei ermordet wurde, doch nach einigen Jahren bahnte sich die Meinung den Weg, dass dies das erste von der nur sieben Monate zuvor gegründeten CIA organisierte Komplott war, um die Ausweitung des Kommunismus im Einflussbereich der USA zu bremsen.

Auch der weltberühmte Autor Gabriel García Marques unterstützte diese These, denn er befand sich am Tag des Attentats in der Nähe und beobachtete einen auffälligen, ungewöhnlichen Mann, doch keine Behörde untersuchte diesen Mord weiter und das FBI weigerte sich „aus Sicherheitsgründen“, seine Archive zu öffnen (4).

Die Gewalt in Kolumbien wurde ab da noch schlimmer. Menschen wurden zersägt, ihnen wurden die Augen ausgestochen, Körperteile abgeschnitten — all dies während sie noch lebten. Dann wurden die Leichen in manchen Dörfern abgeladen. Mit dem Terror sollten ganze Gemeinden dazu bewegt werden, ihr Land zu verlassen. Nutznießer waren die Oligarchen des Landes, Großgrundbesitzer und nordamerikanische Konzerne.

„Die Paramilitärs in Kolumbien sind der bewaffnete Arm der Eliten, der von allen staatlichen Behörden, auf sämtlichen Verwaltungsebenen und in allen sozialen Schichten unterstützt wird oder damit verwoben ist. Sie wurden mithilfe der kolumbianischen Armee, mehrerer kolumbianischer und US-amerikanischer Geheimdienste und von Söldnern gebildet. Der Paramilitarismus ist ein strategisches Projekt und ein integraler Bestandteil des Staates. Die Paramilitärs spielen eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung eines kapitalistischen neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells mit enormen Verdienstspannen“ (5).

Das liegt nun alles lange zurück. 2016 wurde ein Friedensabkommen geschlossen, daraufhin eine Kommission für die Wahrheit ins Leben gerufen. Die aktuelle linke Regierung von Gustavo Petro arbeitet daran, diese Meilensteine der kolumbianischen Geschichte umzusetzen, und verschreibt sich der Vision des „totalen Friedens“. Und ich sitze hier inmitten tropischer Fülle und kämpfe gegen das Gefühl der Aussichtslosigkeit, weil ich feststelle, wie tief Gewalt und Mord das Leben jedes Menschen prägten, mit dem ich ins Gespräch komme, und vor allem, wie sehr Mord und Folter noch immer verbreitet sind. Die Guerilla wurde zum Großteil demobilisiert, während das Paramilitär stärker ist als vorher.

Am 18. März 2024 besuchte Präsident Petro die nahegelegene Stadt „Apartadó und sprach — zum ersten Mal für einen Präsidenten — Worte der Anerkennung und Wiedergutmachung für die Comunidad de Paz. Am nächsten Tag reagierten die Paramilitärs — zumindest ist es aus Sicht der Friedensgemeinschaft so: Die 30-jährige Nallely, Mutter von drei Kindern, und der 14-jährige Edinson wurden brutal ermordet“ (6). Die Region Urabá, in der die Friedensgemeinschaft liegt, steht unter der Kontrolle des Golf-Clans, des mächtigsten Verbrechersyndikats Kolumbiens, das aus rechtsgerichteten Paramilitärs hervorgegangen ist und sich jetzt perfiderweise nach Gaitán in „Autodefensas Gaitanistas de Colombia“ umbenannte, um sich einen politischen Anstrich zu geben.

Auf unserer Veranda beschreiben verschiedene Mitglieder des Friedensdorfes bei Kaffee und Buñuelos, wie es sich anfühlte, als sie ihre Familienmitglieder in Massakern durch Paramilitärs verloren. Sie nehmen eine leere Schüssel zur Hand, um die innere Leere zu veranschaulichen, die dies in ihnen zurücklässt. Und jetzt kommt das, was diesen Ort so besonders macht, ins Spiel: Sie reagieren nicht wie Don Gonzales und wollen Rache, und sie lassen sich auch nicht länger vertreiben, um würdelos entwurzelt in den Städten um Arbeit zu betteln.

Seit 1997 haben sie ihre Neutralität erklärt, betreiben ökologische Landwirtschaft für ihre Selbstversorgung, leben Gewaltfreiheit vor und leisten damit den einzig möglichen, nämlich kollektiven Widerstand gegen Krieg, Vertreibung und Ausbeutung. Das Rückgrat, das diese Leute hier haben, ist unglaublich.

„Ihr tiefgreifendes und mutiges Engagement für Gewaltfreiheit, ethische Integrität, Versöhnung und der Aufbau einer resilienten, autarken Gemeinschaft hat sie — inmitten anhaltender Bedrohungen und Massaker — zu einem wichtigen Stützpunkt und Vorbild für viele andere Gemeinschaften in Kolumbien gemacht“, schreibt Martin Winiecki aus Tamera, der sie ebenfalls mehrfach besuchte (7).

Ich lerne hier sehr viel. Vor allem über den großen Kampf gegen das System der Ausbeutung, der stets im Kleinen, vor allem in unseren Gedanken stattfindet. Und die Menschen hier wirken mit all der Bedrohung und dem sehr einfachen Leben an der Grenze zur Armut lebendiger und paradoxerweise strahlender als unsere Landsleute. Ein Übermaß an Wohlstand und der Mangel an einer Lebensaufgabe erscheinen mir immer mehr als Feinde der Lebendigkeit. Im Außen zerstört der Neoliberalismus die Erde und im Inneren unsere Seelen.

Manova-Redakteurin Elisa Gratias und Brígida Gonzáles, 73 Jahre, Künstlerin und Mitbegründerin der Friedensgemeinschaft von San José. 2005 wurde ihre 15-jährige Tochter Elisena in einem Massaker ermordet. Sie selbst erhielt auch immer wieder Morddrohungen. Und doch lebt sie weiterhin vor Ort und übt sich in Vergebung und Gewaltfreiheit.



Inmitten der riesigen Pflanzen, der frei laufenden Tiere, der Frauen, Männer und Kinder, die sich zu Fuß oder mit Pferden und Mulis fortbewegen, um zu ihren Ländereien oben in den Bergen gelangen zu können, wo es noch keine Zivilisation gibt, fühle ich mich dem Leben näher denn je.

Meine von unserer Konsumwelt verschüttete Seele atmet hier auf einmal Lebendigkeit, als sei eine Staubschicht weggeblasen. Und genau vor dieser „Zivilisation“ bewahrt die Comunidad de Paz ihre Flecken Erde, schützt sie und sich selbst vor dem Zugriff der Megamaschine.

„Was in Kolumbien geschieht, ist kein vereinzelt auftretendes Phänomen. Es ist Teil eines sich verschärfenden globalen Konflikts: Imperium gegen Gemeinschaft, Kapitalismus gegen die Erde, Patriarchat gegen das Leben. Dieser Konflikt zeigt sich in dem immer herzzerreißenderen Völkermord in Gaza, dem sich beschleunigenden Klimazusammenbruch, dem Aufstieg eines rechtsextremen Autoritarismus und Faschismus und vielem mehr. Damit das Leben siegen kann, brauchen wir zum einen eine unerschütterliche Solidarität, die erkennt, dass alle Kämpfe miteinander verbunden sind, und zum anderen die Kraft der Vision, die uns befähigt, lebendige Alternativen zu schaffen“ (7).

Foto eines Posters zum Gedenken an Eduar Lanchero, einen Visionär und engen Freund der Comunidad de Paz, der 2012 an Krebs starb: „Der Staat und die Paramilitärs sagen: ‚Wir haben ihnen alles angetan und konnten sie nie zerstören.‘ Und sie sagen sogar: ‚Was können wir noch tun?‘ Doch die Blindheit derer, die Mörder sind, bringt sie dazu zu sehen, dass sie uns antun können, was sie wollen, doch solange Schmerz sich in Hoffnung verwandelt, wird es immer Gemeinschaft geben. Man kann sie nicht zerstören. Und was ist Hoffnung? Hoffnung ist, wenn wir den Mörder nicht mehr hassen. Hoffnung ist, wenn wir zusammen etwas aufbauen. Wenn wir das Leben zur Realität machen, heute und da, wo wir sind. Vor 14 Jahren sprachen wir davon, die Welt zu verändern. Heute sagen wir, wir haben die Welt verändert, weil wir zur Gemeinschaft geworden sind.“ Eduar Lanchero, 31. März 1969 bis 27. Juni 2012. Foto:&nbsb;Elisa Gratias



Solidaritätserklärung mit der Comunidad de Paz durch die kolumbianische Friedenspolitikerin Gloria Cuartas, den indischen Wasseraktivisten Rajendra Singh und die deutsche Friedensschaffende und Gemeinschaftsgründerin Sabine Lichtenfels

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Quellen und Anmerkungen:

Weitere Informationen in Teil 1 und Teil 2.

(1) Guido Piccoli: „El sistema del pájaro — Colombia, laboratorio de barbarie“, Txalaparta, Tafalla Spanien 2003, Seite 41
(2) Ebenda, Seite 53
(3) Ebenda, Seite 55
(4) Ebenda, Seite 56
(5) https://amerika21.de/analyse/152975/paramilitarismus-kolumbien
(6) https://www.tamera.org/we-stand-with-san-jose/#
(7) Tamera-Newsletter vom 6. Dezember 2024, Solidaritätserklärung mit der Comunidad de Paz de San José

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