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Die Schlafwandler

Die Schlafwandler

In Deutschland grassieren Ängste vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs — die meisten unserer Landsleute reagieren allerdings apathisch. Teil 2 von 2.

Im ersten Kalten Krieg war Deutschland Frontstaat: Beide deutsche Staaten wären das Schlachtfeld der Supermächte gewesen, hier also kein Stein auf dem anderen geblieben und das war damals allen Menschen in der alten Bundesrepublik und in der DDR bewusst. Heute hat sich die Bedrohung ‚gefühlt‘ rund tausend Kilometer nach Osten verlagert. Der aktuelle Krieg findet — noch? — nicht hier statt, sondern die Völker schlagen — um ein Zitat aus Goethes „Faust“ zu paraphrasieren — „hinten, weit, in der Ukraine“ aufeinander. Dass der Krieg durchaus sehr schnell auch auf NATO-Gebiet übergreifen und unser Land hineinziehen könnte, dass schon ein ‚atomarer Schlagabtausch‘ in der Ukraine oder in den östlichen NATO-Staaten auch hier unabsehbare Folgen haben würde, spielt psychologisch so gut wie keine Rolle.

Wir sehen überdies eine starke Generationenpolarität, was die Sensibilität von Kriegsgefahr und atomarer Bedrohung angeht. Die völlig falsche, sachlich überhaupt nicht haltbare ‚Logik‘ lautet hier: Den Jungen das Klima, den Alten der Frieden!

Das Wort „Ökopax“, das Anfang der 1980er Jahre in aller Munde war und das sich die damaligen GRÜNEN auf die Fahnen geschrieben hatten, ist bezeichnenderweise in Vergessenheit geraten. Dass auf den wenigen und vergleichsweise mäßig besuchten Friedensdemonstrationen die „Generation 60 plus“ erdrückend dominiert — womit nicht gesagt sei, dass die überwiegende Mehrheit wenigstens dieser Generation sich friedenspolitisch engagiert —, ist natürlich kein Zufall: Diese Generation wurde ihrerseits von der Kriegsgeneration ihrer Eltern geprägt und ist aufgewachsen mit Atomkriegsängsten, vor allem während der Zeit der sogenannten „Nachrüstung“ in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.

Ängste, die nun wiederkommen.

Die rüstungspolitische Abstinenz der Klimaschützer

Die junge Klimaschützergeneration dagegen scheint erschreckenderweise auf dem rüstungspolitischen Auge nahezu blind zu sein. Und dafür gibt es meines Erachtens im Wesentlichen folgende Gründe:

· Die wichtigste Rolle spielt vermutlich ein Phänomen, das man am Treffendsten als „fatalen Nebeneffekt der Gorbatschow‘schen Abrüstungspolitik“ bezeichnen könnte. Wer heute um die 35 Jahre alt ist, hatte das unschätzbare Glück, zumindest von Atomkriegsängsten unbehelligt aufwachsen zu können. Mit Abschluss des INF-Vertrages Ende 1987, also des Verbots von landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen, dem Ende des — wie wir heute desillusioniert feststellen müssen: ersten — Kalten Krieges und der Verschrottung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit schien ja die akute Atomkriegsgefahr in Europa gebannt. Nein: dass es überhaupt nochmal zu einem ‚atomaren Schlagabtausch‘, gar zu einem globalen Atomkrieg zwischen den Supermächten kommen könne, war vorübergehend in den Bereich des Unvorstellbaren gerückt. Auf diese Weise kamen die zeitweise höchst virulenten Atomkriegsängste — vorerst — zum Erliegen. Die Welt, so schien es jedenfalls, hatte in den Neunzigern bis in die Nuller Jahre hinein durch die ‚Friedensdividende‘ endlich Freiraum und Ressourcen, sich um andere, ebenfalls drängende Menschheitsprobleme und -gefahren zu kümmern. — Kein Wunder, dass die in dieser glücklichen Epoche herangewachsene Generation auch kein Problembewusstsein für die — nach wie vor existierende, lediglich vorübergehend aus dem Blickfeld geratene — Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit entwickelt hat.

· Gleichzeitig stirbt die Kriegsgeneration aus und auch die Generation, die durch den Kalten Krieg und die mit ihm untrennbar verbundenden (Atom)-Kriegsängste geprägt ist, wird zusehends älter. Mit anderen Worten: Die heute junge Generation weiß selbst vom Hörensagen kaum noch, was Krieg tatsächlich bedeutet! Und von der Atombombe wissen viele vermutlich nicht sehr viel mehr, als dass das wohl eine besonders schlimme Waffe sein soll… Im aktuellen Ukrainekrieg gibt es zudem eine ‚feindübergreifende Allparteienkoalition‘ der Verteidigungsminister, Regierungssprecher und Medien. Russen, Ukrainer, Deutsche und andere achten tunlichst darauf, uns alle mit Bildern von den tötenden und sterbenden Männern an der Front und dem Elend der Kriegsinvaliden zu verschonen. Sie wollen uns einen ‚Krieg ohne Krieger‘, also die Illusion vermitteln, Krieg sei eine klinisch reine Joystickoperation!

· Zudem kommt, dass man sich „Kriegstreiber“ immer noch in erster Linie als martialische Gestalten vorstellt, die in Knobelbechern, Stahlhelmen oder Pickelhaube wild um sich brüllen. Den smarten, biederen und eher etwas unbedarft wirkenden Gestalten, die in der deutschen Regierung den Ton angeben und die zudem allesamt um ihr makelloses Menschenrechts- oder Öko-Image besorgt sind, mag man nicht zutrauen, dass sie einen ins Verderben führen könnten… Eher schon unserem, unverständlicherweise von seinem Volk zum beliebtesten Politiker gekürten Kriegstüchtigkeitsminister, der — bislang noch? — der Einzige mit diesem Habitus ist.

· Das jeder jungen Generation eigene Empörungspotenzial schließlich ist in erster Linie durch den zweifellos dringend gebotenen Kampf gegen die Erderwärmung erfolgreich okkupiert. Was noch übrig bleibt, wird von Themen wie „Kampf gegen Rechts“, Gender und Political Correctness absorbiert. Die Medien liefern darüber hinaus tagtäglich jede Menge „Ablenkängste“. Dazu passt — das hat der Psychologe und Amerikanist Jonas Tögel präzise herausgearbeitet —, dass die NATO vor Kurzem den Bereich der „Kognitiven Kriegsführung“ („Cognitive Warfare“) zum offiziellen sechsten Kriegsschauplatz erklärt hat und nun Unsummen in diesen Bereich pumpt. Zahllose Start-ups beziehen hier ein sehr einträgliches Auskommen. Und was früher „Propaganda“, später „Public Relations“ genannt wurde, heißt nun „Strategische Kommunikation“ …

Eine neue Friedensbewegung — as soon as possible!

Deutschland, nein: Europa durchlebt gerade die gefährlichste Phase seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. Selbst wenn das wechselseitige Töten und Sterben in der Ukraine hoffentlich bald beendet sein sollte, werden in Europa anschließend keineswegs friedliche Zustände herrschen. Solange nicht alle — alle! — europäischen Staaten, also inklusive Russland, Belarus und alle anderen Nicht-EU-Staaten, sich auf eine neue Sicherheitsstruktur auf der Basis des Prinzips der gemeinsamen Sicherheit geeinigt haben, steht unserem Kontinent im ‚besten Falle‘ ein Kalter Krieg 2.0 mit einer zu beiden Seiten streng bewachten, die Ukraine von Norden bis zum Schwarzen Meer durchteilenden neuen ‚Berliner Mauer‘ bevor.

Die Ukraine wird das ‚geteilte Deutschland‘ — oder das ‚geteilte Korea‘ — des Neuen Kalten Krieges sein. Und im Worst Case werden an der hochmilitarisierten Demarkationslinie Soldaten aus europäischen NATO-Staaten — sehr wahrscheinlich auch Bundeswehrsoldaten — russischen Soldaten Auge in Auge gegenüberstehen.

Ein höchst fragiler ‚Frozen Conflict‘ also, der jederzeit absichtlich oder versehentlich in einen heißen Krieg unter Einbeziehung von Soldaten aus NATO-Staaten umkippen könnte!

Der voraussichtlich neue Bundeskanzler hat gerade wieder öffentlich mit dem Gedanken einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gespielt, die unser Land zur Zielscheibe russischer Vergeltungsschläge machen würde. Er wird mit Sicherheit auch die von seinem Vorgänger eingefädelte „Nachrüstung 2.0“ durchwinken, die unser Land in eine Zielscheibe russischer *Präventiv*schläge verwandeln wird! Die neue Regierungskoalition — für die nach wie vor die Worte „Diplomatie“ und „Deeskalation“ tabu sind — hat gerade unter dem saloppen Motto „Whatever it takes“ unvorstellbare Summen von hunderten Milliarden, zur Erinnerung: Hunderttausende Millionen!!, für die Rüstungsindustrie genehmigt und für die Zukunft nichts weniger als ein „Ermächtigungsgesetz in Sachen Aufrüstung“ in Aussicht gestellt. Im neuen Bundestag wird zudem keine Partei mehr vertreten sein, die einer Militarisierung kompromisslos entgegentritt.

Bliebe nur noch der zivile Widerstand ‚von unten‘ in Gestalt einer neuen breiten Friedensbewegung, die heute leider noch nicht einmal in Ansätzen existiert…

Dennoch: Passivität und Resignation können wir uns nicht leisten. Der irrwitzigen Aufrüstungswelle mit Summen von über einer halben Billion Euro, die — wie die atomare Situation selbst — ebenfalls unvorstellbar „zu groß“ sind; der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper; der Erziehung einer gesamten Gesellschaft zur „Kriegstüchtigkeit“ dürfen wir bei Strafe unseres Unterganges nicht saturiert entgegenschnarchen. Wieder gilt der Spruch aus den 1980er Jahren: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Generälen und Politikern zu überlassen!“

Daher nochmal und sei es zum hundertsten Male:

Was alle treffen kann, betrifft uns alle. Ein Atomkrieg kennt keinen Gewinner, sondern ausschließlich Verlierer. Entweder wir schaffen die Atombombe ab oder die Atombombe schafft uns ab! Wer den Frieden will, der muss — in Umkehrung des klassischen lateinischen Sprichwortes — den Frieden vorbereiten.

Sollte sich die Politik der neuen Eskalation noch weiter verschärfen und ihr ‚von unten‘ in Form einer neuen breiten und kraftvollen Friedensbewegung kein Druck entgegengesetzt werden, dann droht in letzter Konsequenz nichts weniger als — Globozid!

Sei es militärisch via Massenvernichtungsmittel oder ‚friedlich‘ als Klimakatastrophe. Resignation oder Trägheit können wir uns nicht leisten. Nach wie vor gilt Einsteins Ermahnung:

„Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt.“

Konkret: Wir müssen uns verweigern, Feinde zu sein! Es geht darum, den zivilen Ungehorsam und den gewaltfreien Widerstand gegen die irrwitzige Aufrüstung und die forcierte Formierung unseres Landes zur „Kriegstüchtigkeit“ wieder zu erlernen und einzutrainieren. Es geht darum, endlich Sand im Getriebe der Kriegsvorbereitung zu werden.

Vielleicht könnte uns dabei ja ein Satz von Michail Gorbatschow aus dem Jahre 2017 anspornen:

„Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“


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