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Die Schlafwandler

Die Schlafwandler

In Deutschland grassieren Ängste vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs — die meisten unserer Landsleute reagieren allerdings apathisch. Teil 1 von 2.

Allgemeine Gründe für die Verdrängung der (Atom)-Kriegsgefahr

„Vielleicht wird es der späte Historiker noch rätselhafter finden als wir Zeitgenossen, dass, obwohl allmählich fast jedes Kind wusste, dass man vor Kriegen stand, die auch für den Sieger das entsetzlichste Leiden mit sich brachten, dennoch die Massen nicht etwa mit verzweifelter Energie alles unternahmen, um die Katastrophe abzuwenden, sondern auch noch ihre Vorbereitung durch Rüstungen, militärische Erziehung und so weiter ruhig geschehen ließen, ja sogar unterstützten.“

Mit diesen Worten des Psychoanalytikers Erich Fromm habe ich vor über 40 Jahren ein Buch über Angst — genauer: Nicht-Angst — und atomare Aufrüstung eingeleitet, das im Mai 1984 erschien. Fromm hatte diese Sätze am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, 1937, in seinem Aufsatz „Über die Ohnmacht“ formuliert.

Apathie und Schockstarre

Warum ich nun vier Jahrzehnte später meinen Vortrag wiederum mit diesem Zitat eröffne, das bedarf, leider!, keiner weiteren Erläuterung. Nach wie vor tobt im Osten Europas ein Krieg, der nicht nur „für den Sieger“ — falls es den überhaupt geben und was auch immer hier mit „Sieg“ genau gemeint sein sollte —, sondern auch für zahlreiche weitere Akteure, nicht zuletzt für unser Land, Deutschland, „entsetzlichste Leiden“ mit sich bringen wird, nein: bereits mit sich bringt.

Denn selbst wenn die Kampfhandlungen — hoffentlich! — bald ein Ende haben sollten, steht uns ja nach wie vor für das kommende Jahr die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, die sogenannte Nachrüstung 2.0, ins Haus und die gerade beschlossenen irrwitzigen Pakete neuer Sonderschulden von Hunderten Milliarden für die schnellstmögliche „Kriegstüchtigkeit“ unseres Landes werden uns vermutlich eher früher als später, ganz bestimmt aber unsere Kinder und Enkel — falls es sie dann noch geben sollte — einholen.

Nur, dass diese Gefahr, genauso wie vor über 85 Jahren, offenbar niemanden groß zu interessieren, gar aufzuregen scheint! Von den drei bundesweiten Friedensdemonstrationen, die in den letzten beiden Jahren in Berlin stattfanden, brachte es die größte — sehr, sehr wohlwollend gerechnet — auf maximal ein Fünftel der 250.000 Menschen, die kürzlich am 8. Februar 2025 allein in München „Gegen rechts!“ demonstrierten.

Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit

Mittlerweile frage ich mich nur noch, was mich fassungsloser macht:

Die Ungeniertheit und die an suizidalen Größenwahn grenzende Skrupellosigkeit, mit der Politiker, Militärs und Medien hierzulande nahezu im Gleichklang und jeden Tag schriller bis an die Schmerzgrenze eskalieren — oder die Apathie und Schockstarre, mit der die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen dies alles kritik- und klaglos über sich ergehen lässt.

Dabei scheint es unter der Oberfläche durchaus zu brodeln. Erheblich mehr Menschen als auf den ersten Blick sichtbar scheint es langsam mulmig zu werden. So äußerten im Februar 2024 im Rahmen einer INSA-Umfrage 61 Prozent der Bundesbürger die Befürchtung, der Ukrainekrieg könne sich auf NATO-Gebiet ausweiten. Im August 2024 fürchteten 45 Prozent der Bundesbürger gar eine Ausweitung des Ukrainekrieges auf Deutschland. Und bereits seit über zwei Jahren wünscht sich eine überwältigende Mehrheit der Deutschen — zwischen 63 und 68 Prozent — ein stärkeres Engagement der Bundesregierung für Friedensverhandlungen.

Laut Shell-Jugendstudie 2024 äußerten 81 Prozent der jungen Deutschen Angst vor einem Krieg in Europa. Und am 11. März 2025 wurde eine weitere INSA-Umfrage veröffentlicht, nach der eine Mehrheit der jungen Deutschen — 52 Prozent der 18 bis 29-jährigen und 50 Prozent der 30 bis 39-jährigen — es gar für „wahrscheinlich hält, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“.

All dies ist angesichts des medialen Dauerfeuers aus allen offiziellen Kanälen durchaus bemerkenswert. Andererseits bleibt die allgemeine unterschwellige Unruhe stumm und auf der Handlungsebene völlig folgenlos, sodass ich mich fassungslos frage, wo eigentlich der längst fällige Aufschrei bleibt.

Und auch das ist nicht neu.

Im Mai 1980, also vor fast 45 Jahren, schrieb der 2011 verstorbene Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter im Vorfeld der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa:

„Nahezu die Hälfte unserer Bevölkerung glaubt laut Umfragen an die Möglichkeit eines Krieges. Die Leute sind betroffen, aber sie rühren sich kaum. Wie können Menschen in Passivität und zumindest äußerlicher Gelassenheit auf demoskopischen Fragebögen bejahen, dass ein großer Krieg bevorstehen könnte? Warum reagieren wir so, als handele es sich hier um ein unbeeinflussbares Naturereignis, obwohl in dieser Angelegenheit doch alles, was geschieht, in der Macht menschlicher Berechnung und Entscheidung liegt?“

Horst-Eberhard Richter damals weiter: „Wir Bürger fühlen uns in einen seltsam unmündigen Zustand versetzt, der uns zugleich die Sprache verschlägt“, und er diagnostizierte der Bevölkerung „Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit.“

Die Parallele zur aktuellen Situation springt förmlich ins Auge.
Warum war das damals so? Und warum ist es heute wieder so?

Dafür gibt es allgemeine Gründe, die in der atomaren Situation selbst liegen und aktuelle Gründe, die sich aus der veränderten geopolitischen Lage des wiedervereinigten Deutschland seit der wahren Zeitenwende Ende der Achtziger/ Anfang der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ergeben. Ich werde in meinem Vortrag zunächst die allgemeinen, dann die aktuellen Gründe vorstellen, bevor ich Ihnen einige Gedanken für eine dringendst benötigte breite „Friedensbewegung 2.0“ ans Herz lege.

Wachsende Kriegsgefahr

Spätestens mit der für das kommende Jahr von Noch-Kanzler Olaf Scholz und den USA im Alleingang beschlossenen erneuten Stationierung von Mittelstreckenraketen, genauer: Hyperschallraketen, und Marschflugkörpern, die innerhalb kürzester Zeit strategische Ziele in der Tiefe Russlands einschließlich des Kreml und russische Atomwaffenlager pulverisieren könnten, macht sich unser Land „freiwillig“ zur Zielscheibe russischer Präventivschläge, die durchaus auch atomar geführt werden könnten.

Und im Gegensatz zur Nachrüstung der Achtziger Jahre betrifft das diesmal — aus welchen Gründen auch immer — nur Deutschland allein!

Und noch einmal: Warum diese beklemmende Apathie, warum diese erschreckende Unbeweglichkeit unserer Bevölkerung angesichts dieser immensen Bedrohung, die sich ja durchaus bis hin zu einem mit thermonuklearen Waffen durchgeführten Dritten Weltkrieg auswachsen könnte?

Zu groß! — Unsere Apokalypseblindheit

Die Antwort lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Zu groß!
Die Bedrohung ist absolut zu groß.

Schließlich sind ‚wir Menschen‘ mit den von uns selbst hergestellten Untergangsgeräten bekanntlich in der Lage, unseren Planeten nicht nur einmal, sondern x-mal zu vernichten!

Keiner hat sich über diesen Sachverhalt schon vor vielen Jahrzehnten so scharfsinnige Gedanken gemacht und diese so präzise auf den Begriff gebracht wie der Philosoph Günther Anders (1902 bis 1992). Seine klassische Formel lautet: Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können! Bereits vor fast 70 Jahren schrieb er:

„Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.“

Wir sind größer und kleiner als wir selbst

In diesem Sinne also sind wir kleiner als wir selbst: Herstellen können ‚wir Menschen‘ die Apokalypse, vorstellen aber können wir sie uns nicht! Unsere Vorstellungen bleiben weit hinter den Effekten zurück, die unsere Handlungen zeitigen können. Die Technik selbst ist uns, wie weiland Goethes „Zauberlehrling“, in Gestalt der menschengemachten Vernichtungsgeräte längst über den Kopf gewachsen. Analoges gilt längst auch für die ebenfalls von ‚uns Menschen‘ hergestellte sogenannte Künstliche Intelligenz! Anders formuliert: Als Handelnde — genauer: als ‚Hersteller der Zerstörung‘, sprich: ‚Destructores‘ — haben wir eine fast gottgleiche Allmacht erlangt. Als Vorstellende dagegen sind wir Zwerge!

Günther Anders nannte dieses Phänomen unsere Apokalypseblindheit.

Was ich nur weiß, macht mich nicht heiß

Die Bedrohung ist also zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten. Die Bedrohung ist zudem so über alle Maßen entsetzlich, dass wir sie uns gar nicht vorstellen mögen. Die Bedrohung ist darüber hinaus überall — „Die Erde hat keinen Notausgang!“ — und damit: nirgends!

Die Folgen:

Was zu groß ist, was unser kognitives und erst recht unser emotionales Fassungsvermögen überschreitet und was zugleich als Möglichkeit überall und permanent präsent ist, das bleibt, um nochmal Günther Anders zu zitieren, „nur ein Wort“. Es bleibt reines abstraktes Wissen, damit in unmittelbarer Nähe zum Nichtwissen und damit — konsequenzenlos!

Günther Anders: „Was ich nur weiß — macht mich nicht heiß!“

Die erste infernalische Regel lautet also:

„Je größer die Gefahr, desto geringer unser Widerstand, desto leichter kann sie eintreten!“

Gewissenhaftigkeit ersetzt Gewissen

Werfen wir nun kurz einen Blick auf die Hersteller der Zerstörungsgeräte. Es sind viel mehr, als wir denken, und der Prozess ihrer Herstellung bis zum möglichen Einsatz ist typisch für die Produktionsweise in einer höchst arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. In der Regel sind die meisten von uns ja damit beschäftigt, ein angeblich unentbehrliches Geräteteil, für ein angeblich unentbehrliches Modul, für ein angeblich unentbehrliches Produkt herzustellen, das wir am Ende gar nicht kennen — womöglich ein Massenmordgerät! ‚Tätig‘ sind die meisten von uns also als Zahnrädchen, eingebunden in ein gigantisches Getriebe, dessen Endeffekt wir nicht überschauen — oft gar nicht überschauen wollen!

Wir handeln also gar nicht, wir machen — ohne über unseren Tellerrand hinauszusehen, frei nach dem Motto „Was ich nicht kann, geht mich nichts an!“ — blind für das Endziel einfach mit! Gewissenhaftigkeit — sprich: die korrekte Erledigung der uns als Zahnrädchen übertragenen Aufgaben — ersetzt Gewissen, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Endziel der Maschinerie, die uns einbindet, überhaupt ethisch verantwortbar ist.

Und da wir ‚Zahnrädchen‘ sind, gilt für unsere Wahrnehmung wie für unsere Seele die Devise: „Arbeitsteilung ist Gewissensteilung!“ Sollte zum Schluss doch etwas schief gelaufen sein, waren es alle und damit — keiner! Günther Anders: „Schmutz geteilt durch tausend = sauber!“

Die zweite infernalische Regel lautet demnach:

„Je mehr Menschen involviert sind, desto leichter kann das Inferno eintreten.“

Auslösen ersetzt Handeln

Weiter: Nehmen wir an, ein amerikanischer Offizier startet auf Befehl ‚von oben‘ in einem Raketensilo in Montana eine Interkontinentalrakete Richtung Russland. Was macht er da eigentlich? Handelt es sich hierbei wirklich um eine Handlung? Oder löst er nicht tatsächlich nur noch eine längst vorinstallierte Maschinerie aus? Und was macht er eigentlich, wenn er etwas auslöst? Eigentlich macht er, obwohl der Effekt seines Tuns die Vernichtung, also das Nichts sein kann, so gut wie — nichts! Ob er eine Espressomaschine einschaltet oder tausende Kilometer entfernt Hunderttausende Menschen in Leichen verwandelt, macht von der Attitüde her keinen Unterschied.

Die dritte infernalische Regel lautet also:

„Auslösen ersetzt Handeln.“

Schlimmer noch: Im Zeitalter hyperrealistischer Computersimulationen verschwimmt immer mehr die Grenze zwischen Schein und Sein! Kriegs*spiele* und echte Kriege haben sich bis zur Deckungsgleichheit einander angenähert. Die Simulation eines Raketenangriffes unterscheidet sich in nichts mehr von der tatsächlichen Durchführung und kann im einen wie im anderen Falle via Knopfdruck, gar Klick erledigt werden. Und mit zunehmendem Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird sich selbst das eher früher als später erledigt haben …

Je größer das Verbrechen, desto leichter die Durchführung

Und da Tat- und Leidensort Tausende Kilometer auseinander liegen, wird unser Offizier in Montana auch gar nicht direkt mit den Effekten seines „Tuns“ konfrontiert werden. Ja, er muss noch nicht mal einen einzigen Russen hassen, um Hunderttausende von ihnen zu töten! Dasselbe gilt selbstverständlich umgekehrt für seinen Konterpart bei Moskau.

Hunderttausende Menschen durch das Auslösen einer entsprechenden Maschinerie — sprich: Interkontinentalrakete — zu töten, ist also ungleich leichter, als einen einzigen Menschen ‚handmade‘ ins Jenseits zu befördern!

Die vierte infernalische Regel lautet demnach:

„Je größer das Verbrechen, desto leichter seine Durchführung!“

Und dafür brauchen wir auch gar keine „bösen“ Menschen mehr. Ein kommender mit thermonuklearen Bomben geführter Dritter Weltkrieg wäre der hassloseste Krieg der Menschheitsgeschichte! Anders formuliert: Die Situation selbst ist so abgrundtief böse geworden, dass für die Realisierung des absolut Bösen böse Menschen gar nicht mehr nötig sind.

Die Dinge lügen

Und noch ein weiterer Umstand begünstigt die mögliche Apokalpyse: Man sieht den Dingen ihre Bewandnis nicht mehr an. Während man einem altmodischen Messer noch genau ansehen kann, was es anrichten kann, sehen „Gegenstände“ wie eine Atombombe — gesetzt der Fall, man bekäme sie tatsächlich zu Gesicht — tausendmal harmloser aus, als sie es tatsächlich sind. Der Effekt einer Atombombe ist im Vergleich zu ihrem Aussehen unvorstellbar — zu groß!

Günther Anders hat dies auf die Formel — und das wäre die fünfte infernalische Regel — „Die Dinge lügen!“ gebracht und von „negativer Protzerei“ gesprochen.

Zusammenfassung

Es sind also zusammengefasst folgende Charakteristika der atomaren Situation, die es uns so schwer machen, wirklich zu erfassen, auf welch abschüssiger Bahn wir uns befinden:

  • Die Bedrohung ist zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten.
  • Sie ist zu entsetzlich, als dass wir sie uns noch vorstellen mögen.
  • Sie ist unsichtbar, räumlich also nicht zu orten und damit überall und nirgends.
  • Zahllose Menschen sind — alle auf das Indirekteste — in die Herstellung der Untergangsgeräte eingebunden.
  • Das finale Inferno kann im Ernstfalle auf das Leichteste realisiert werden: Am Ende wird es ein via Künstliche Intelligenz von einem Computer gesteuerter Computer gewesen sein!

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