Das russische Motiv
Nachdem Alexander Puschkin mit dem Versepos Eugen Onegin die Neue russische Literatur begründet hatte, war es Nikolai Gogol, der ihr das Groteske zuführte und damit viele Motive vorwegnahm, die für die moderne russische Literatur später typisch wurden. So zum Beispiel die Kollision des Menschen mit einer undurchschaubaren Bürokratie oder die Banalität des Bösen, in der sich der Mensch so lange mit seinen Leidenschaften wie auch Schuldkomplexen zu verstricken droht, bis von ihm selbst, von seiner Seele nichts mehr übrig bleibt.
Als später Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi, die beiden „Titanen“ der neueren russischen Romanliteratur, die Bühne betraten, lässt sich beobachten, wie sich der Erzählfokus von den äußeren, ständisch geprägten Umständen des Kollektivs auf die inneren, seelischen Zustände des Einzelnen verschiebt.
Entwarf Iwan Turgenew 1861 mit Väter und Söhne noch das Panorama eines zerpflückten Gesellschaftsbildes, verursacht durch den Zusammenprall einer zusehends nihilistisch geprägten Jugend und der noch stark von Autorität und Sitte durchdrungenen Erwachsenengeneration, lag es nun an den Psychologen Dostojewski und Tolstoi, das durch den Anbruch der Moderne verursachte Zerwürfnis des Menschen an und mit sich selbst zu Papier zu bringen. Die dominierenden Themen lauteten fortan: Unterdrückung des Individuums unter Konvention und Institution, ungelebte Sexualität, Entfremdung.
Eine innere Moral
„Sind die Russen die besseren Europäer?“ ― Roger Köppel, Weltwoche Daily, 26. April 2023
Russischer Literatur gelingt es, das Gleichgewicht zwischen Selbstreflexion und Nachdenken über „die Gesellschaft“ nicht nur zu wahren, sondern beide auf einer höheren, tieferen Ebene zu vereinen.
Indem sie dem Leser Einblicke bis auf den Grund jener Seelen gewährt, von denen sie getragen wird, entsteht das Gefühl von Vertrauen und Verbundenheit. Der Leser fühlt sich zum Nachdenken ermutigt, nicht aber genötigt. Oder anders formuliert: Niemand außer den Russen hat es bislang geschafft, bei mir derart komplexe Gedankengänge über Moral anzustoßen, ohne dabei meine Aversion gegen Moralisierung anzustechen. Nie ereilte mich anderswo als bei der Lektüre von Dostojewski, Gogol, Puschkin, Tschechow und ― oder vielleicht vor allem ― bei Tolstoi das so tief verankerte Gefühl von Werten. Wie kann das sein? Warum ausgerechnet die Russen? Warum fühle ich mich von einem russischen Nihilismus weniger bevormundet als von der Absurditätsbesessenheit eines Albert Camus? Was ist dieses „Mehr“ des Russen, das ihn so bei sich bleiben lässt?
Beim Nachdenken über diese Fragen komme ich nicht drum herum, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten laufende Diskursverengung im Westen anzuschneiden: Werden wir zensiert oder zensieren wir uns selbst? Warum sind wir nicht mehr dazu in der Lage, nicht nur uns eine eigene Meinung zu bilden, sondern sie im Anschluss auch noch zu verteidigen?
Wann sind wir so duckmäuserisch geworden? Und bevor der Leser nun aufschreit: Keine Frage, nicht nur ist die Zensur in Russland vermutlich weitaus konsequenzenreicher als bei uns, ein über die Maßen repressiver Staatsapparat verursacht noch etwas weitaus Schlimmeres: Selbstzensur. Eigens auferlegte Schranken im eigenen Kopf.
Dessen bin ich mir bewusst. Mir geht es hier jedoch um einen anderen Punkt: die Verbindung des Menschen zu sich selbst. Habe ich beim heutigen „Durchschnittseuropäer“ zusehends den Eindruck, ihm ist es wichtiger, was andere von ihm halten, als dass er sich selbst noch im Spiegel anschauen kann, vermittelt mir der Russe etwas zutiefst Archaisches. Nichts ist ihm wichtiger als seine eigene Integrität. Er weiß: Sobald er mit sich selbst uneinig wird, anders lebt, als er fühlt, verrät er sich selbst und damit das Leben als solches.
Aufgrund dessen kommt es mir manchmal so vor, als benutzt der Russe sein Gewissen wie eine Art Sinn-Organ. Er beansprucht für sich kein Monopol auf Bedeutung, Wahrheit oder dergleichen. Aber gerade dadurch eröffnet er sich die Möglichkeit, eben diese zu schonen, zu bewahren und letztendlich auch wiederzubeleben. Man könnte hier sogar so weit gehen und dem Russen ein mythologisches Bewusstsein zusprechen. Weil er noch nicht abgespalten ist, noch immer eine Verbindung zu sich und seinem Selbst spürt, zieht er seine Erkenntnisse nicht primär aus seinem Kopf, erzeugt sie nicht rein durch seinen Verstand, sondern gebärt sie aus den verborgensten mythologischen Tiefen seines Inneren. In diesen Tiefen lebt eine schreckliche Aggression, der Wunsch, alles zu verändern, alles hinzuschmeißen und ein neues Leben durch eine zweite Geburt zu erlangen. Aber gleichzeitig auch das Vertrauen und der Glaube daran, dass das Jetzt noch nicht das Ende ist, dass der Mensch es besser kann.
Friedrich Hölderlins Satz „O Volk, dass du so blind bist, dass du deine eigene Seele leugnest“, mag auf viele Länder zutreffen, nicht aber auf Russland.
Wider allem Nihilismus hat der Russe sich selbst noch nicht aufgegeben ― weder als Mensch noch als Kultur oder als Menschheit.
Schattenseiten
Zugegeben: Vieles mag sich nach Stalin geändert haben. Seine „Kultur“ verkündete das allgemeine Glück und schuf das allgemeine Unglück. Und in dem Maße, wie der Russe seither aufgehört hat, an Utopien zu glauben, lebte er weiter in Stalins Schatten. Gespeist mit Traumata, gab es keinen Raum mehr für Hoffnung. So sind es die wiederkehrenden Motive vom Umgang mit individueller Schuld und das Spannungsfeld zwischen persönlicher Gewissensentscheidung und gesellschaftlicher Verantwortung, die nun die Literatur der damaligen Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) beherrschen. Den subjekt-verachtenden Tenor dieser, auf den Tod Stalins folgenden, „Tauwetter-Periode“ konnte Wladimir Tendrjakow in Die Nacht der Entlassung festhalten:
„Wir unterrichten Instabiles, sich Verflüchtigendes, und das in ganz und gar kategorischer, fast gewaltsamer Form lern, koste es, was es wolle. Gib deine ganze Zeit, deine ganze Energie, vergiss deine eigenen Interessen. Vergiß, wofür du dich am besten eignest. Ergebnis: wir züchten Menschen heran, die nicht auf sich selbst achten. Und wenn ein Mensch sich selbst keine Aufmerksamkeit gönnt, wie könnte er es anderen Menschen gegenüber. Das Wissen, mit dem wir unsere Schüler plagen, verfliegt, was bleibt, ist Teilnahmslosigkeit“ (1).
War Stalin der Bruch des Russen mit Russland? Der Grund, weswegen die teuflischen Kräfte des Westens, trotz aller Versuche des Abwehrens seitens der Politik, fortan auch Besitz von ihm ergreifen konnten? Was konnte der Westen versprechen, was es in der RSFSR nicht gab? Ewige Jugend? Diese stellte ja bereits der Sozialismus in Aussicht. War es also die Verführung, mehr zu bieten als das Paradies, oder schlichtweg das Auslösen des Eingeständnisses, dass das Paradies schlussendlich doch woanders zu liegen scheint als im eigenen Land?
Was damals ganz Russland fühlte, zeigte sich in seiner Kunstszene: Kunst war für sie nie ein Mittel, die Welt zu ändern. Sie war der Versuch, sie zu überleben.
Gleich der anwachsenden Selbstzensur seitens der Gesellschaft war auch der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht wieder einzufangen. Es ging ein Riss durchs Land und teilte es in jene, die die Freiheit fürchteten, und jene, die eher sterben würden, als sie preiszugeben.
Der tiefere Blick
Schmerz regiert nicht nur unsere Welt. Schmerz regiert auch die des Russen. Nicht weil er gerne leidet, sondern weil er noch fühlt. Weil er noch in Verbindung zu dem steht, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel einst den „Weltgeist“ nannte. Desto mehr Leiden ihm das Leben bringt, desto mehr will er leben. Genauso wie er, wenn er liebt, ewig liebt, fürchtet der Russe sich nicht vor Macht. Vielmehr stößt er auf sie an ― auf die Macht über sich selbst, auf die Selbstbeherrschung! Der Russe ist Teil jener Romantiker, für die Freiheiten und Werte noch wichtiger waren als Brot und Spiele.
Und so kommt es, dass man nach dem Lesen russischer Weltliteratur nicht anders kann, als die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Man gewinnt einen anderen Blick, der einen fortan auf andere Dinge achten lässt, als man es noch getan hat, bevor man mit ihnen und ihren Gedanken in Berührung gekommen ist.
Und das ist es, woran man große Autoren erkennt: Sie verändern unsere Weltanschauung nachhaltig. Sie bieten uns nicht nur einen kurzen Blick in eine andere Dimension, eine Auszeit von unserem eigenen, oftmals spröden Dasein, sondern norden uns neu ein, geben uns das Gefühl, die Welt und die Pforten unserer Wahrnehmung stünden uns offen.
Und ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber jedes Mal, wenn mir jemand etwas madigmachen möchte, will ich es erst recht. Also lese ich seit vorigem Jahr mehr russische Literatur denn je. Und das tut mir sehr gut.
Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)
Quellen und Anmerkungen:
(1) Tendrjakow, Wladimir Fjodorowitsch: Die Nacht der Entlassung. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1975, Seite 46.
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