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Ich, ich und ich

Ich, ich und ich

Narzissten sind ein Problem, bei dem vor allem eines angebracht ist: Abstand.

Wir kennen ihn aus der griechischen Mythologie: Narziss ist der schöne Jüngling, der die Liebe der anderen zurückweist und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Voller Sehnsucht schwindet er dahin und verwandelt sich in die gleichnamige Blume. In Ovids „Metamorphosen“ wird er für seinen Hochmut bestraft, sich allen Verehrern, weiblich oder männlich, zu verweigern. Verletzt ruft ein Verschmähter aus, Narziss möge selbst einmal lieben und den Geliebten nie erringen können.

Im Volksmund sind Narzissten Menschen, die kokett, eitel und selbstverliebt sind. In der Psychologie ist Narzissmus ein Krankheitsbild. Betroffene neigen zu Dominanz und Selbstüberschätzung, heben stets sich selbst hervor, haben ein großes Bedürfnis nach Bewunderung und eine Tendenz, andere auszunutzen. Am Anfang wirken Narzissten oft interessant und attraktiv. Sie überhäufen ihr Gegenüber mit Komplimenten, sodass es sich aufgewertet und angezogen fühlt: „Nur ich verstehe dich. Nur ich sehe dich so, wie du wirklich bist. Ich kenne dich so gut wie niemand anderer.“

Wenn nach dem „Love bombing“ die Ernüchterung folgt, sind Betroffene oft schon so sehr in die Beziehung verstrickt, dass ein Herauslösen ebenso schwierig wie angebracht ist. Echte, gleichberechtigte und authentische Beziehungen sind mit Narzissten unmöglich. Wirkliche Liebe gibt es nicht. Denn der Narzisst will vor allem eines: kontrollieren. Liebe jedoch ist nur in Freiheit möglich, dann, wenn wir uns so entfalten können, wie wir wirklich sind, ohne Angst vor Demütigung und Zurückweisung. Doch der Narzisst tut vor allem das: Um sich selber aufzuwerten, muss er andere abwerten.

Narzissten teilen die Welt in Brauchbares und Unbrauchbares ein. Sie halten sich andere Menschen wie Vieh, das ihnen zu Nutzen ist.

Da Narziss sich selber nicht erkennen kann und nicht weiß, wer er ist, kann er aus sich selbst keine Energie schöpfen. Hierzu braucht er andere. Er ist dabei wie ein schwarzes Loch: immer hungrig, niemals satt. Um an die Energie anderer Menschen zu kommen, benutzt er die Strategie der Verwirrung. Durch verdrehte Aussagen und Lügen werden die Opfer so durcheinandergebracht, dass sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Narzissten hingegen zweifeln nie. In geradezu pathologischer Selbstgerechtigkeit sind sie über jeden Irrtum erhaben.

Mit verdeckten Karten

Neben der klassischen Form des Narzissten, der sich selbst auf die Schulter klopft, gibt es eine Variante, die oft schwer zu erkennen ist. Der verdeckte oder vulnerable Narzissmus wird häufig übersehen und ist weit problematischer als der grandiose Narzissmus. Verdeckte Narzissten haben ein eher geringes Selbstwertgefühl und zeigen daher ihr Geltungsbedürfnis auf indirekte Weise. Menschen mit dieser Pathologie erscheinen auf den ersten Blick nicht selbstidealisierend, arrogant und dominant, sondern eher zurückhaltend, schüchtern oder gehemmt.

Sie zeichnen sich durch eine hohe Anspruchshaltung aus. Ihre Haltung gegenüber anderen Menschen ist kühl und distanziert und häufig von Konkurrenz und Neid geprägt. Wie beim grandiosen Narzissmus herrscht ein großer Mangel an Empathie, der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Beide Formen des Narzissmus sind nahezu komplett kritikunfähig und haben große Schwierigkeiten, ihr Verhalten infrage gestellt zu sehen. Bei Kritik weichen sie aus, schotten sich ab oder werden aggressiv.

Um nur ihre eigene Sichtweise geltend zu machen, sind sie zu allem bereit. Sie übertreiben, verdrehen, erfinden, spalten, lügen, betrügen, spinnen Intrigen und hetzen auf, um ja nicht selber für eine Situation verantwortlich zu sein und für sich selbst geradezustehen.

Diskussionen mit Narzissten sind nahezu unmöglich. Sie hören ihrem Gegenüber überhaupt nicht zu und lassen es nicht zu Wort kommen. Gesagtes oder Vorgefallenes wird sofort zum eigenen Vorteil verdreht. Andere Sichtweisen werden per se nicht anerkannt.

Es darf nur einen geben

Ob verdeckt oder offensichtlich: Alles dreht sich um den Narzissten. Was auch geschieht: Er bezieht es auf sich. Zu allem muss er seine Meinung abgeben, die er stets als Fakt darstellt, an dem nicht zu rütteln ist. Er allein kennt die Realität. Seine Bedürfnisse stehen vor den Bedürfnissen aller anderen. Narzisstische Elternteile etwa nehmen überhaupt nicht wahr, dass ihr Kind eigene Bedürfnisse hat. Sie sehen ihren Nachwuchs nicht als eigenständigen Menschen, sondern als eine Art Teil von sich selbst, mit dem sie machen können, was sie wollen.

Solange das Kind klein ist und sich anpasst, ist alles in Ordnung. Ab dem Moment jedoch, in dem es eigene Ideen, Bedürfnisse und Wünsche äußert, kommt es zu Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen. Demütigung, Manipulation, Ausgrenzung, Bestrafung — alle Mittel sind recht, um immer wieder die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Ob Stärke oder Schwäche: Alles dient potenziell dazu, sich selbst auf- und den anderen abzuwerten.

Ein Narzisst kommt überhaupt nicht auf den Gedanken, dass sein eigenes Verhalten gegenüber denen, die er sich unterwirft, verletzend sein kann.

In seiner Egozentrik und Kritikunfähigkeit ist er unnahbar und weist empört die eigene Verantwortung zurück: „Ich tue alles für dich. Du bist undankbar. In meiner Kindheit hatte ich es nicht so gut wie du. Du bist an allem schuld! Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Du hast mich so verletzt!“

Kinder narzisstischer Eltern leiden oft ein Leben lang an den Folgen ihrer Erziehung. Vergeblich laufen sie der Liebe hinterher, die sie nicht bekommen haben. Besonders schmerzhaft ist oft, dass nach außen hin alles normal aussah. Materiell gesehen war alles in Ordnung. Die seelischen Grausamkeiten, die das Kind ertragen musste, liefen meistens hintergründig. So bekommt es keine Hilfe für die Verletzungen, die es erlitten hat, keinen Zuspruch, keinen, der sagt: Ja, so war das.

Komplexe Loslösung

Heilung ist nur über Abstand oder Kontaktabbruch möglich. Denn der Narzisst wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verändern. Er merkt ja nicht einmal, wie er sich verhält. Da Narzissten das Problem immer bei anderen und nie bei sich selbst suchen, sind die meisten von ihnen nicht geneigt, sich etwa auf eine Therapie einzulassen oder an sich selbst zu arbeiten. So ist es die Aufgabe des Opfers, sich dem Bann einer narzisstischen Mutter, eines narzisstischen Vaters zu entziehen, die alleine oft nicht zu bewältigen ist.

Als Kinder wollen wir geliebt werden. Ohne die Zuneigung der Eltern können wir nicht überleben. So beziehen wir Zurückweisungen stets auf uns und glauben, dass mit uns etwas nicht in Ordnung ist. Früh lernen Kinder narzisstischer Eltern, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht zu trauen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Hauptsache, Mama geht es gut. Hauptsache, Papa ist zufrieden.

Die Opfer versuchen, es dem Narzissten recht zu machen, um möglichst keine Krisen loszutreten. Bis ins späte Erwachsenenalter versuchen Kinder, ihren Eltern zu gefallen. Mancher lässt die schlimmsten Abfuhren über sich ergehen und steckt doch immer wieder Energien in Besuche und Telefonate. Doch jede Anstrengung wird als selbstverständlich angesehen, jede Liebesbekundung fällt ins Leere: „Nach dem, was du mir angetan hast, kann ich nicht an deine Liebe glauben.“

Es ist Unrecht

Die Vorstellung, von den eigenen Eltern nicht geliebt zu werden oder nicht so, wie man ist, ist für viele Menschen unerträglich. Wenn der eigene Vater, die eigene Mutter einen abweist, was für ein schlechter Mensch muss man dann sein! So schämen wir uns für das, was wir sind, und können uns selbst nicht leiden. Niemand hat uns gezeigt, dass wir in Ordnung sind, so, wie wir sind. Aufgerüttelt werden viele erst, wenn eine schwere Krankheit an der Tür klopft oder ein anderes Lebensereignis alles durcheinanderbringt und das Untere nach oben kehrt.

Der größte Schritt ist, in der eigenen Mutter, im eigenen Vater, im eigenen Partner einen Narzissten zu erkennen:

„Das habe ich nie gesagt. Sei nicht so empfindlich. Daran bist du selbst schuld. Das bildest du dir nur ein. Nie kann man sich auf dich verlassen. Niemand liebt dich so, wie ich dich liebe. Die wollen dich nicht. Ohne mich bist du nichts. Du machst immer alles falsch. Schalte mal dein Gehirn ein. Ich bin nun mal so, wie ich bin — damit musst du klarkommen. Ich sage immer geradeheraus, was ich denke. Ich sage nur Fakten. Ich bin weltoffen und tolerant. Ich will nur meine Ruhe.“

Wer diese Sprüche kennt, der hat es höchstwahrscheinlich mit einem Narzissten zu tun. Er gibt vor, Harmonie zu wollen — doch es ist eine Harmonie, bei der er die erste Geige spielt. Wer nicht nach seiner Pfeife tanzt, wird als unzulänglich bezeichnet, als respektlos, egoistisch, belehrend, unwürdig, wertlos. Wenn wir das sehen können, ist der erste Schritt getan. Dann können wir beginnen, uns vor dem toxischen Verhalten zu schützen. Denn niemand, keine Mutter, kein Vater, keine „Autoritätsperson“, hat das Recht, einen anderen Menschen zu erniedrigen.

Es ist Unrecht, jemand anderen kleinzumachen, indem man ihn demütigt, ignoriert, beschimpft oder beschuldigt. Es ist Unrecht, immer wieder Geschichten aus der Vergangenheit hervorzuholen und dem anderen Dinge vorzuwerfen, an denen er nichts ändern kann. Es ist Unrecht, den Standpunkt eines anderen nicht gelten zu lassen, ihm systematisch Fehlverhalten zu unterstellen und für alles die Schuld zu geben. Es ist Unrecht, sich selbst dabei als Opfer darzustellen und selbstverantwortliches Handeln konsequent abzulehnen.

Im Spiegel

Nun geht es an die Arbeit. Durch Narzissten traumatisierte Menschen haben die Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit oft so sehr in sich aufgenommen, dass sie niemand anderen mehr brauchen, der sie kleinmacht. Sie tun es selbst. Sie sind sich selbst eine lieblose Mutter, ein liebloser Vater geworden. Über diese Erkenntnis bleibt uns nur eines: bitterlich zu weinen. Und dann einen Spiegel zu nehmen.

Von Narziss wird erzählt, wie er versuchte, sich im Spiegel des Wassers dem geliebten Objekt zu nähern. Es erwiderte seine Gebärden, aber erreichen konnte er es nicht. Als seine Tränen ins Wasser fielen und den Wasserspiegel aufrührten, verschwand das Bild. Narziss verfiel in eine unendliche Trauer und klagte um das unerreichbare Liebesobjekt, bis er schließlich erkannte, dass er es selbst ist, und vor Kummer starb.

Wir sind nicht wie Narziss dazu verflucht, uns selbst nicht erkennen zu können. Wir können uns ansehen, ohne uns dabei zu verlieren, ohne uns zu erhöhen oder zu erniedrigen. Wir können eine Selbstliebe wählen, die andere nicht abweist, sondern sie miteinbezieht. Wir können, kurzum, die Liebe wählen.

Wir lieben noch!

Liebe ist allumfassend. Dieses Wissen blieb Narziss verborgen. Er sah sich nicht als Teil eines Ganzen, sondern isoliert. Narziss war ganz allein. In der Isolation jedoch können wir uns nicht erkennen. Wir sehen uns nur im Spiegel der anderen. Wenn wir das verweigern, werden wir zu einer Art Tumor, der sich von allem abkapselt, nach eigenen Regeln funktioniert und dabei dem Gesamtorganismus schweren Schaden zufügt.

Wie weit dieser Tumor in unserer Gesellschaft fortgeschritten ist, sehen wir an den Menschen, die nicht bereit sind, zuzuhören und ihre eigene Position infrage zu stellen. Wie viele erniedrigen andere Menschen, um sich selber größer und bedeutender zu fühlen.

Wie viele wagen nicht den Umgang mit Menschen, die ihnen nicht nach dem Mund reden, und beschränken sich auf oberflächlichen Smalltalk. Wie viele verschanzen sich in ihrer Echokammer und wehren sich dagegen, authentische Beziehungen zu leben. Und wie viele schrecken davor zurück, sich selbst zu lieben, weil sie Selbstliebe mit Egoismus verwechseln.

Die Krankheit, die uns alle zusammen erfasst hat, kann nur heilen, wenn wir die Liebe in uns befreien. Wir sind es wert, geliebt zu werden! Egal, wie wir einmal behandelt wurden, egal, welches unheilvolle Selbstbild an uns klebt, egal, wie sehr wir uns dagegen sträuben: Nichts kann die Liebe, die allumfassende, daran hindern, zu uns zu kommen. Die Liebe ist nicht mit Narziss gestorben.

Liebe ist die Antwort auf die Traumatisierung durch einen Narzissten, auf die Lügen, Verdrehungen, Intrigen und Gehässigkeiten. Sie schließt den Narzissten nicht aus. Doch sie richtet sich nicht mehr auf ihn. Sie umhüllt alles, einschließlich uns selbst. Unsere Lebensenergie fließt nicht mehr in ein unersättliches schwarzes Loch, sondern in eine Umarmung, die alles in der Erkenntnis wiegt, dass niemand erniedrigt werden muss, um zu spüren: Ich bin in Ordnung so, wie ich bin.


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