Diese Geschichte meines Dorfes erzählt meine Perspektive auf mein Nun-nicht-mehr-Heimatdorf im Herbst 2022. Sie erzählt vom chronifiziertem soziologischen Notfall im Modellprojekt „Hinter den roten Linien“. Im Dorf „Hinter den roten Linien“ breitet sich Vergessen aus. Klebrig ist die Zeit geworden. Mensch, was waren wir mal gut drauf!
Ich berichte ohne Bitterkeit — ich fühle Traurigkeit, Scham und Abschied. Ich berichte aus einem amtlich bestätigten Wunderdorf präviraler Zeit, das als kinderreichstes Dorf der Uckermark Stoff für diverse Sozialstudien, neoromantische Magazinseiten und Filmberichte lieferte.
Ein stolzes, avantgardistisches Dorf, ein Pionierdorf. Konsum, Dorfkrug, Feuerwehr, lebendige Vereine, aktive Kirchgemeinde, gesellige Stammtischgespräche freitags am Feuer vorm Konsum, freie Schule mit angeschlossener Kita. Zuzug und kein Ende in Sicht. Jede noch so diverse Schrulligkeit, Lebensform und Ernährungsweise wurde nach dem Motto „Leben und leben lassen“ integriert. Und wem das nicht gelang, der ignorierte gekonnt.
Politik wurde in der Kneipe, am Feuer oder in der Sauna besprochen. Radikale Ansichten waren zu verorten, weil sie offen diskutiert wurden. Chronische Ärgernisse wurden ebenso in den Alltag getratscht wie neue Frisuren, Schwangerschaften und Trennungen. Ich lebte gerne hier und war stolz auf UNS. Ein UNS mit dem warmen Duft von WIR, das ohne inhaltliches Konzept instinktiv wusste, wie gutes Leben geht.
Wer es schaffte, hier ein Haus oder eine Mietwohnung zu bekommen, hatte Glück. Wohnglück, Solidaritätsglück, Willkommensglück, Zugehörigkeitsglück. Wer es nicht schaffte, siedelte ein Dorf weiter oder ein nächstes Dorf weiter. Ein Platz in der freien Schule und der Kita erdete das Glück, und das gute Leben schien perfekt. Heimat — ich erzählte gerne von ihr.
Als Mitgründerin und Lehrerin der freien Schule, Aktivistin zur Erhaltung des Dorfkonsums, Gelegenheitskellnerin im Dorfkrug und Partychorsängerin gehörte ich zum gestalterischen Zentrum der Dorfgemeinschaft. Wer sich einbrachte, gehörte dazu. Und für das Einbringen gab es immer Möglichkeiten.
Im letzten Monat des Jahres 2022 erzähle ich eine andere Geschichte des kleinen uckermärkischen Dorfes „ Hinter den roten Linien“ im Land der rosa Elefanten.
Ich beginne im Herbst 2022. Die Maßnahmen der Virenkrise liegen weitgehend hinter uns.
In diesem Dorf gibt es eine freie Schule, in der Lehrerinnen immer noch ganztägig Masken tragen. Im Sportbus, der eigens für den Schülertransport gemietet ist, wird Kindern der 1. und 2. Klasse nach wie vor eine FFP2-Maske von ihrer Lehrerin anbefohlen, wohl wissend um die Maskenatteste einiger Kinder und das abwinkende Kopfschütteln der Busfahrerin. Regel bleibt Regel und Blaukraut bleibt Blaukraut.
Hier wurde im September 2022 einem Kind der Schulplatz gekündigt, weil seine Eltern nicht hinnahmen, dass das Maskenattest ihres Kindes von der Schulleitung für ungültig erklärt wurde. Die Wahrnehmung ihres Rechtes auf anwaltlichen Beistand wurde dem Kind zum Verhängnis. Die Beziehungstraumatisierung des Kindes fiel als Kollateralschaden ins Meer des Schweigens und wird nicht mehr thematisiert.
Hier wird im November 2022 eine Lehrerin in aller Öffentlichkeit ausgegrenzt, weil man ihr ihre virenkrisenkritische Gesinnung nachträgt und mangelnde politische Abgrenzung gegen verdächtiges Gedankengut vermutet. Im Schulverein gibt es eine „Wächterin des guten Tons“, die Inhalt und Timbre freier Meinungsäußerung zensiert. Bei gefühlten Vergehen kann es, wie vor ein paar Tagen geschehen, schon mal zur Androhung von strafrechtlichen Maßnahmen und Kündigung kommen.
Das alles geschieht nicht intern, sondern ganz offen und wird im Schulvereinsbrief mit Verweis auf eine namentlich nicht zu benennende Person bekannt gegeben. Transparenz nennt man es und fühlt sich demokratisch ganz vorn dabei. Das große Rätseln über die Person ohne Namen beginnt. Nur eine kommt infrage. Früher wurde das Mobbing genannt. Im Dorf „Hinter den roten Linien“ wird ein neues Wort erfunden werden. Ich bin gespannt, welches.
Im Herbst 2022 wird gefragt, was mit manchen los ist, da sie still geworden sind. Ich gehöre zu „manchen“. Setze ich zu einer Antwort an, spüre ich die Last meiner Worte und bin nahezu erleichtert ob des jovialen „Ach, komm, sei nicht nachtragend“. Doch ich bin es. Ich trage euch etwas nach, das ihr vergessen habt: mich. Scheinbar habe ich ein Problem im Land der rosa Elefanten.
Mein Wunsch nach Aufarbeitung versandet in der freundlichen Frage danach, wie man das Bedürfnis nach Austausch denn wecken könnte. Ich bin ratlos. Wie könnte ich etwas wecken, das nicht wach werden will?
Gleichzeitig wird konstatiert, dass die Zeit gerade knapp ist und vielleicht im nächsten Jahr wieder freie Kapazitäten vorhanden sind, um sich meinem Thema zu widmen.
Schweigen ist der Normalzustand von reden geworden. Und Tratsch? Tratsch als sofort wirkende Sozialhygiene mutet gefährlich an. Mit einiger Selbstzensur mag es angehen, macht allerdings keine Freude mehr. Zu leicht läuft man Gefahr, als unachtsam, rechts, frauenfeindlich, minderheitenfeindlich, genderkritisch zu gelten.
Ein rosa Elefant wacht am Feuer vorm Dorfkonsum. Kann nur ich ihn sehen? Ausgrenzungsbetroffene mit frisch gewonnener Diskriminierungserfahrung werden ignoriert und somit weiter ausgegrenzt. Selbst schuld, wer Anlass zur Ausgrenzung gegeben hat. Selbst schuld, wer jetzt nicht wieder mit dabeisein will.
Nein, mein Dorf ist kein Vorzeigedorf mehr. Den König machen die anderen ... Vielleicht waren wir nie die Pioniere gewesen die wir so gerne sein wollten? Es ist ein wundes Dorf, wie ich es mir nach dem Zweiten Weltkrieg vorstelle oder nach den Schmerzen der LPG-Gründung (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) in den 1950er-Jahren. Schwamm drüber und fertig. Wer reden will, der nervt. Man muss auch mal Ruhe geben können!
Vor einigen Monaten bat mich ein Fernsehjournalist um ein Interview zum Dorf „Hinter den roten Linien“. Er war wohl aus der Zeit gefallen. „Das, was ich dir zu sagen hätte, willst du sicher nicht senden“, sagte ich ihm. Er schien zu ahnen, was ich meinte: „Nee, bloß nicht.“ Er winkte ab und fragte mich, ob ich ihm jemand nennen könnte, der etwas Gutes zu erzählen hätte, ich wisse schon. Ob ich ihm jemand nannte? Natürlich machte ich das, ich mag schöne Geschichten.
Ich wünsche mir ein Startzeichen von der Landespolitik. Einen Aufruf an alle AusgrenzerInnen, um Entschuldung bei ihren Opfern zu bitten. Ja, Opfer. Einen Aufruf, lokale runde Tische zu bilden. Mehr noch, diese runden Tische mit Moderatorenteams zu bestücken und für ihre Finanzierung zu sorgen. Die Folge könnte eine positive Beziehungsgeschichte sein: „Hey, wir haben tiefe Konflikte gehabt, und wir haben sie gemeistert! Wie cool ist das denn!“ Das wünsche ich mir. Historiker würden später davon zeugen, wie wir gemeinsam die Flaschengeister einfingen, wieder unter den Korken drängten und die alten roten Linien abschritten.
In Prenzlau gibt es bereits runde Tische, deren Mitinitiatorin ich bin. Eine Hauptprotagonistin der großen Ausgrenzung in meinem Nun-nicht-mehr-Heimatdorf lehnte ihre Teilnahme mit dem strikten Hinweis ab, dass sie das unsolidarische Verhalten der Ausgegrenzten nicht verzeihen kann und es vorzieht, mit der gesellschaftlichen Spaltung zu leben.
Ein starkes Zeichen der Politik, so kraftvoll wie die Diffamierungskampagnen gegen die Andersdenkenden der vergangenen zwei Jahre, würde zumindest die Richtung für alle Zögernden vorgeben. Mehr noch, es würde die bewährten roten Linien wieder neu definieren: „Ausgrenzung geht gar nicht!“
Ohne Anstupse wird das in meinem kleinen uckermärkischen Dorf „Hinter den roten Linien“ nicht gelingen. Schade eigentlich, ich dachte, wir wären schon weiter.
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