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Gefährlicher Totenkult

Gefährlicher Totenkult

Wie 1914 taumeln wir in den Krieg hinein — aber dieses Mal wird es keine Überlebenden geben, die die Gräber pflegen könnten.

Zum Volkstrauertag stand in der Arheilger Post (APo), der Anzeigenzeitung unseres Stadtteils in Darmstadt, ein Beitrag, um „bisheriges kritisch zu betrachten und eine neue, zeitgemäße Form des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewalt zu finden“ — auch zur „Erweiterung gesellschaftlicher Perspektiven“ (1). Eine gute Idee!

Meine Mutter hat immer die Tür zugeschlagen, wenn davor jemand von der Kriegsgräberfürsorge erschien. Für sie waren die Gräber weniger Gedenken an die Opfer, sondern eher Teil eines staatlich organisierten und gefeierten millionenfachen Ritualmords, so wie das Bertolt Brecht in der „Legende vom toten Soldaten“ (2) geschildert hat.

Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg bei Laon durch einen Kopfschuss verwundet worden; mein Vater gehörte zu der Generation von Schülern, die nach der Niederlage von Stalingrad im Frühjahr 1943 zu den Flakhelfern eingezogen worden ist. sind. Später war er drei Jahre in russischer Gefangenschaft an der Wolga.

1978/1979 habe ich für 15 Monate Wehrdienst geleistet. Wir Soldaten sollten mögliche Gegner abschrecken, die Regierung sollte so handeln, „dass der internationale Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“, wie es in der Präambel des Nordatlantikvertrags steht (3). Horst Teltschik, Helmut Kohls Sicherheitsberater und später Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat 2019 in einem Gespräch die wesentlichen Faktoren dieser Politik benannt (4): Verantwortung, Verlässlichkeit, gegenseitiger Respekt, wehrhafte Zurückhaltung: Das sind die Bausteine, auf denen Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl Frieden, Wohlstand und nicht zuletzt die deutsche Wiedervereinigung erbaut haben.

Heute ist alles anders. Respekt war gestern; Maulhelden führen das große Wort, willfährige Schwätzer werden ständig als „Militärexperten“ zitiert, während kritische Stimmen mit echter Erfahrung nur in alternativen Medien ein Forum finden, solange das nicht weiter auffällt.

Wer wie Teltschik in der Zeit vor der Kubakrise in einer Kaserne bei Kassel tagelang zwischen voll aufmunitionierten Panzern auf den Einsatzbefehl gewartet hat (4), wird später alles dafür tun, dass seinen Kindern das erspart bleibt. In einem mehrfach veröffentlichen Beitrag hatte ich geschrieben: Das Gespräch mit Teltschik „sollte sich jeder anhören, der wissen will, was die deutsche Einheit möglich gemacht hat und was wir tun sollten, um den gegenwärtigen Konflikt mit Russland friedlich zu lösen“ (5.1 bis 5.5).

Keine drei Wochen später wurde es vom Netz genommen, zusammen mit tausenden anderen Artikeln. „Qualitätsoffensive“ nennt der verantwortliche Chefredakteur (6) diese „digitale Version der Bücherverbrennung“ (7). Noch gibt es Archive, von denen gelöschte Inhalte wieder abgerufen werden können, so auch das Interview mit Horst Teltschik (8). Aber überall wächst der Druck. Seit zwei Jahren versucht die britische Brigade für „psychologische Kriegführung“ mit dem „Project Alchemy“ unabhängige Portale wie „TheGrayzone“ auf juristischem Weg finanziell fertig zu machen (9).

Nichts darf das Narrativ stören, wonach ein aggressives Russland den friedlichen Westen zu den Waffen zwinge. Oleksandr Chalyi, ein erfahrener Diplomat, der auf ukrainischer Seite bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul dabei war, hat vor einem Jahr auf einer Veranstaltung des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), dazu Folgendes gesagt:

„Das europäische Sicherheitssystem hatte ausreichend Werkzeuge für die NATO, die Ukraine, die EU und Russland, um alle zwischen ihnen bestehenden Konflikte auf diplomatischem Wege zu lösen... Putin hat nach seiner Aggression vom 24. Februar 2022 sehr schnell gemerkt, dass er einen Fehler gemacht hatte, und hat alles versucht, um eine Vereinbarung mit der Ukraine zu erreichen. Putin wollte wirklich eine friedliche Lösung mit der Ukraine finden. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern“ (10).

Die Pflicht zur Zuversicht

Aber die NATO wollte den Sieg und hat immer weiter eskaliert. Hunderttausende haben das mit ihrem Leben bezahlt, unzählige wurden zu Krüppeln an Leib und Seele. Jetzt schließen beide Seiten den Einsatz von Atomwaffen nicht mehr aus. In der biblischen Offenbarung ist von sieben Siegeln die Rede, die am Ende der Zeit geöffnet werden (Offb. 6 bis 8).

Wir haben alle Sicherungen entfernt, alle Siegel, die uns bislang vor einer atomaren Vernichtung bewahrt haben, gelöst und stehen kurz davor, das letzte Kapitel der Menschheit aufzuschlagen.

In Europa gehen die Lichter aus“ sagte der britische Außenminister Edward Grey zu Beginn des ersten Weltkriegs (11). Wie 1914 taumeln wir in den Krieg hinein — aber dieses Mal wird es keine Überlebenden geben, die die Gräber pflegen könnten.

Mein Gott! Bunker und ein paar Konservendosen werden uns im Ernstfall doch nicht retten!

„Es gibt die Pflicht zur Zuversicht“ (12) hat mir Rafael Reißer, unser ehemaliger Ordnungsdezernent aus der CDU, den ich aus meiner Zeit in verschiedenen Bürgerinitiativen etwas kenne, am ersten Advent auf dem Weg zum Bäcker zugerufen — aber derzeit fällt es mir schwer, optimistisch zu sein. Wir setzen heute alles auf Krieg, nichts auf Frieden, obwohl „die Vernunft (...) den Krieg verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht“ (Kant)(13).

„Selig sind, die Frieden stiften“ (Mt 5,9) sagt Jesus in der Bergpredigt. Aus beidem folgt „Schlagt Brücken und versteht eure Feinde!“ (14). Nur so werden wir wieder zu einem friedlichen Miteinander der Völker zurück finden.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Schmidt, Hans und Klaus Becker (28. November 2024) Volkstrauertag – was nun? Seite 6, Arheilger Post: Darmstadt. https://www.arheilger-post.de/files/onlinezeitungen/pd24_Arheilgen_HP_20241128_web.pdf
(2) Brecht, Bertolt (Sommer 1918) Legende vom toten Soldaten. In: Ernst Busch singt Bertolt Brecht (um 1965) Lied A2. Deutsche Grammophon Gesellschaft 44028. Aufnahme: VEB Deutsche Schallplatten: Berlin. Siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=o9pAPnKUBAM
(3) NATO (4. April 1949) Nordatlantikvertrag. Artikel 1. Übersetzung aus Bundesgesetzblatt 1955, II. 293. zitiert nach: Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (1977). Grundgesetz, Nordatlantikvertrag, Wehrgesetze (Auszüge). Herausgegeben in der Schriftenreihe Innere Führung Fü S I5. BMVg: Bonn. (vgl. III.4(1), IV.4(8))
(4) Teltschik, Horst (25. Juni 2019) im Gespräch mit Florian Rötzer. Bericht: Bulgan Molor-Erdene (23.7.2019) „Völker vergessen Geschichte nicht“ https://www.heise.de/tp/features/Voelker-vergessen-Geschichte-nicht-4477016.html (Minute 3:00 – 4:00) Die Betreiberin der Webseite hat den Inhalt mit folgendem Warnhinweis versehen: „Der folgende Beitrag ist mehrere Jahre alt und entspricht daher möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion.“ Heise Medien GmbH & Co KG: Hannover.
(5) Nold Stefan. Wou Issn is Hirn?
(5.1) 16.11.2024: Overton Magazin, Köln. https://overton-magazin.de/top-story/wou-issn-is-hirn/
(5.2) 17.11.2024: Globalbridge, CH Zug. https://globalbridge.ch/wou-issn-is-hirn-wo-ist-denn-sein-gehirn-ein-kommentar-zur-politik-des-deutschen-kriegsministers-boris-pistorius/
(5.3) 20.11.2024: Forum gewerkschaftliche Linke, Berlin. https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/wou-issn-is-hirn/
(5.4) 21.11.2024: Manova News, Mainz (unter dem Titel: Tüchtig in den Tod) https://www.manova.news/artikel/tuchtig-in-den-tod/read
(5.5) 23.11.2024: Zeitgeschehen im Fokus, CH Dietlikon. https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-19-vom-23-november-2024.html#article_1760
(6) Neuber, Harald (6.12.2024) Qualitätsoffensive: Telepolis überprüft historsiche Artikel. Heise Medien : Hannover. https://www.telepolis.de/features/Qualitaetsoffensive-Telepolis-ueberprueft-historische-Artikel-10190173.html
(7) Henn, Dagmar (6.12.2024) Telepolis: Es lebe die retroaktive Zensur. https://dert.site/meinung/228641-telepolis-es-lebe-die-retroaktive-zensur/ RT DE: TV-Novosti: Moskau
(8) Florian Rötzer, dem ehemalige Chefredakteur von telepolis war die Löschaktion aufgefallen und hatte am 5.12.2024 am Ende eines Beitrags geschrieben: „Eigentlich wollte ich dazu meinen Artikel in Telepolis verlinken, musste aber feststellen, dass alle Artikel von der Gründung 1996 bis 2021 mittlerweile gelöscht wurden.“ https://overton-magazin.de/top-story/warum-putins-gift-wirkt-auch-wenn-gar-nichts-passiert/ Wenige Tage zuvor hatte ich mit diesem Beitrag begonnen und auch noch auf das Teltschik-Video verlinken können. [4] Auf Youtube ist das Video des Gesprächs derzeit aber noch verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=0XkmfoPmxVY
(9) Klarenberg, Kit (20.11.2024) Leaked files expose high-level UK military plot to destroy The Grayzone. https://thegrayzone.com/2024/11/20/leaked-files-uk-military-plot-grayzone/
(10) Chalyj, Oleksandr (5. Dezember 2023) (ehemaliger Stv. Außenminister der Ukraine) in: Breaking the Stalemate to FindPeace: The Russia-Ukraine War – A Geneva Security Debate: „In my diplomatic life I met Putin personally 16 times and I negotiated practically all critical and strategical Ukrainian/Russian bilateral agreements. Last time it was a very close dialogue group in Kremlin in 2008...before the Bucharest summit of NATO... What are the roots of Ukrainian war, not conflict but war, war in Ukraine? To my mind the key roots are determined firstly by geopolitics, namely the hard confrontation between the United States and Russia over Ukraine. This is what becomes the main trigger for full scale Russian aggression against Ukraine in 2022. Second root is geoeconomics, namely the hard confrontation between the EU and Russia over Ukraine. This was the key trigger for the illegal Russian annexation of Crimea and the start of the proxy war in Donbass in 2014. And thirdly Ukraine’s strong desire to become a member of European family, ... the desire of Ukraine to become member of NATO and EU. This was the key trigger for Ukrainian orange revolution in 2004. Another question, and I think this is a very important strategic question: Was Russian aggression against Ukraine inevitable? I am sure not. The European cooperative security system ... gave NATO, Ukraine, EU, Russia enough tools to diplomatically resolve all contradictions between them. But Putin committed a crime. He began in 2014 and then on 24 februar 2022 a direct aggression against Ukraine. In my opinion what Putin did is very well described by Fouché’s famous expression “This is more than a crime. It’s a mistake.” Putin became a victim of his own propaganda and his intelligence services and to my mind very quickly after the invasion on 24 February last year he very quickly understood his historic mistake and I was in that moment in the group of Ukrainian negotiators. We negotiated with the Russian delegation practically two months in March and April to (reach) a possible peaceful settlement between Ukraine and Russia and we, as you remember, concluded the so called Istanbul communique and we were very close in the middle of April and to the end of April fo find a way out of war with some peaceful settlement. For some reasons it was postponed. But to my mind Putin – this is my personal view – Putin in one week after starting his aggression in 24 February last year very quickly understood he did a mistake and tried to do everything possible to conclude an agreement with Ukraine. And (the) Istanbul communique it was his personal decision to accept the text of this communique which was totally far away from the initial proposal of Russia, ultimatum proposal of Russia, which they put before the Ukrainian delegation in Minsk. So he managed to find a very real compromise. So Putin really wanted to reach some peaceful settlement with Ukraine. It is very important to remember.“ https://www.youtube.com/watch?v=t2zpV35fvHw (Minute 24:30 bis 29:40). Geneva Centre for Security Policy: Genf.
(11) Hartmann, Götz (16.9.2024) “In Europa gehen die Lichter aus.” Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsoge: Niestetal.https://www.volksbund.de/nachrichten/in-europa-gehen-die-lichter-aus-kriegsgraeber-fuehrung-des-volksbunds-auf-dem-frankfurter-hauptfriedhof
(12) Boeser, Claudia (22.4.2024) Interview: Die Hoffnung auf ewigen Frieden nicht aufgaben. Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant: “Wir haben eine Pflicht zur Zuversicht auf ewigen Frieden” Deutschlandradio Kultur: Köln https://www.deutschlandfunkkultur.de/kant-wird-300-und-lehrt-uns-hoffnung-zu-haben-dlf-kultur-345b1f9e-100.html
(13) Kant, Immanuel (1795) Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Kant Werke Bd. 11, S. 211 https://oxnzeam.de/wp-content/uploads/2015/11/kant-zum_ewigen_frieden.pdf
(14) Nold, Stefan (20. Juli 2024) Kein Frieden – Keine Zukunft. Schlagt Brücken und versteht eure Feinde. Open Source: Darmstadt. https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2024/07/Nold-KeinFriedenKeineZukunft-24720sN.pdf

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