Nach mehreren schönen Tagen liegt Darmstadt an diesem Samstagmorgen unter einer dichten Wolkendecke. Am 29. März 2025 fand in Wiesbaden eine bundesweite Demonstration gegen die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland statt. Auch der langjährige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg hat gesprochen. In Wiesbadener Medien (1, 2) steht das, sonst weiß das nur die Friedensszene (3).
Der Blick ins Internet ist deprimierend. Der Focus raunt: „Schon in wenigen Jahren könnte Russland die Bundeswehr angreifen“ (4). Die Gegenseite meldet: „In Paris bereiten Macron und Selenskyj den dritten Weltkrieg vor“ (5). In einem Interview staunt von der Schulenburg: „Hören Sie sich mal die Sprache an, gucken Sie sich mal diese Resolutionen des EU-Parlaments an, wie die geschrieben sind. Das habe ich nicht mal im Iran-Irak-Krieg erlebt, wo wahrscheinlich eine Million Menschen umgekommen sind“ (6).
Seit Wochen hat ein Nachbar eine riesige ukrainische Fahne aus dem Fenster gehängt. Bei einem Länderspiel ist es der Union-Jack, weil er England-Fan ist.
Gestern habe ich im Internet ein Meer von ukrainischen Fahnen gesehen — auf endlosen Reihen von Gräbern. „Die Größe der Friedhöfe in der Ukraine hat sich mehr als verdoppelt“ (7), sagt der Moderator.
Es lohnt nicht, den Nachbarn darauf hinzuweisen. Noch nicht. Soll ich zu Demos fahren? Wenn jeder sagt, es bringt nichts, bringt es nichts. „Gott ist’s der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen“, heißt es im Philipper-Brief (2,13). Wir werden sehen. Nach Wiesbaden bin ich gefahren.
„Das müssen Sie mal dem Putin schreiben“, sagt mir ein älterer Herr, als ich mit meinem Plakat mit meinen 12 Geboten für den Frieden durch die Wiesbadener Bahnhofshalle laufe. Ich antworte: „Im April 2022 war man dem Frieden sehr nahe. Putin wollte wirklich Frieden. Das sage nicht ich, sondern der leitende Jurist der ukrainischen Delegation“ (8) — „Das habe ich nicht gewusst.“ Der Mann ist ehrlich überrascht, rollt nicht die Augen oder dreht den Kopf weg, wie ich das sonst erlebe.
Auf dem Bahnhofsvorplatz viele Menschen, Fahnen, selbst gebastelte Plakate. Ich treffe Freunde, alte Bekannte, bin schnell mit neuen Leuten im Gespräch. Eine alte Frau kommt auch aus Darmstadt, erzählt, wie sie die Folgen der Brandnacht vom 11. September 1944 erlebt hat.
„Als Kinder haben wir in den Ruinen gespielt. Die Leute waren so arm, dass sie die Kartoffelschalen aus dem Müll geholt haben.“
Der Protestzug bricht auf, vorneweg ein Laster auf dem die Bässe mit einem Friedens-Rap wummern. Als wir nach links in den Kaiser-Friedrich-Ring abbiegen, sagt mein Freund Michael:
„Hier sind wir damals hergelaufen, als wir gegen die Startbahn West protestiert haben.“
Ein selbst gemaltes Plakat fällt mir auf. Es hat die Aufschrift „Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind — das Denken muss das Töten ersetzen“ „Das ist von Gandhi“, sagt die Frau, die es trägt. Sie kommt aus Überlingen. Allein hat sie sich in aller Früh auf den Weg gemacht und wird abends gegen 11 Uhr wieder zu Hause sein. Sie war mal bei den Grünen. An einer Straßenecke steht ein Trupp junger Leute mit FFP2-Masken. Einer hat ein Megaphon in der Hand und macht uns darauf aufmerksam, dass bei unserem Marsch auch Rechte mitliefen. Ich habe viele Fahnen gesehen von den Linken, MLPD, DKP, BSW, von den Naturfreunden, Pax Christi, GEW, blaue Fahnen mit Friedenstaube oder in Regenbogen-Farben.
Für die Antifa ist jeder ein Nazi, der nicht ihrer Meinung ist.
Mir kommt ein Cartoon mit Lucy von den Peanuts (9) in den Sinn und die große Sprechblase aus ihrem Mund: „You blockhead!“ Blockierter Kopf. Das passt. Wir gehen weiter.
Die Plakate sind individuell, hier eine kleine Auswahl:
- Ich lasse mich gegen niemand aufhetzen. Frieden schaffen ohne Waffen.
- Menschen, weigert euch, Feinde zu sein.
- Wer einen Feind will, bekommt ihn.
- Raketen sind Magneten.
- Die Waffen liefern die Reichen, die Armen liefern die Leichen.
- Wer kriegstüchtig werden will, sollte üben: zu frieren, zu hungern, obdachlos und in Armut zu leben, Brutalitäten hinzunehmen, sein Leben zu opfern.
- Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg (Mahatma Gandhi)
- Vermittler senden, Leid beenden.
- Liebe ist die größte Kraft im Universum.
- Du, Mensch in unserem Land, wenn sie dir auf allen Kanälen eintrichtern wollen, du sollst kriegstüchtig werden, dann gibt es nur eins: Sag NEIN.
(frei nach Wolfgang Borchert)
Ich mache viele Fotos und auch meine 12 Friedensgebote (10) werden oft fotografiert. Zwei jung gebliebene Großeltern aus Erfurt tragen ein großes professionell gestaltetes weißes Transparent mit der Aufschrift:
„Wir wollen keinen Krieg! Wir haben unsere Söhne unter Schmerzen auf die Welt gebracht. Wir haben nachts an ihrem Bett gesessen, wenn sie krank waren. Wir haben stolz ihre ersten Schritte gesehen. Wir haben sie liebevoll ins Leben begleitet. Wir wollen, dass unsere Söhne und Männer leben! Wir wollen Frieden! Mütter und Frauen für den Frieden.“
Darunter das Foto eines schlafenden jungen Mannes mit einem Neugeborenen auf der nackten Brust. „Wir haben von unseren Kindern die Erlaubnis das Bild zu verwenden“, erzählt mir die Oma lächelnd mit angenehmem, leicht französischem Akzent.
Super, dass die Gewerkschaft auch da ist, sage ich einem grauhaarigen Mann mit einer einsamen Fahne der IG Metall.
„Ja“, sagt er, „früher gab es in den Gewerkschaften noch eine Bewegung für den Frieden.“ Er zeigt mir einen Button mit einem solchen alten Logo, das er an seine Fahne geheftet hat. „Heute freut sich der Betriebsratsvorsitzende von Rheinmetall über die vielen neuen Rüstungsaufträge.
Seit 60 Jahren höre ich, dass der Russe kommt. Er ist nie gekommen. Anfang der Siebziger haben wir beim Wehrdienst in Minden den Nahkampf trainiert — in Russenhäusern, so nannte man die damals.“ Russenhäuser? - - - ? - - - ! ! ! Wenn der Iwan nicht zu uns kommt, kommen wir eben zu ihm. Das scheint bei uns wieder mal die Devise zu sein.
Nach etwa anderthalb Stunden kommen wir auf dem Kranzplatz an, wo die Abschlusskundgebung stattfinden wird. Aufwändiges Equipment mit Großbildleinwand ist aufgebaut. Das Wetter ist richtig gut geworden, die Sonne scheint. An die 4.000 Leuten sind da. Die erste Rede hält Oberst Ann Wright, die aus den USA angereist ist. Sie war 20 Jahre in der Armee, 16 Jahre im diplomatischen Dienst und ist jetzt in der Friedensbewegung aktiv. Immer wieder entschuldigt sie sich für die Kriege der USA und für ihre Raketen, die in Wiesbaden stationiert werden sollen und für die Beihilfe zum Genozid in Gaza. Sie wird die einzige sein, die das anspricht.
Danach redet Özlem Alev Demirel von den LINKEN. Leidenschaftlich und doch irgendwie routiniert zieht sie vom Leder:
„Beim Militarismus geht es niemals um Werte, sondern um knallharte Geopolitik … Wenn es um Sozialausgaben geht, sagen sie uns, dass wir blank sind, und jetzt werden Milliarden für die Rüstung ausgegeben.“
Nun ja, die Landesregierungen mit linker Beteiligung haben im Bundesrat der Verfassungsänderung zugestimmt, gegen die die Genossin da vorne so wettert. Die LINKE und der Frieden, das ist wie coitus interruptus. Sie fängt gut an, aber im entscheidenden Moment macht sie einen Rückzieher. Vertrauen kann man dem linken Führungspersonal nicht.
Vertrauen ist das erste Stichwort von Michael von der Schulenburg: „Frieden hängt von Vertrauen ab, nach innen und nach außen.“ Aber die Änderung der Verfassung zum hemmungslosen Schuldenmachen für die Rüstung sei ein enormer Bruch des Vertrauens gewesen. Die derzeitigen Friedensgespräche würden von Emmanuel Macron und Keir Starmer torpediert, die immer noch glaubten, Weltmächte zu sein. „Die Ukrainer sind bei alle dem die Betrogenen.“
Zu Trump meint er: „Frieden wird nie von Engeln geschlossen. Frieden ist immer ein Kompromiss von Interessen.“
Zum Schluss zitiert der erfahrene Diplomat Willy Brandt:
„Ohne Frieden ist alles nichts. Und deshalb müssen wir für Frieden Kompromisse schließen.“
Die Stationierung der Mittelstreckenraketen ist das Thema von Regina Hagen. „Nicht durch die Stationierung, sondern durch die Abschaffung der Mittelstreckenraketen (im Rahmen des 2019 von Trump gekündigten INF-Abkommens) hat sich die Sicherheit erhöht.“ Der letzter Redner ist Michael Müller, der Vorsitzende des Bundes für Naturfreunde. Er spricht von einer „Krise des Gehirns durch den Militarismus, die nicht kriegstüchtig, sondern kriegssüchtig“ mache. Er fordert dazu auf, „ein gemeinsames Haus Europa zu bauen, zu dem auch Russland gehört.“ Zum Schluss bittet Moderatorin Andrea Hornung die Zuhörer, den „Berliner Appell" (11) gegen die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen zu unterschreiben. Blaue Eimer werden herumgereicht, um Spenden zur Finanzierung der Veranstaltung zu sammeln. Sie füllen sich schnell mit kleinen Scheinen.
Sogar der Tagesschau ist die Kundgebung eine kurze Meldung wert (12). Ausführlicher und mit einem positiven Unterton berichtet die Hessenschau (13). Es folgt die Einordnung oder besser die „Einnordung“ durch Niklas Schörnig vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Er erzählt wieder die Geschichte vom russischen Imperialismus und wiederholt das noch mal auf die Frage von Kristin Gesang, der Moderatorin: „Ist das wirklich so? Ist das Putins Agenda? Sich räumlich auszudehnen?“ „Alle kommen zu dem Schluss“, ist seine Antwort. Das Anliegen der Pazifisten sei „ehrenwert ... aber in der aktuellen Situation nicht das, was wir für Frieden brauchen.“
Es ist das übliche Framing: Die lieben Omas und Opas meinen es ja gut, aber die Fachleute wissen am besten, was zu tun ist.
Nein, gerade viele Ex-Militärs fordern eine friedliche Lösung, wie Brigadegeneral und Merkel-Berater Erich Vad, der ehemalige Generalinspekteur Harald Kujat oder der Veteran aus dem Irak-Krieg Oberst Douglas Macgregor. Das passt nicht ins vorgegebene Narrativ und kommt daher in der Diskussion nicht vor. Wieder mal sind es die ahnungslosen beschlipsten Schreibtischtäter, die die Soldaten in den Tod treiben. Die immer stärker werdende konservativ-libertäre Bewegung (14, 15, 16) in den USA und ihre Forderung, alle Soldaten nach Hause zu holen und sich in Übersee nicht mehr zu engagieren, werden bei uns komplett ausgeblendet. Dabei sind das die Stichwortgeber für Donald Trump und seine Politik.
Am Ende der Hessenschau gibt der nette Onkel vom Leibniz-Institut Entwarnung: „Ich glaube nicht, dass das ein neuer Start für die Friedensbewegung ist.“ Vielleicht. 4.000 Teilnehmer sind eine ganze Menge, aber wenn die Eintracht spielt, kommen zehnmal so viele Zuschauer und im Bonner Hofgarten 1982 waren es hundertmal so viele, die für den Frieden demonstriert haben. Kirchen und Gewerkschaften sind — von Ausnahmen abgesehen — ein Totalausfall. Die AfD ist zwar für den Frieden mit Russland, aber mit der wollen die anderen Friedensfreunde nichts zu tun haben. Sollte man nicht in diesem Punkt mit der AfD zusammenarbeiten und sie da vorführen, wo sie nackt ist, nämlich in der sozialen Frage?
Nachdem die Politik der tonangebenden Parteien und ihrer Claqueure in den Medien nichts als Tod, Vernichtung und Armut gebracht hat, brauchen wir jetzt endlich eine Brandmauer gegen den Krieg.
Wir haben lange genug darauf gewartet, dass sich die grünen Kriegstreiber von heute auf ihre pazifistischen Wurzeln von früher besinnen. Mit Faschisten arbeitet man nicht zusammen? Leute, macht euch nicht lächerlich. Die linken Freunde des Friedens sollten an Willy Brandt denken. Als „Vaterlandsverräter“ wurde er damals von einer in Teilen zutiefst revanchistischen CDU diffamiert, weil er nicht in Hitlers Wehrmacht gedient hatte. Und dennoch hat er mit dem früheren Spitzenbeamten im NS-Außenministerium unter Ribbentrop, dem Ex-Nazi Kiesinger, koaliert. Es war das Sprungbrett für seine spätere Entspannungspolitik.
Trübe Aussichten? Nicht ganz. Mir hat der individuelle, aus eigenen Ideen entstandene Protest Mut gemacht. Wir haben keine Parolen nachgeblökt, sondern unsere eigenen Gedanken zum Ausdruck gebracht. In dem Buch „The tipping point — how small things can make a big difference“ (17) (Der Kipppunkt — wie kleine Dinge einen großen Unterschied machen können) hat Malcom Gladwell anhand von Beispielen aus den USA die scheinbar aus dem Nichts heraus entstehende Dynamik von sozialen Veränderungen beschrieben. Das gilt auch bei uns.
Wer hätte sich 1985 vorstellen können, was 1989 in Deutschland passiert ist? Genau vor so einer Situation haben die westlichen Eliten in ihren Politbüros in Brüssel und Berlin eine höllische Angst. Man kann die Menschen nicht immer im Tal der Ahnungslosen halten, irgendwann bricht sich der gesunde Menschenverstand Bahn und dann kann es auf einmal ganz schnell gehen. Auf lokaler Ebene habe ich das selbst erlebt und war aktiv daran beteiligt (18).
Wer die sozialen Gesetzmäßigkeiten um den Kipppunkt herum kennt und sich zunutze macht, kann viel bewirken. Die neue Regierung steht mit dem Rücken zur Wand, bevor sie überhaupt gebildet worden ist. Die Friedensbewegung hat es nun in der Hand, ob sie weiter ihre Befindlichkeiten pflegt oder die Gunst der Stunde nutzt und sich an die Spitze des langsam wachsenden Dranges nach Frieden in der Bevölkerung setzt.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.wiesbadener-kurier.de/lokales/wiesbaden/stadt-wiesbaden/demo-gegen-us-raketen-am-samstag-in-wiesbaden-4502850
(2) https://wiesbadenaktuell.de/2025/03/26/protest-gegen-aufruestung-demonstration-am-29-maerz-in-wiesbaden/
(3) https://frieden-und-zukunft.de/2025-03-29-demo-wiesbaden/
(4) https://www.focus.de/politik/analyse/putin-ruestet-deutschland-schlaeft-warum-bald-ein-krieg-mit-russland-droht_955c1eba-669b-4783-9306-612bc2c12d37.html
(5) https://dert.site/meinung/240886-koalition-willigen-in-paris-bereiten/
(6) https://www.hintergrund.de/politik/politik-eu/europa-ist-in-einem-grauenhaften-zustand/
(7) https://www.youtube.com/watch?v=FOyYPRiEs6o
(8) Chalyj, Oleksandr (5.12.2023) in: Breaking the Stalemate to Find Peace: The Russia-Ukraine War – A Geneva Security Debate. https://www.youtube.com/watch?v=t2zpV35fvHw (Minute 24:30 – 29:40). Geneva Centre for Security Policy: Genf.
(9) https://www.amazon.de/Peanuts-Untersetzer-Blockhead-Lizenziertes-Originaldesign/dp/B01CUKJ9KE
(10) https://zgif.ch/wp-content/uploads/2025/01/05_26032024.pdf
(11) https://nie-wieder-krieg.org/
(12) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesschau_20_uhr/ts-70314.html
(13) https://www.hessenschau.de/tv-sendung/demo-in-wiesbaden--gegen-nato-raketen--hessenschau-vom-29032025,video-208992.html
(14) https://original.antiwar.com/
(15) https://ronpaulinstitute.org/
(16) https://www.theamericanconservative.com/
(17) Gladwell, Malcom (2000) The Tipping Point. How little things can make a big difference. Little Brown and Company, New York.
(18) Nold, Stefan (2012) Veränderung selbst gemacht. In: Beerdigung Reifenwechsel Hochzeit, S. 103 bis 112. Justus von Liebig Verlag, Darmstadt.