Gefährlicher Totenkult

Wie 1914 taumeln wir in den Krieg hinein — aber dieses Mal wird es keine Überlebenden geben, die die Gräber pflegen könnten.

Wer „für sein Land“ — letztlich also für wahnwitzige Politiker und ihre Machtgelüste — gestorben ist, hat noch immer die besten Chancen, von seiner Stadt in zentraler Lage mit einem Denkmal geehrt zu werden. Den Bäckern, den Bauern, den Floristinnen und Kindergärtnerinnen dagegen flicht die Nachwelt keine Kränze, obwohl es Berufe sind, die das Leben fördern. Dabei ist wahrscheinlich, dass die Soldaten, an deren Gräbern wir trauern, nicht nur getötet wurden, sondern auch getötet haben. Ihr Schicksal ist dennoch schwer und bedauerlich. Vorsichtig sollten wir nur sein, wenn Staatenlenker das gut gemeinte Totengedenken für ihre Zwecke nutzen und gleichzeitig die Weichen für neue Kriege stellen, die in naher Zukunft wieder Tausende junge Menschen ins Grab bringen könnten. Wir ehren die Toten am besten, indem wir aus ihren Schicksalen lernen und indem wir das Leben der Lebenden schützen. Das bedeutet vor allem, sich jeder Provokation gegenüber vermeintlichen Feinden zu enthalten und im Zweifel immer für den Frieden einzutreten.

Zum Volkstrauertag stand in der Arheilger Post (APo), der Anzeigenzeitung unseres Stadtteils in Darmstadt, ein Beitrag, um „bisheriges kritisch zu betrachten und eine neue, zeitgemäße Form des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewalt zu finden“ — auch zur „Erweiterung gesellschaftlicher Perspektiven“ (1). Eine gute Idee!

Meine Mutter hat immer die Tür zugeschlagen, wenn davor jemand von der Kriegsgräberfürsorge erschien. Für sie waren die Gräber weniger Gedenken an die Opfer, sondern eher Teil eines staatlich organisierten und gefeierten millionenfachen Ritualmords, so wie das Bertolt Brecht in der „Legende vom toten Soldaten“ (2) geschildert hat.

Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg bei Laon durch einen Kopfschuss verwundet worden; mein Vater gehörte zu der Generation von Schülern, die nach der Niederlage von Stalingrad im Frühjahr 1943 zu den Flakhelfern eingezogen worden ist. sind. Später war er drei Jahre in russischer Gefangenschaft an der Wolga.

1978/1979 habe ich für 15 Monate Wehrdienst geleistet. Wir Soldaten sollten mögliche Gegner abschrecken, die Regierung sollte so handeln, „dass der internationale Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“, wie es in der Präambel des Nordatlantikvertrags steht (3). Horst Teltschik, Helmut Kohls Sicherheitsberater und später Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat 2019 in einem Gespräch die wesentlichen Faktoren dieser Politik benannt (4): Verantwortung, Verlässlichkeit, gegenseitiger Respekt, wehrhafte Zurückhaltung: Das sind die Bausteine, auf denen Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl Frieden, Wohlstand und nicht zuletzt die deutsche Wiedervereinigung erbaut haben.

Heute ist alles anders. Respekt war gestern; Maulhelden führen das große Wort, willfährige Schwätzer werden ständig als „Militärexperten“ zitiert, während kritische Stimmen mit echter Erfahrung nur in alternativen Medien ein Forum finden, solange das nicht weiter auffällt.

Wer wie Teltschik in der Zeit vor der Kubakrise in einer Kaserne bei Kassel tagelang zwischen voll aufmunitionierten Panzern auf den Einsatzbefehl gewartet hat (4), wird später alles dafür tun, dass seinen Kindern das erspart bleibt. In einem mehrfach veröffentlichen Beitrag hatte ich geschrieben: Das Gespräch mit Teltschik „sollte sich jeder anhören, der wissen will, was die deutsche Einheit möglich gemacht hat und was wir tun sollten, um den gegenwärtigen Konflikt mit Russland friedlich zu lösen“ (5.1 bis 5.5).

Keine drei Wochen später wurde es vom Netz genommen, zusammen mit tausenden anderen Artikeln. „Qualitätsoffensive“ nennt der verantwortliche Chefredakteur (6) diese „digitale Version der Bücherverbrennung“ (7). Noch gibt es Archive, von denen gelöschte Inhalte wieder abgerufen werden können, so auch das Interview mit Horst Teltschik (8). Aber überall wächst der Druck. Seit zwei Jahren versucht die britische Brigade für „psychologische Kriegführung“ mit dem „Project Alchemy“ unabhängige Portale wie „TheGrayzone“ auf juristischem Weg finanziell fertig zu machen (9).

Nichts darf das Narrativ stören, wonach ein aggressives Russland den friedlichen Westen zu den Waffen zwinge. Oleksandr Chalyi, ein erfahrener Diplomat, der auf ukrainischer Seite bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul dabei war, hat vor einem Jahr auf einer Veranstaltung des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), dazu Folgendes gesagt:

„Das europäische Sicherheitssystem hatte ausreichend Werkzeuge für die NATO, die Ukraine, die EU und Russland, um alle zwischen ihnen bestehenden Konflikte auf diplomatischem Wege zu lösen... Putin hat nach seiner Aggression vom 24. Februar 2022 sehr schnell gemerkt, dass er einen Fehler gemacht hatte, und hat alles versucht, um eine Vereinbarung mit der Ukraine zu erreichen. Putin wollte wirklich eine friedliche Lösung mit der Ukraine finden. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern“ (10).

Die Pflicht zur Zuversicht

Aber die NATO wollte den Sieg und hat immer weiter eskaliert. Hunderttausende haben das mit ihrem Leben bezahlt, unzählige wurden zu Krüppeln an Leib und Seele. Jetzt schließen beide Seiten den Einsatz von Atomwaffen nicht mehr aus. In der biblischen Offenbarung ist von sieben Siegeln die Rede, die am Ende der Zeit geöffnet werden (Offb. 6 bis 8).

Wir haben alle Sicherungen entfernt, alle Siegel, die uns bislang vor einer atomaren Vernichtung bewahrt haben, gelöst und stehen kurz davor, das letzte Kapitel der Menschheit aufzuschlagen.

In Europa gehen die Lichter aus“ sagte der britische Außenminister Edward Grey zu Beginn des ersten Weltkriegs (11). Wie 1914 taumeln wir in den Krieg hinein — aber dieses Mal wird es keine Überlebenden geben, die die Gräber pflegen könnten.

Mein Gott! Bunker und ein paar Konservendosen werden uns im Ernstfall doch nicht retten!

„Es gibt die Pflicht zur Zuversicht“ (12) hat mir Rafael Reißer, unser ehemaliger Ordnungsdezernent aus der CDU, den ich aus meiner Zeit in verschiedenen Bürgerinitiativen etwas kenne, am ersten Advent auf dem Weg zum Bäcker zugerufen — aber derzeit fällt es mir schwer, optimistisch zu sein. Wir setzen heute alles auf Krieg, nichts auf Frieden, obwohl „die Vernunft (...) den Krieg verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht“ (Kant)(13).

„Selig sind, die Frieden stiften“ (Mt 5,9) sagt Jesus in der Bergpredigt. Aus beidem folgt „Schlagt Brücken und versteht eure Feinde!“ (14). Nur so werden wir wieder zu einem friedlichen Miteinander der Völker zurück finden.