Eine sportliche Funktionsjacke wird beworben. Sie hat, so ist zu lesen, eine dreifache Ausstattung: wasserdicht, winddicht und atmungsaktiv. Würde die Außenjacke nicht mehr benötigt, könne die Fleece-Innenjacke auch einzeln getragen werden. Ergibt zwei Jacken kombiniert zu einer. Der Hersteller spricht von einem „multifunktionalen Bekleidungssystem“. Nur: Muss das sein? Braucht es diesen Begriff? Man könnte entgegenhalten, dass die deutsche Sprache doch geradezu berühmt dafür ist, Wortungetüme zu erschaffen und also daran nichts ungewöhnlich sei.
Neologisch Fragwürdiges wie „multifunktionales Bekleidungssystem“ nimmt sich allerdings geradezu harmlos aus im Vergleich zu monströsen Komposita wie Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Lohnsteuerermäßigungsantragsformular und Eisenbahninfrastrukturbenutzungsverordnung. Es gibt Wortriesen, die es sogar ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft haben. Dort aufgeführt als längstes deutsches Wort ist Donaudampfschifffahrtselektrizitätenhauptbetriebswerkbauunterbeamtengesellschaft. Zum Vergleich: Das längste französische Wort, das von der Académie française offiziell anerkannt wurde, hat 25 Buchstaben und lautet „anticonstitutionnellement“. Auch das Italienische kann mit dem deutschen Hang zu sprachlichen Übertreibungen nicht mithalten. Was unter anderem mit der Grammatik romanischer Sprachen zusammenhängt.
Gut so?
Da es unter Menschen schon kompliziert genug ist, sind weitere Verstrickungsangebote tatsächlich eher hinderlich. Man könnte also argumentieren, Sprache solle besser das allzu Aufwendige unterlassen und vielmehr selbst sein wie eine Funktionsjacke, also in der Hauptsache praktisch und so anzuwenden, dass man dabei möglichst nicht nachdenken muss.
Das allerdings erteilt auch der Poesie und Literatur eine Absage. Anders gesagt: Applikationen sind ebenso unerwünscht wie ausgefallene Schnitte. Schönheit und Ästhetik werden ohnehin subtrahiert, ganz so wie es der technikaffine Zeitgeist will. Jemanden wie den Schriftsteller Peter Handke mag man unter all denen, die Sprache handhaben wie Funktionskleidung für einen trefflich Verirrten halten, wenn er befindet, die Wörter seien „die Sonne der Welt“. Ihm an die Seite ist Walter Benjamin zu stellen, der eintrat gegen eine Sprache, die zu einem bloßen Mittel erniedrigt wird, das dem Handelnden dienlich ist.
Wohin nur, wohin geht es mit der deutschen Sprache? Man mag sich an Nebenkriegsschauplätze wie bürokratisches Kauderwelsch leidvoll gewöhnt haben, das wohl eigens dafür geschaffen wurde, in den temporären Wahnsinn zu treiben, und auch an den wüsten Gebrauch von Anglizismen, die als populäre Waffe im frenetischen Feldzug gegen das deutsche Vokabular eingesetzt werden.
Von mindestens Lieblosigkeit will da kaum jemand sprechen, schon gar nicht von subtiler Gewalt, sondern man wähnt sich lieber in hemdsärmeliger Weltoffenheit, so als wäre man eigentlich in Beverly Hills zu Hause.
Statt Anrufe werden Calls getätigt, statt zum Mittagessen geht es zum Lunch, statt Verabredungen zu treffen, daten sich Paarungswillige. Es gibt keine Geschäfte mehr, sondern Stores; der Schlussverkauf heißt Sale. Die dominierende Arbeitssprache in deutschen Start-ups ist mit 30 Prozent ohnehin Englisch und wenn es nach der FDP geht, so soll Englisch als zusätzliche Verwaltungssprache in deutschen Behörden eingeführt werden.
In Anlehnung an Thilo Sarrazin gefragt: Schafft sich die deutsche Sprache, von immerhin 130 Millionen Menschen weltweit gesprochen, bald ab? Gewiss, das hebt zu einem apokalyptischen Tenor an, der mitnichten intendiert ist, zumal der Bedarf an Endzeitstimmung bei vielen gedeckt sein dürfte. Trotzdem, da das unablässige Massakrieren an der deutschen Sprache weitergeht, lässt sich ein gewisser Alarmismus nicht vermeiden. Während Wörter wie Labsal und Saumseligkeit, die man durchaus als Preziosen bezeichnen darf, sang- und klanglos verschwunden sind, werden andere dem moralisch-korrekten Furor geopfert. Bezeichnungen wie Indianer und Eskimo unterliegen dem Diskriminierungsverdacht; es folgen Turbobestattungen.
Zugleich, ebenfalls im Zuge von Sexismus- und Rassismusdebatten, werden wahre Ausgeburten der Hölle geschaffen. Ein Friedrich von Schiller, der einst vom Weib schwärmte, das „durch Anmut allein herrschet“ und des „Weibes weibliche Schönheit“ als „wahre Königin“ würdigte, hätte sich gewiss nicht träumen lassen, dass er als „Cis-Mann“ sich im Grunde zur Frau überhaupt nicht mehr zu äußern hat, schon gar nicht hymnisch, und dass diese ohnehin, nurmehr auf ihre Körperfunktionen reduziert, ihre genderneutrale Wiederauferstehung als menstruierende und gebärende Person hat. Wen es da nicht gruselt, der findet freilich nichts dabei, sich auch sonst genderideologisch zu verausgaben. Dass die Sprache daran erheblichen Schaden nimmt, spielt schlichtweg keine Rolle im Zuge geschlechtergerechter Obsessionen.
Der Schriftsteller Uwe Tellkamp erkannte sehr richtig, Gendern sei „eine Vergewaltigung von Sprache“. Man müsse, wie er im Oktober 2022 bei einer Lesung in Neubrandenburg erklärte, die Sprache als „tausendstimmige Orgel“ verstehen. Würde man zwei Register der Orgel wegnehmen, weil diese „irgendwie kolonial belastet“ seien, dann klinge die Orgel nicht mehr. So sei es, wenn gegendert werde. Auch Dieter Hallervorden ist, wie er in mehreren Interviews deutlich machte, ein Gender-Gegner ― so wie übrigens der überwiegende Teil der Bevölkerung. Sprache sei, so der Komiker, nun mal „nicht von oben herab zu diktieren “, das habe es „einmal von den Nazis und einmal von den Kommunisten“ gegeben, und habe nur temporär und unter großem Druck funktioniert.
Wollen wir etwa wieder dahin schlittern? Und wo stehen wir eigentlich jetzt? Man kommt angesichts der bisherigen Bestandsaufnahme nicht umhin, festzustellen:
Die deutsche Sprache ist in einem besorgniserregenden Zustand. Eingeengt. Festgezurrt. Tonnenschwer beladen. Dazu kommt der inflationäre Gebrauch bestimmter Wörter, was charakteristisch ist für Propaganda, die inzwischen an der Tagesordnung steht. Der stete vokabulare Missbrauch, sei es im Namen von Pandemie, Klima oder Ukraine.
Eine der Folgen beschreibt die deutsche Schriftstellerin Marica Bodrožić in ihrem Band „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe“ so: „Die gusseisernen Begriffe unserer Zeit, die sich so sehr auf der Seite des Guten wähnen, aber gar nicht mehr empfunden werden, zerstören das Gleichgewicht der Wahrheit und schicken Frequenzen der Störung aus, die sich etwa dann zeigen, wenn beispielsweise immerfort von Gleichberechtigung oder Solidarität gesprochen wird, ohne dass diese je eingelöst würden.“ Das entleerte Wort werde mit jeder Wiederholung nur noch leerer ins Gedächtnis eingepflanzt, bis es gänzlich in die Lüge kippe. Man ertaube mit der Zeit an der entleerten Wiederholung und „sieht nicht mehr nach echter Sprache suchend in sich selbst hinein.“
In seiner „Ars Poetica“ setzt der römische Dichter Horaz die Sprache mit einem Wald gleich, der sein Laub wechselt: „Was Sterbliche vollbringen, ist dem Untergang geweiht; wie sollten Lautgebilde sich ewig in Geltung und in Gunst behaupten?“. Es ist also erst einmal ganz natürlich, dass Sprache sich wandelt; wie alles Lebendige unterliegt sie dem Prinzip der Veränderung. Aber wie alles Lebendige braucht sie auch Zuwendung, die sie nährt und blühen lässt. Sonst verwahrlost sie ― und stirbt eines Tages. Man müsste also, auch wenn es pathetisch klingen mag, der Sprache, sollte uns etwas an ihr liegen, unbedingt mehr Liebe angedeihen lassen.
Alleine die Forderung erscheint absurd, denn müsste es nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, da wir täglich, der Schreibende meist mehr oder zumindest anders als der Sprechende, mit ihr umgehen.
Ist nicht der, der lieblos gegen die Sprache ist, lieblos gegen sich selbst? Gemäß Martin Heidegger, dem deutschen Philosophen, ist die Sprache „Aufenthalt für das Wesen des Menschen“. Sie ist der „Ort des Seins“, mithilfe derer die „Wahrheit des Seins“ gefunden werden könne.
Auch hier lässt sich wieder Walter Benjamin dazustellen, der überzeugt war, „dass jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat“. Der Ursprung der menschlichen Sprache sei göttlich ― siehe Johannesevangelium „Am Anfang war das Wort“. Und es vollende sich die göttliche Schöpfung, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, durch die sich der „geistige Gehalt“ der Gegenstände offenbare.
Was geschieht, wenn wir uns auf diese ins Metaphysische ragende Ebene einlassen? Und was eigentlich wird einer Sprache zuteil, die geliebt wird? In Platons „Symposion“ heißt es, die wahre Liebe wolle, dass der Geliebte werde. Der Liebende wolle den Geliebten weder beherrschen noch besitzen; er verfolge nicht sein eigenes Interesse, sondern das des Geliebten. Auf dass dieser zu seinem Wesen finde. Auf die Sprache übersetzt, muss also gefragt werden, was will die Sprache von uns? Was genau können wir ihr geben, damit sie werde? Alleine dieser Blickwechsel vermag in Gang zu setzen, was längst überfällig ist.
Redaktionelle Anmerkung: Der Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Liebeserklärung an die deutsche Sprache“ bei Die Weltwoche.
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