Mit dem Namen dieses Artikels, „Die neue Wirklichkeit“, beziehe ich mich zunächst auf ein schönes und aufrüttelndes Lied der beiden Liedermacher Konstantin Wecker und Pippo Pollina: „Questa nuova realtà“, also „Diese neue Wirklichkeit“. Das Lied spricht von menschlicher Solidarität und Lebensfreude im Angesicht einer Welt, die von einem kollektiven Wahn („folia“) ergriffen und von einer Rückkehr des Faschismus überschattet wird.
„Heute spricht mal keiner den Anderen schuldig. Heute lässt mal jeder den Anderen anders sein“, lautet eine von Weckers schönen deutschsprachigen Textpassagen. Der italienische Refrain von Pippo Pollina heißt übersetzt ungefähr:
„Nehmen wir uns bei der Hand, wenn der Abend kommt. Es trägt uns weit, bis zu den Lichtern der Morgenröte. Lass uns alles mit dem Herzen tun. Lasst es seine eigene Sprache sprechen. Lasst sie herein, diese neue Wirklichkeit!“
Den Begriff „Neue Wirklichkeit“ fand ich des Weiteren auch bei Rudi Dutschke, dem 1979 an den Folgen eines Attentats gestorbenen ehemaligen Studentenführer der „68er-Bewegung“. Die Äußerung aus Dutschkes Tagebuch zeigt einen Zusammenhang zwischen spiritueller und politischer Freiheit auf und hat mich schon deshalb bewegt:
„Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst. Diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit, die gleichermaßen und vielleicht noch mehr erkämpft sein will. Den Ausspruch Jesu ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt’ kann ich nur immanent verstehen. Natürlich, die Welt, in der Jesus wirklich lebte und arbeitete, war noch nicht die neue Wirklichkeit. Diese galt und gilt es noch zu schaffen.“
Diese Sichtweise scheint von Anfang an eher das Mögliche als das Gegebene, eher die Zukunft als Gegenwart und Vergangenheit im Blick zu halten. Für „Realisten“ sind Visionen einer neuen Wirklichkeit ohnehin eine Lachnummer. „Ich fand euren Plan schon immer etwas unrealistisch“ sagt die Nachbarin im Hollywood-Film „Zeiten des Aufruhrs“. Kate Winslet und Leonardo DiCaprio spielen darin ein junges Paar, das aus einer spießigen amerikanischen Vorortsiedlung ausbrechen will, um seinem Traum vom freien Leben in Paris zu folgen. Der Plan scheitert, weil die von Kate gespielte Frau schwanger wird. Ein Triumph für die biederen Nachbarn, für all jene, die schon immer gewusst haben, dass es vernünftiger ist, beim Alten und Bewährten zu bleiben.
Wer es wagt, seine Träume zu leben, muss den Gegenwind all derer überwinden, die sich dies nicht getraut haben. Dennoch ist es der Traum, der uns an diesem Film begeistert, und dessen Zerbrechen ist es, was uns traurig macht, weil es uns an eigene Versäumnisse erinnert. „You may say, I’m a Dreamer“, sang der große John Lennon.
Träumer haben heute wie damals keine Hochkonjunktur. Wir erleben seit langem eine erstickende kulturelle Dominanz des Realismus. „Realpolitik“ legt sich derzeit wie ein Grauschleier über das Land und droht alles Lebendige zu ersticken. Sie verschließt ihre Fenster vor der Luftzufuhr aus möglichen, besseren Welten.
Realpolitiker messen den Begriff des „Möglichen“ stets an den bestehenden Machtverhältnissen. Der Verzicht auf Utopien bedeutet also die Selbstbeschränkung auf den von den Mächtigen vorgegebenen Bewegungs- und Denkspielraum.
Realpolitik bringt jene „Zwänge“, auf die sie Rücksicht zu nehmen meint, auf diese Weise immer wieder selbst hervor.
Und von welchem „Realismus“ sprechen wir überhaupt? Von jener realpolitischen Annahme etwa, dass unbegrenztes exponentielles Wachstum machbar sei, dass man Frieden mit Gewalt herbeibomben könne oder dass die Politik systematisch die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten betreiben, gleichzeitig aber eifrigen Konsum erwarten dürfe? Spätestens im Zeitalter der Atomkraft ist die Berufung auf „Sachzwänge“ obsolet, ist die tiefe Irrationalität, der Wahnsinn des „Vernünftigen“ offenkundig geworden.
Der Begriff der „Utopie“ hat im 20. Jahrhundert leider sehr an Anziehungskraft verloren. Denkt man an utopische Romane, fallen einem zuerst die negativen ein. George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ oder José Saramagos „Die Stadt der Blinden“ sind nicht gerade Stimmungsaufheller.
Utopien sind im 20. Jahrhundert vor allem deshalb aus der Mode gekommen, weil man den Begriff hauptsächlich mit den unter verheerenden Umständen gescheiterten Gesellschaftsentwürfen des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus sowjetischer Prägung verband. „Utopie“ wird in der öffentlichen Debatte synonym gebraucht mit „ideologisch begründete Maximalforderung, die am wirklichen Leben vorbeigeht“.
Ideologien, die einen „neuen Menschen“ forderten, gingen oft am tatsächlichen menschlichen Wesen vorbei, das ist wahr. Sie überforderten den Menschen, so wie er nun mal ist, und versuchten ihn in ein theoretisches Gedankengebäude zu pressen. „Was nicht passt, wird passend gemacht“.
Dies allerdings ist nicht das Wesen der Utopie.
So wie manche gesellschaftliche Entwürfe den Menschen möglicherweise überforderten, so wird er vom gegenwärtigen politischen Establishment unterfordert. Man reduziert ihn auf ein Wesen, das den Status Quo nur verwaltet, das eine Anpassungsleistung an das Vorgegebene zu vollziehen hat.
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, ist ein häufig zitiertes Bonmot des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, denn es fehlt ihm etwas, das wesentlich zum menschlichen Potenzial gehört. Gesund zu sein bedeutet heil zu sein, ganz zu sein. Wem eine so wesentliche menschliche Fähigkeit fehlt, wie die, Visionen zu spinnen (also Bilder einer im Außen noch nicht existierenden Realität zu entwerfen), der ist mitnichten psychisch gesund.
Hier wirkt sich auch das spirituelle Ideal des Lebens im „Hier und Jetzt“ kontraproduktiv aus. Gern schwärmen spirituelle Sachbuchautoren vom Plätschern eines Bergbächleins, vom Duft einer Blume oder dem Surren einer auffliegenden Hummel – von jenen kleinen Wundern des Lebens, die wir versäumen, wenn wir uns gedanklich zu weit von unserer unmittelbaren Gegenwart entfernen. Sogar das geistige Abschweifen in Vergangenheit und Zukunft wird pauschal als spirituell unkorrekt verdammt.
So wichtig die achtsame Wahrnehmung der Gegenwart auch ist; uns wurde die Fähigkeit, Ort und Zeit mit Gedankengeschwindigkeit zu wechseln, ganz offensichtlich nicht verliehen, damit wir sie ungenutzt lassen. Es gibt für alles eine Zeit. Es gibt eine Zeit zum achtsamen Verweilen bei jedem wärmenden Sonnenstrahl auf unserer Haut. Und es gibt eine Zeit, um uns Welten vorzustellen, in denen wir gern leben möchten, aber längst noch nicht leben.
Die Selbstbeschränkung auf ein „kleines Bild“ der gemeinsam bewohnten Realität ist oft nichts anderes als eine klammheimliche Allianz zwischen denen, die gern herrschen und denen, die sich damit abgefunden haben, beherrscht zu werden.
Einer, der immer versucht hat, das Machbare mit dem Utopischen zu versöhnen, war Rudi Dutschke. „Es bedarf in der Tat der Hoffnung, Phantasie und des Traums, um die bestehenden Verhältnisse transzendieren zu können“, schrieb Dutschke.
Die Brücke zwischen Realpolitik und Utopie fand er im philosophischen Begriff des „Noch-Nicht“, den Ernst Bloch in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ geprägt hatte. Was sonst als illusionär bespöttelt und politisch ausgegrenzt wird, betrachtete Dutschke als „objektive Möglichkeit menschlichen Daseins“.
„Das Dynamit der Phantasie muss philosophisch-soziologisch sein, um realistische Phantasie, konkrete Utopie denken und entwickeln zu können. Solidarität, Freiheit, Phantasie, Utopie, Liebe etc. gehören zusammen, sie gilt es miteinander zu vermitteln.“
Die Tatsache, dass in der 68er-Zeit überhaupt Utopien entstehen konnten, setzte voraus, dass ein Geist herrschte, der dem noch nicht Existierenden einen hohen Stellenwert einräumte. Alles Seiende ist für Ernst Bloch umgeben von einen geistigen Feld unrealisierter Möglichkeiten. Eine solche Deutung erinnert durchaus auch an neuere Erkenntnisse der Quantenphysik. „Die Wirklichkeit ist im Grunde nicht Realität, sondern Potenzialität. Wir leben nicht in einer materiellen, sondern in einer geistigen Welt“, schrieb der Physiker Hans-Peter Dürr. Er schrieb dies keineswegs nur als philosophische Spekulation, sondern aufgrund sorgfältiger Erforschung des „innersten Bezirks“ der Materie.
In einer Zeit nun, in der die Wissenschaft unsere Auffassung von „Realität“ zutiefst in Frage gestellt hat, scheinen „Realismus“ beziehungsweise „Realpolitik“ eine anachronistische Spätblüte zu erleben. Dies ist nicht nur aus rein künstlerisch-ästhetischen Gründen bedauerlich, es ist auch gefährlich.
Wenn wir uns nämlich zugunsten des vordergründig „Seienden“ vom Möglichen abschneiden, blenden wir fahrlässig eine ganze Dimension menschlicher Entfaltung aus.
Eine „irrationale“ Kraft, die Sehnsucht, ist es meistens, die uns wieder auf die Spur bringt. Dorian Gray in Oscar Wildes gleichnamigem Roman spricht von einer nicht nur politischen Sehnsucht nach dem „Noch-Nicht“. Er äußert dort ein „wildes Verlangen, unsere Lider möchten sich eines Morgens einer neuen Welt öffnen, die in den dunklen Stunden zu unserer Lust neu geformt worden wäre, einer Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten und verwandelt wären oder andere Geheimnisse enthielten“.
Der Mensch hat laut Grundgesetz das „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Dieses Recht scheint aber sowohl für die Herrschenden als auch für viele Beherrschte so beängstigend zu sein, dass sie gemeinsam den Raum des Vorstellbaren auf minimale Abweichungen vom real Gegebenen zu beschränken suchen.
Dazu aber ist Fantasie, ist Vision, ist Imagination nicht da. Diese sollen vielmehr das Noch-Nicht vorwegnehmen, damit es überhaupt eine Chance hat, zum Hier und Jetzt zu werden.
Momentane gesellschaftliche Entwürfe unterscheiden sich von der Gegenwart oft nur so weit, wie ein Schatten dem Mann vorauseilt, der ihn wirft. Die Vision sollte aber vielmehr einem Falken gleichen, der vom Arm seines Besitzers in die Höhe steigt, um Horizonte zu finden, die vom Boden aus nicht zu erkennen sind.
Man darf den Träumen nicht vorwerfen, dass sie immer ein Stück größer sind als die Wirklichkeit. Sie sind der größere Rahmen, nach dem sich das Leben streckt. Wenn wir schon klein träumen, um wie viel kümmerlicher werden wir dann leben!
Das schlechte Image der Utopien und Visionen in den letzten Jahrzehnten hat bewirkt, dass sich fast niemand mehr welche zu spinnen traute. Die Folge ist nun, dass das Alte in seinen Sterbeprozess eingetreten ist, bevor sich das Neue in etwas konkreterer Form am Horizont abzeichnet. Wir müssten praktisch in den Fluss springen, ohne das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Das kostet Mut, den wir kaum entwickeln konnten, weil wir uns in dem goldenen Denkkäfig, der von interessierten Mächten für uns gebaut wurde, behaglich eingerichtet haben.
Das erste Opfer in Kriegen sei stets die Wahrheit, heißt es. Eines der ersten Opfer in Diktaturen ist stets die Fantasie.
Diktaturen neigen zu einem mehr oder minder „realistischen“ Kunstideal. Der „sozialistische Realismus“ sollte die Inhalte der Kunst im Wesentlichen auf das in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Wahrnehmbare beschränken. Auch die Kunst der Nationalsozialisten mit ihren kernigen Menschen, Landschaften und Gebäuden hielt sich – trotz aller pathetischer Übertreibung – an die Formen, die für Menschen mit normal ausgeprägtem Wahrnehmungsvermögen in der „Realität“ sichtbar waren.
Was alle so genannte „entartete Kunst“ gemeinsam hatte, war dagegen die Tatsache, dass diese Maler ihrer inneren Vision gefolgt sind. Was wäre die Kunst – speziell die des 20. Jahrhunderts – wenn man sich alles „Unrealistische“ wegdächte?
Und was ist überhaupt Realität? Marc Chagall, dessen Kunstwerke mehr der „Logik“ von Träumen zu folgen scheinen, sagte: „Unsere Innenwelt ist die Realität, und das womöglich mehr als die Außenwelt“.
Anlass für diese Bemerkung war seine Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime der Sowjetunion, das Künstler abseits des „sozialistischen Realismus“ in ihrer Entfaltung behinderte. Die Fähigkeit, über das Bestehende hinauszudenken, wird von allen Mächten als Bedrohung angesehen, die sich ihrer eigenen Legitimation unsicher sind. „There is no Alternative“ (abgekürzt auch „TINA“) gehört zu den bekanntesten Zitaten Margret Thatchers und bezieht sich auf die damals als unbesiegbar geltende neoliberale Wirtschaftslehre.
Für ein Regime, das die Annahme: „Nichts ist von Belang, außer dem, was gerade ist“ zum Machterhalt braucht, wird jeder Traum verdächtig.
Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass wir die Fantasie als Gegenmittel gegen die drohende Erstarrung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit wiederentdecken müssen. Neben Bildern, Musik und Filmen, die die Imagination auf eher unspezifische Weise stimulieren, muss auch die politische Utopie wieder ihren Platz im geistigen Leben finden. Konstantin Wecker sang dazu in seinem Lied „Wer nicht genießt, ist ungenießbar“ folgende schöne Zeile:
„Die Herren pokern, ihre Welt schneit unsere Herzen langsam ein. Jetzt kann nur noch die Fantasie die Sterbenden vom Eis befreien.“
Sein großer französischer Kollege Jacques Brel sang in den 70er-Jahren, kurz vor seinem Tod: „Die Welt schläft ein aus Mangel an Unvernunft“. In gewisser Weise ist es nur „Unvernunft“, was sie wieder erwecken kann. Gemeint ist damit natürlich die kreative Rebellion gegen einen Status Quo, der nur scheinbar vernünftig ist.
Wo das Mögliche unsere Welt aber krankgemacht hat, wie sollte sie wieder gesunden, wenn nicht durch das „Unmögliche“?
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