Begeistert begann ich meine Lektüre der Briefe zwischen Hannelore und Nora. Endlich spiegelt jemand die Konflikte wider, die sich seit anderthalb Jahren in sämtliche Beziehungen, Familien und Freundschaften geschlichen haben. Endlich versucht die Autorin mit ihrem Buch, eine Brücke über den Graben zu bauen, der sich seit der Corona-Pandemie durch unsere Gesellschaft zieht.
Der „Briefwechsel“ aus dem gleichnamigen Buch beginnt mit einem Brief von Hannelore an all ihre Kontakte. Nachdem ihr zehnjähriger Enkel Max sie fragte, ob sie glaube, dass Kinder später in Geschichtsbüchern über Corona lesen werden, beschloss sie, eine Art Zeitzeugnis-Sammlung anzulegen und verschickte einen Fragebogen an all ihre Freunde, Familienmitglieder und Bekannten.
Nora, die Tochter eines Freundes, ist besonders begeistert. Das ist der Anfang eines langen Austauschs zwischen zwei Frauen, die die Corona-Zeit sehr unterschiedlich wahrnehmen, aber entschlossen sind, sich der Sichtweise der anderen zu öffnen. Auch Nora verschickt den Fragebogen an ihren Bekanntenkreis und beide teilen die jeweiligen Rückmeldungen immer wieder in ihren Briefen.
Es ist spannend, die privaten Briefe fremder Menschen mitzulesen, die im Laufe des Buchs zu Vertrauten werden. Hannelore ist eine beeindruckende Frau: 74 Jahre alt, ehemalige Professorin und quietschfidel. Sie fühlt sich alles andere als alt und lernt begeistert die neuen Internet-Technologien, um Online-Workshops und virtuelle Familientreffen zu veranstalten.
Als Tochter eines Studienfreundes von Hannelore ist Nora um einige Jahre jünger, Mutter von drei Kindern und freiberufliche Autorin und Journalistin. Sie ist neugierig und einfühlsam, verzweifelt an den Maßnahmen. Ihr Vertrauen in die Regierung bröckelt, während Hannelore versucht, ihr gut zuzureden. Die meisten Rückmeldungen der Fragebögen bestätigen Hannelore in ihrer Wahrnehmung, dass die deutsche Regierung die Krise „super meistere“, was sie immer wieder in ihren Antworten auf Noras Zweifel einfließen lässt.
Enttäuschte Erkenntnis
Als Rubikon-Autorin ist klar, zu welcher Position und somit Protagonistin ich mich mehr hingezogen fühle. Wie Nora möchte auch ich die „andere Seite“ besser verstehen lernen, hoffe auf neue Informationen, die mich ihnen näherbringen, und natürlich auf ein offenes Ohr, wie Hannelore es versprach. Meine Erwartung wird enttäuscht. Kein einziges Mal geht Hannelore wirklich auf die Argumente von Nora ein, geschweige denn sieht sie sich die Links und Quellen an, die diese ihr mitschickt.
Hannelore hält sich selbst für offen, weil sie nicht den Kontakt zu Nora abbricht und ihr weiterhin wohlgesonnen ist und ihr nach wie vor liebevoll schreibt. Immerhin das gelingt. Beide können ihre Positionen bewahren, ohne die Beziehung abzubrechen. Ein Beispiel für uns alle.
Ich hatte mir von diesem Buch jedoch unbewusst erhofft, miterleben zu dürfen, wie beide Menschen sich für die andere Sichtweise öffnen, was meines Erachtens nur von Noras Seite geschah, die die Angst der Menschen dank Hannelores Briefe und ihrer Selbstkritik erkennen und somit Rücksicht darauf nehmen konnte.
Bestätigte Erkenntnis
Die Wahrnehmungen der Krise von Menschen verschiedener Altersklassen, aber aus derselben Mittelschichtposition heraus, bestätigen die beiden Bücher zur Medienkritik, die ich soeben las. Michael Meyen und Marcus Klöckner beschreiben in „Die Propaganda-Matrix“ und „Zombie-Journalismus“, wie die Medien auf uns als Konsumenten und unser Weltbild wirken, dass wir ihre Darstellung unbewusst für die Realität halten, obwohl wir wissen, dass sie immer nur einen Ausschnitt wiedergeben, und das auch noch aus der subjektiven Perspektive der Journalisten.
Aus dieser Position heraus möchte man den Verfassern der Fragebogenantworten diese beiden Bücher zur Medienkritik dringend ans Herz legen, damit sie beginnen zu erkennen, wie selbstverständlich sie davon ausgehen, „Bescheid zu wissen“, nur weil sie sich in offiziellen Medien informieren. Und vor allem, damit sie endlich beginnen, die Informationen, die sie konsumieren, kritischer zu hinterfragen.
„Bei der Verfolgung der immens vielen Nachrichten haben wir wiederholt festgestellt, wie froh wir sein können, hier in Deutschland zu leben. Wie viel schlimmer hat es etliche andere Länder getroffen? Welche Katastrophen haben sich dort abgespielt, wo der medizinische Dienst nicht ausreichend war? (…) Am meisten bestürzt mich die Tatsache, dass einige der regierenden Herrschaften dieser Welt der Wahrheit nicht ins Auge schauen wollen und ihre eigenen Leute belügen. Die vertuschen, verschweigen und reden schön, nur um sich mal wieder in den Vordergrund zu spielen, und allen vorzumachen, sie hätten alles im Griff. Nichts haben sie im Griff! Darüber ärgere ich mich maßlos.
Aber ausrichten können wir dagegen vermutlich nichts. Weil es uns an Geld, Reichtum und Macht, in Form von Gold, Diamanten, Erdöl und anderen Ressourcen mangelt. Das ist die Währung, mit der man die Welt regiert.“
Kurz zuvor schreibt genau dieselbe Person, die so klar sieht, wie — andere — Regierungen ihre Bürger belügen:
„Ich finde den Weg, den Deutschland eingeschlagen hat, sehr überlegt. Natürlich sind auch die Herrschaften von der Regierung keine Zauberkünstler. Sie können dieses gefährliche Virus nicht einfach verschwinden lassen. Aber wenn man mal alle politischen Belange außer Acht lässt, muss ich sagen, dass sich unsere Bundeskanzlerin ziemlich souverän und verantwortungsvoll gezeigt hat“ (Arno, 67 Jahre, Musiker).
Auch andere Rückmeldungen des Fragebogens machen mehr als deutlich, dass Menschen, die sich über die Medien informieren, nicht mehr in der Lage sind, zu erkennen, dass sie nichts wissen, sondern glauben, was ihnen gesagt wird.
Die mangelnde Fähigkeit, das eigene Weltbild zu hinterfragen, die Meyen und Klöckner den Journalisten zuschreiben, gilt ebenso für deren Leser.
Immerzu sehen sie Betrug und Interessenkonflikte im Ausland, aber kämen nie auf die Idee, dass diese auch in Deutschland ein Problem sein könnten. Diese Unfähigkeit frustriert mich sehr. Da sie im Buch so deutlich zu Tage tritt, könnte es vielleicht doch dem einen oder anderen Leser die Augen öffnen? Ich habe wenig Hoffnung, doch die Erfahrungen der Autorin auf ihren Lesungen sind ermunternd:
„Vergangene Woche kam eine Zuhörerin nach meiner Lesung auf mich zu und erzählte mir, wie groß ihre Wut auf die Querdenker sei, die sie bisher nur durch die Brille der Medien ‚kennengelernt‘ hatte. Nun will sie morgen in Berlin zur Demo gehen, um sich selbst ein Bild zu machen.
Und eine Leserin, die eher den Querdenkern zuzuordnen ist, schrieb mir: ‚Erst habe ich gedacht, ich kann gar nicht weiterlesen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum die Menschen solche Angst haben. Dann aber wendete sich etwas in mir. Danke! Durch Ihr Buch angeregt, habe ich mir vorgenommen, nicht immer gleich so wütend zu sein, wenn jemand dermaßen anders denkt, und den Kontakt nicht zu verlieren“ (Doreen Mechsner, E-Mail).
Überraschende Erkenntnis
Beim Lesen dieses ungewöhnlichen Werks fiel mir eines auf: Alle Sichtweisen unterscheiden sich voneinander und ähneln einander zugleich. Menschen, die anders auf die Corona-Maßnahmen blicken, sind sich einig, was den Umweltschutz anbelangt oder die soziale Gerechtigkeit. Zwei Menschen, die in Bezug auf die Corona-Maßnahmen einer Ansicht sind, haben in anderen Bereichen wie militärische Einsätze oder Wohlstand vielleicht verschiedene Positionen, während Maßnahmen-Gegner und -Befürworter vermutlich bei vielen anderen „Baustellen“ der Gesellschaft am gleichen Strang ziehen.
Es gibt diese zwei komplett anderen Lager nicht. Viele Menschen haben ebenso viele unterschiedliche Weltbilder, die sich zum großen Teil überschneiden und an manchen Stellen voneinander abweichen. Ein Beispiel hierfür in Bezug auf mein Weltbild:
„Global betrachtet hat es andere Staaten echt ärger getroffen. Ich denke, die Politik, die nationale Selbstüberschätzung, Geldgier und soziale Ungerechtigkeit sind da einen fatalen Pakt eingegangen. Dass gewisse hohe Tiere (wie in Brasilien oder auch in Ungarn) nicht persönlich die Konsequenz für ihr Missmanagement dieser Pandemie tragen müssen, beweist mir nur eines: Der Satz ‚Vor dem Virus sind wir alle gleich‘ stimmt so nicht. An der medizinischen Versorgung scheiden sich die Staatsoberhäupter unheimlich schnell von syrischen Flüchtlingen, amerikanischen Familien ohne Krankenversicherung und Arbeitern einer deutschen Großfleischerei.“
Die Sorge um sozial schlechter gestellte Menschen teile ich voll und ganz. Und dann lese ich von derselben Person:
„Tagesaktuell bereitet mir die Stimmung in Deutschland Sorgen. Die Tatsache, dass es trotz vier- und fünfstelliger Todeszahlen in sämtlichen Industrienationen immer noch Leute gibt, die alles für einen ‚Fake‘ halten, erschreckt mich. Dass auf sogenannten Hygiene- und Menschenrechtsdemos Polizisten und Journalisten verprügelt werden, schreit zum Himmel“ (Caro, 44 Jahre, Biologin ohne Job).
Hier erschrecke ich vor der zu meiner Sicht diametral entgegengesetzten Wahrnehmung der Demos. Wobei wir wohl beide nie an einer teilgenommen haben. Ich wohne in Spanien und war somit nie in Deutschland dabei, als meine Freunde und Kollegen demonstrierten. Doch die Medien, denen ich folge, zeigten Gewalt von Seiten der Polizei oder aber friedliche Demonstranten und friedliche Polizisten, die in einer bewegenden Geste ihre Helme abnahmen, um ihre Solidarität mit den Demonstrierenden zum Ausdruck zu bringen.
Fazit
Hinterfragen, hinterfragen, hinterfragen. Mut zur Aussage „Ich weiß es nicht“. Das brauchen wir, egal welche Ansichten wir zu welchen Themen haben. Uns immer wieder den Unterschied zwischen unserem „Wissen“, unserer „Wahrnehmung“ und unserem „Glauben an eine Informationsquelle“ bewusst machen. Das ist anstrengend, doch nur so können wir tatsächlich offen sein für andere Sichtweisen und eine Annäherung an die Wahrheit.
Nach der Lektüre von „Briefwechsel“ wird mir klar, wie dringend wir auch einen neuen Journalismus brauchen, wie Klöckner und Meyen ihn einfordern. Gott sei Dank planen sie eine Akademie, an der Medienkonsumenten und -produzenten lernen können, was guten Journalismus ausmacht. Würden die Medien ihren Job machen, wären die „Mainstream“-Mediennutzer wohl offener für andere Ansichten und die Gesellschaft nicht so gespalten wie zurzeit.
Jeder ist gefragt, sich selbst in Medienkompetenz und bewusster Kommunikation zu üben, um aus diesem Schlamassel hinauszufinden, hoffentlich bevor es irgendwann kracht.
Auch wir, die Produzenten und Leser der alternativen Medien. Denn wenn wir nicht immer wieder achtsam schauen, wie wir die Welt wahrnehmen und kommunizieren, tappen wir in dieselben Fallen, die wir bei der anderen Seite kritisieren.
Machen wir es besser. Oder wie Maja Göpel sagen würde: „Das können wir besser“ (1).
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://schrotundkorn.de/leben/maja-goepel-das-koennen-wir-besser
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