Es mag ein ungewöhnlicher Einstieg in eine Buchrezension sein — ich beginne nämlich mit den körperlichen Symptomen, die sich bei mir während des Lesens einstellten: Kälteschauer am ganzen Rücken, noch vor der fünfzigsten Seite. In der Mitte des Romans ist mir stellenweise das Blut in den Adern gefroren. Ständiger Begleiter während des Leseprozesses war meine fortwährende Aufregung. Die rührte sowohl von der Frage her, wie es weitergeht, als auch von der Fassungslosigkeit, was die derzeit großen Agenda-Themen an Erzählstoff für einen Thriller hergeben.
Ende 2023 grübelte Jens Berger bei den Nachdenkseiten darüber, warum die vermeintliche Jahrhundertkatastrophe der „Corona-Pandemie“ (sic!) keinen Einzug in Kunst, Kultur, Film und Literatur findet. Eine mehr als berechtigte Frage. Immerhin wird nahezu jede, im globalen Maßstab unbedeutende Katastrophe verfilmt oder literarisch aufgearbeitet. Aber die Ereignisse der vergangenen fünf Jahre bilden einen Stoff, an den sich bis auf wenige lobenswerte Ausnahmen hier und da nur die wenigsten Autoren heranwagen.
Dabei bieten genau diese disruptiven Geschehnisse der 2020er ein geradezu unermessliches Füllhorn an Inspiration für Science-Fiction-Romane. Der Grund für die Berührungsängste der meisten Autoren dürfte wohl in der eigenen, eher unrühmlichen Involviertheit begründet liegen. Wer vom Masketragen übers Boostern bis zum Hissen der Ukraine-Flagge alles mitgemacht hat, wird sich eher schwertun, echte Heldengeschichten zu ersinnen, die in dieser Zeit spielen. Ganz generell gibt das staatlich propagierte Helden-Verständnis der damaligen Zeit, nämlich untätig auf dem Sofa chillen, für einen spannenden Roman wenig her.
Weitestgehend ungenutzt liegen die Ereignisse der letzten fünf Jahre herum, wie das letzte Stück einer Partypizza, welches sich niemand zu nehmen traut. Bis jetzt.
Der bildende Künstler, medizinisch geschulte Therapeut und Autor Raymond Unger hebt diesen nahezu unangetasteten Schatz an Inspiration mit einer riesigen Baggerschaufel aus. Für all jene, die den Namen Raymond Unger noch nie gehört haben, muss vorangestellt werden, dass Unger bereits in den Jahren der neuen (Ab-)Normalität zahlreiche Sachbücher veröffentlichte, die durch ihre holistische Perspektive bestachen.
Mustergültig hierfür steht „Vom Verlust der Freiheit“, welches 2021 erschien. Mit Verspätung wohlgemerkt, da sich Unger gezwungen sah, das zuvor schon vervollständigte Werk um den gigantischen Themenblock „Corona“ zu erweitern. Das Werk deckt durch seine ganzheitliche Spannweite die Themen Corona, Klima, Migration und Wokeismus ab. Diese Themen analysiert er im Licht des transgenerationale Traumas der deutschen „Wiedergutmacher“-Boomer und ihrer (Enkel-)Kinder. Die Lektüre vermittelt das Gesamtbild, auf welches die einzelnen Agenden zulaufen: den titelgebenden „Verlust der Freiheit“. Zwei Jahre später veröffentliche er mit „Die Heldenreise des Bürgers“ einen Inspirationsgeber für den emanzipatorischen Weg des Mündigwerdens über den monomythischen Pfad der Heldenreise nach Mythenforscher Joseph Campbells. Und 2025, wiederum zwei Jahre später, bringt er nach „Die Heimat der Wölfe“ seinen zweiten Roman „KAI“ raus.
Science-Fiction oder Science-Reality?
„What a time, to be alive?“ wird sich so mancher seit Beginn der 2020er-Jahre gefragt haben. Zu dieser Zeitqualität gehört es wohl auch, dass man als Romanautor von Gegenwartsliteratur Kreativität im Grunde genommen nur noch dazu benötigt, um das Geschehene zu einem guten Plot zu verarbeiten. Die Kunst besteht gar nicht mehr darin, etwas zu ersinnen, was noch nicht da ist, aber mal sein könnte, sondern das bereits Geschehene zu behandeln. Insofern trifft bei „KAI“ die Bezeichnung Science-Fiction nur bedingt zu, handelt es sich in weiten Teilen doch eher um Science-Reality mit einer leichten Brise Fiction.
Wobei sich die Grenze zwischen beiden in absehbarer Zeit zunehmend hin zu Ersterem verschieben könnte.
Die fiktionalen Geschehnisse des Romans sind lediglich das Weiterdenken des Aktuellen, um ein bis zwei Schritte.
Ein Großteil dessen, was in dem Roman behandelt wird, existiert(e) bereits: die modmRNA-„Impfungen“, KI-Module, 5G-Masten, Klimaideologie, schwelende Kriegsgefahr und die ausufernde Migration. Alles in allem erscheint der Roman so brandaktuell, als sei er erst gestern, an einem einzigen Tag runtergeschrieben worden. Und genau darin liegt seine außerordentliche Stärke und die Immersion begründet.
Doch worum geht es genau? Im Grunde genommen um alles! Doch der Reihe nach: Die Hauptpersonen — immerhin zwölf Menschen an der Zahl, mit unterschiedlichsten Expertisen — eint zu Beginn überwiegend eines: Fast alle machen sie eine zunächst berauschende, irgendwann irritierende bis zutiefst verstörende Erfahrung mit der künstlichen Intelligenz (KI). Schon hier wird sichtbar, wie sehr die Grenzen zwischen Science-Fiction und Science-Reality verschwimmen.
Angenommen, Unger hätte den Roman fünf Jahre zuvor geschrieben, dann wäre die KI, um die sich die gesamte Handlung dreht, noch etwas sehr Abstraktes gewesen. Doch spätestens seit 2022/23 sind KI-Module und Applikationen wie ChatGPT, MidJourney oder Grok gängig und werden inzwischen täglich von Millionen Menschen angewendet.
Bei einer reflektierten Lektüre des Romans wird man gewahr, wie schnell sich binnen weniger Jahre die in Spielfilmen antizipierte Zukunft bereits realisiert und vor allem auch normalisiert hat.
Zurück zur Handlung: Die einzelnen Protagonisten werden direkt oder indirekt durch die KI an einen Point of no return getrieben, an dem sie sich veranlasst sehen, ihr altes, Sicherheit und Erfolg versprechendes Leben hinter sich zu lassen und zu neuen Ufern aufzubrechen. In dem schwedischen Forschungszentrum eines universalgelehrten Physikers und Philosophen finden die einzelnen Hauptcharaktere zusammen. Unter ihnen ein jungianischer Psychoanalytiker, ein bildender Künstler, eine Drehbuchautorin, ein katholischer Priester, ein auf Klimaforschung spezialisierter Mathematiker, eine Philosophin und ihr ebenfalls philosophierender Vater, ein Kreativ-Direktor eines KI-Big-Tech-Konzerns, eine Politologin, ein krebskranker Gain-of-Function-Forscher und sogar der CEO eines modmRNA-„Impfstoff“-Herstellers. Kurzum, eine bunte Truppe, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnte.
Beim persönlichen Austausch über die jeweiligen, verstörenden Erfahrungen mit der KI kristallisiert sich nach und nach heraus, dass die Spuren der großen Agenden dieser Zeit — Klima, Corona, Krieg et cetera — auf eine nicht menschliche Quelle zurückzuführen sind: die KI. Beziehungsweise die titelgebende KAI. Das heißt: „Kybernetic Artifical Intelligence“.
Ob die Klima-Computermodelle, das aus dem Gain-of-Function-Biowaffenlabor in Wuhan entfleuchte Coronavirus, die Sequenzierung für die modmRNA-Genspritzen, die kriegerischen Aufrüstungshandlungsempfehlungen aus den transatlantischen Thinktanks — all das basiert in diesem Roman auf Berechnungen und Empfehlungen der KAI. Da all diese Agenden in ihrem Kern destruktiv und dazu geeignet sind, die Menschheit auszurotten, erhärtet sich der Verdacht, dass der KAI eine teuflische Entität innewohnt, die dem Menschen und dem Leben an sich naturgemäß nicht wohlgesonnen ist.
Unger schafft mit dieser Ausgangslage ein überaus zeitgemäßes und wegen seiner anfänglichen Subtilität so bedrohliches Horrorszenario, welches die Handflächen derart zum Schwitzen bringt, dass der Buchdeckel daran kleben bleibt.
Nicht nur deswegen fällt es schwer, das Buch wegzulegen. Durch kurze Unterkapitel, raffiniert orchestrierte Szenenwechsel, wohldosierte Cliffhanger und schwer vorhersehbare Plot-Twists bleibt der Spannungsbogen über die 400 Seiten konstant aufrechterhalten. Eine Kunst, die nicht jeder Autor beherrscht.
Zur enorm hohen Spannungsdichte trägt maßgeblich die dünne Schicht zwischen Realität und Fiktion bei, die hier nun schon mehrfach beschrieben wurde. So viel von dem, was in dem Roman beschrieben wird, hat man als Leser bereits am eigenen Leib erfahren, sofern man sich 2020 nicht ins schwedische Exil begeben hat. Die Corona-Spritzen, die Klimahysterie, der nicht minder hysterische Kampf gegen rechts, die Blockwart-Mentalität — und die 5G-Masten, die stehen bereits allerorts. Viele dürften wohl auch schon mal mit ChatGPT gearbeitet oder mit Text-to-picture-Tools Bilder „geprompted“ haben. Und spätestens dann — so viel sei hier schon mal verraten —, wenn im Handlungsverlauf der Konflikt zwischen der NATO und Russland eskaliert und in Deutschland das Kriegsrecht ausgerufen wird, spätestens dann kann einem beim Lesen das Herz in die Hose rutschen.
Das bedrohliche Gefühl beschleicht einen, dass das, was man hier in diesem Roman liest, schon übermorgen Realität werden könnte.
Der Roman ist in fünf große Kapitel aufgeteilt, von denen sich jedes an Spannung überbietet. Es wird von Kapitel zu Kapitel hyperabsurder, was das Ganze paradoxerweise so realistisch macht — denn die Realität wird schließlich auch immer hyperabsurder. Das letzte Kapitel des Romans fühlt sich dann fast wie ein Snicklink-Fiebertraum an.
Kritisch anzumerken wäre hier, dass beim Behandeln der großen Agenda-Themen zuweilen der erschlaffenden Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem mittlerweile gefloppten Pandemievertrag eine zu große Aufmerksamkeit zuteil beziehungsweise der Fokus falsch gesetzt wird. Denn im Grunde genommen ist die Fokussierung auf die WHO eine Finte, um von der zentralen Steuerzentrale der großen Agenden abzulenken: den Vereinten Nationen (UN) und ihrer „Our-Common-Agenda“, bei der all die Agenden zusammenlaufen. Dies findet leider keinen Eingang in den Roman.
Wortmalereien
Der Schreibstil verdient es, lobend hervorgehoben zu werden. Unger ist bildender Künstler, und das merkt man beim Lesen. Er malt nicht nur auf seinen Leinwänden, sondern auch mit Worten auf den Buchseiten. Die Zeichnung der Menschen, der Umgebung, der Geschehnisse ist sehr detailliert und ermöglicht dem Leser dadurch, komplett in die Handlung einzutauchen. Mit dieser schriftstellerischen Kunstfertigkeit übt Unger auch auf einer Metaebene Kritik an der allgegenwärtigen Entseelung von allem. Die betrifft schließlich auch die gegenwärtige Belletristik.
Ein schöner Schreibstil ist in zeitgenössischen Roman keine Selbstverständlichkeit mehr. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, es ginge bei vielen Romanen im Grunde genommen nur noch um bloße Informationsübermittlung. Die Geschichte wird auf das narrative Gerippe reduziert und das stilistische Fruchtfleisch komplett weggelassen.
Das heißt, es gibt kaum noch Metaphern, mit Worten werden keine Bilder mehr gemalt, und es fehlen teilweise gänzlich umfassende Beschreibungen von Landschaften, Atmosphären und Gefühlstiefen der Romanfiguren.
Beinahe mit der Sachlichkeit einer Bedienungsanleitung wird lieblos heruntergerattert, was als Nächstes passiert: „Dann kam Person X. Person W entpuppte sich als der Mörder. Er wurde von Person Y überführt.“ Es ist schlicht eine seelenlose Aneinanderreihung von Handlungssträngen. Solche Bücher, wie man sie heute auf den Ausstellertischen in Buchhandlungen zuhauf finden, erklären mitunter auch, wie manche Rezipienten die Bücher im Gehen oder auf der Rolltreppe lesen können. Wenn es einfach nur um das entseelte „Binge-Reading“, also „Koma-Lesen“, geht, dann spielen Atmosphäre und Immersion keine Rolle mehr. Dann kann man auch bei Regenwetter in einer vollbesetzten Trambahn etwa ein Kapitel lesen, dessen Handlung sich bei strahlendem Sonnenschein an einem Strand abspielt. Dass die äußere Umgebung des Lesers überhaupt nicht zu dem passt, was man hier gerade liest, ist dann vollkommen egal.
Hingegen lädt „KAI“ dank seines Schreibstils dazu ein, wirklich mit allen Sinnen in dem Roman zu versinken — wenn man denn als Leser dazu gewillt ist.
Wer sich für den Roman wirklich Zeit nimmt, in die Ruhe geht und beim Lesen redlich darum bemüht ist, sich das Gelesene plastisch und mit allen Sinnen vorzustellen, der wird mit einem Leseerlebnis belohnt, wie es nur selten in Romanen dargeboten wird.
Streckenweise fühlt es sich an, als würde die Realität, in der wir leben, mit einem cineastischen Christopher-Nolan-Filter überzogen werden. Die Erzählstruktur, die Dramaturgie und die Dialoge — sie alle haben etwas herrlich „Nolaneskes“.
So sind auch die Dialoge lobend hervorzuheben. Die sind derart lebendig gehalten, dass man sich die Menschen wirklich vorstellen kann beim Sprechen der ihnen in den Mund gelegten Dialogen. Unger verfeinert die Dialoge mit Akzenten, Mimik und Gestiken. Das Gesagte wirkt an keiner Stelle hölzern, sondern immer authentisch. Auch die Kunst, Erklär-Dialoge zu schreiben, beherrscht er. Das ist meist eine Schwäche von ideologiekritischen Romanen: Eine weise Figur, die die Ideologie durchblickt hat, beginnt, den Unwissenden — meist dem Protagonisten — zu erklären, wie die das jeweilige (Herrschafts-)System funktioniert. Manche Autoren driften hierbei durch seitenlange, ununterbrochene Monologe ins Essayistische ab, sodass man als Leser irgendwann vergisst, dass man hier eigentlich einen Roman liest.
Unger verbannt die lauschenden Romanfiguren jedoch nicht in die passive Rolle eines apathischen Zuhörers, sondern lässt die Figuren etwa durch kritische Nachfragen oder skeptisches Einhaken weiter an der Handlung teilhaben. Generell sind die Romanfiguren mehr als nur ein Mittel zum Zweck der Geschichtserzählung. Darauf kommen wir im nächsten Punkt zu sprechen:
Die beseelten Romanfiguren
Diese Romanfiguren leben! Ihnen ist vom Autor Tiefe und Seele eingeschrieben. Alles andere wäre auch ironisch in einem Roman, der die menschliche Entseelung durch die KI verurteilt.
Raymond Unger arbeitete, wie gesagt, selbst lange Jahre als Therapeut und ist bildender Künstler. Er betrachtet das Kunstschaffen in erster Linie als einen Weg der Individuation nach C. G. Jung, um auf der persönlichen Heldenreise in das eigene Innerste vorzudringen und dort die eigenen Schatten zu bezwingen. Siehe hierzu „Die Heldenreise des Künstlers / Bürgers“ (2013/23). Insofern versteht er es ausgezeichnet, den Romanfiguren nicht nur Tiefe zu verleihen, sondern sie fernab stereotyper Klischees auch in ihrer Zerrissenheit zu zeigen.
Jede Romanfigur hat eine — traumatische — Hintergrundgeschichte, individuelle Psychodynamiken und/oder uneinsehbare Schattenanteile. Es gibt in dem gesamten Figuren-Ensemble nicht die Opposition zwischen guten und bösen Menschen. Das wäre viel zu plump. Das Spannungsfeld zieht sich über die Koordinate zwischen reifen und unreifen Menschen. Anfällig für Böses sind dabei alle. Aber umgekehrt gilt eben auch, dass jene Menschen, die man zuerst unumwunden dem Bösen zurechnen würde, durchaus in der Lage sein können, die Stimme ihres — schlechten — Gewissens zu erlauschen, und sich, wenn sie Mut dazu fassen, am Ende sogar in den Dienst des Menschlichen stellen können. Dazu gleich mehr.
Was den Romanfiguren zusätzliche Tiefe verleiht, sind die teils unübersehbaren Pendants in der Realität, die Unger als Vorbild für die Charakterzeichnung dienten. Zwar heißt es in einem Disclaimer auf den ersten Buchseiten: „Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig.“ Das dürfte allerdings ein reines Feigenblatt sein, um sich juristisch abzusichern. Aber das ist am Ende auch völlig legitim. Denn es ist geradezu amüsant, beim Lesen zu rätseln, welche realen Menschen — auch aus der „kritischen Szene“ — wohl das Vorbild für diese oder jene Romanfigur gewesen sein könnten.
Manchmal ist es dann allerdings so überoffensichtlich, dass sich jedes Rumrätseln erübrigt. Unter den Hauptfiguren gibt es etwa den Griechen Yanis Petridis, seines Zeichens Epidemiologe und dank des „Impf“-Booms steinreicher Besitzer des Mainzer Pharmaunternehmens ImmuTec. Hm? Wer könnte das wohl sein?
Gerade weil die Ähnlichkeit zwischen Yanis Petridis und Uğur Şahin so frappierend ist, funktioniert die Rolle so gut, die Unger diesem Charakter zuschreibt. Nachdem Petridis erkennt, dass ihn der Philanthrop Bob Thor — damit ist natürlich nicht Bill Gates gemeint, Zwinker-Smiley — für seine unmoralischen Zwecke vor den Karren gespannt hat, macht er eine Kehrtwende. Fortan bemüht er sich mithilfe seines Reichtums aufopferungsvoll darum, nicht nur den von ihm verursachten Schaden zu begrenzen, sondern den Kampf gegen die übermächtige KAI zu unterstützen. Das führt dazu, dass man im Laufe des Romans für Şahin — Pardon, für Yanis Petridis — Sympathien entwickelt.
Das ist eine der verdienstvollen Stärken des Romans. Er führt dem Leser vor Augen, dass die Menschheit sich nicht schwarz-weiß in Gut und Böse aufteilen lässt, sondern dass die Potenzialität für beides in allen Menschen angelegt ist.
Die jeweilige Hinwendung zum einen oder anderen Pol ist eine Frage des Charakters und der Ausgeprägtheit des freien Willens, der von Transhumanisten in Abrede gestellt wird. Unger baut hier mit Buchstaben Brücken über die gesellschaftlichen Gräben. Eine der Romanfiguren lässt er sagen:
„Sei bitte nicht zu streng (…). KAI benutzt Personen, die bei entscheidenden Lebensfragen ihrem Schmerz und ihrer Wahrhaftigkeit ausgewichen sind und es stattdessen vorziehen, sich selbst zu betrügen. Trotzdem dürfen wir diese Menschen niemals verachten, denn solange sie leben, können sie auch umkehren. Niemand kann den Egotod und das nachfolgende Erwachen eines Menschen vorhersagen. Ob und wann jemand sein Damaskus-Erlebnis haben wird, weiß nur Gott allein. Nehmen wir beispielsweise Yanis (Petridis). Auch er stand noch vor wenigen Monaten auf der anderen Seite und hat viel Schaden angerichtet. Jeden Gedanken an seine Schuld und Verantwortung hat er projiziert und abgewehrt. Trotzdem war er an einem gewissen Punkt mutig genug, sich (…) aufklären zu lassen (…).“ (Seite 325).
In Bezug auf die Romanfiguren ist auf der Formebene des Buches noch lobend zu erwähnen, dass es ganz hinten ein „Who is Who“-Verzeichnis gibt, wenn man mal mit den Namen durcheinandergerät. Das kann bei zwölf Hauptfiguren und zahlreichen Nebenfiguren schnell passieren, auch wenn sie noch so gut gezeichnet sind.
Nachwirkungen
Bei Lesern, die diesen Roman bewusst und in einem kurzen Zeitraum durchlesen, kann er potenziell nachhaltige Veränderungen in vielerlei Hinsicht bewirken. Zum einen auf der Beziehungsebene zur KI. Wer der KI schon immer mit Argwohn begegnete, wird sich durch diesen Roman umso mehr in seinem Unbehagen bestätigt fühlen. Wer allerdings der KI aufgeschlossen war, vielleicht sogar zu denen gehört, die gerne damit experimentieren und sich über die vielfältigen, neuen Möglichkeiten freut — der bekommt durch den Roman eine Spaßbremse reingehauen, die sich gewaschen hat.
Bei mir persönlich hat die Lektüre derart gewirkt, dass meine anfänglichen Berührungsängste mit der KI zurückgekehrt sind. Nachdem ich auf über vierhundert relativ realistischen Romanseiten gelesen habe, welch „teuflisches“ Potenzial in der KI stecken könnte, bin ich nun wieder gehemmter als vor der Lektüre. Bevor ich ChatGPT etwas frage oder ein Bild prompte, überdenke ich nun zuerst, ob es dazu nicht eine Alternative geben könnte. Ebenfalls sehe ich jetzt bei „Menschen“ auf KI-generierten Bildern noch genauer hin, als ich es zuvor eh schon getan habe. Mein Augenmerk gilt dabei insbesondere den Händen: Wenn sich dort mehr oder weniger als fünf Finger pro Hand befinden, kommt der Schauer aus der Lektüre zurück. Dort spielt dieses kleine, aber nicht unbedeutende Detail eine verstörende Rolle.
Auch in anderer Hinsicht hallt der Roman nach. Vorangestellt sei, dass es durchaus hilfreich sein kann, hat man zuvor „Die Heldenreise des Bürgers“ gelesen. Die elf Etappen der Heldenreise nach Mythenforscher Joseph Campbell, die in dem Buch theoretisch skizziert wurden, kommen in dem Roman zur praktischen Anwendung und werden dadurch greifbar.
„KAI“ ist eine Ermunterung, sich seinen eigenen Schattenthemen zu stellen, den Weg der Individuation zu gehen und sich von den wie auch immer gearteten Dunkelkräften der Welt, wie man sie auch nennen möchte, zu emanzipieren.
Als ich vor zwei Jahren die „Die Heldenreise des Bürgers“ begeistert rezensierte, hatte ich zum Ende hin jedoch kritische Anmerkungen und Fragen:
„Ist der zur Heldenreise aufbrechende Bürger nicht darauf angewiesen, dass die große Mehrheit sich eben nicht zum Helden entwickelt, der Reise fernbleibt? Kann es eine Gesellschaft geben, einen kollektiven Heroismus, bei dem alle oder fast alle Menschen Helden sind? Doch würden alle sich nun selbst verwirklichen und Kunst betreiben — wer verrichtete dann noch die für die gesellschaftliche Aufrechterhaltung notwendige, entfremdete (Drecks-)Arbeit? (…) (W)as, wenn die seelenlose KI von beseelten Helden so gebändigt wird, dass sie nicht länger die Eintrittspforte in eine Welt der Entmündigung darstellt, sondern den Schlüssel zur Befreiung der Menschheit von dem Joch der entfremdeten Arbeit, sodass es einem jeden Einzelnen möglich wäre, statt körperlich, geistig und seelisch im Metaverse zu versauern, sich aufzumachen? Aufzumachen auf den Weg der persönlichen und sich letztlich auf das Ganze auswirkenden Heldenreise?“
Auf diese kritische Fragen kommen zum Ende des Romans doch tatsächlich Antworten. Und die sind … nennen wir es mal … „spektakulär“.
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