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Die gescheiterte Republik

Die gescheiterte Republik

Die Coronakrise ist eine Phase des Totalversagens von Medien, Demokratie, Politik und unserem Verständnis von Wissenschaft.

Einige Tage vor der letzten Ministerpräsidentenkonferenz diskutierten die Medien schon mal den großen Testangriff durch. Die Bundesregierung, so hieß es, wolle jedem Bundesbürger zwei Schnelltests die Woche einräumen. Diese seien kostenlos und werden von medizinischem Fachpersonal durchgeführt. Zwei wöchentliche Tests für mehr als 80 Millionen Bürger: Im schlimmsten Falle ergibt das 160 Millionen Tests pro Woche. Ein Test benötigt im Regelfall 15 Minuten: Ergibt also 2,4 Milliarden Testminuten. Das wiederum sind umgerechnet fast 4.600 Jahre, in denen getestet würde. Und das wöchentlich!

Durchgerechnet hat das freilich niemand. Dabei ist das eine Milchmädchenrechnung, die schon andeutet: Hier galoppiert der Wahnsinn. Dann wurde jedoch die wöchentliche Taktung halbiert: Ein Test pro Woche darf es sein. Also nur knapp 2.300 Jahre in der Woche. Um den Realitätsbezug war es ja schon lange schlecht bestellt. Aber Woche für Woche werden die Ansagen und Pläne hanebüchener. Dieser durchschlagende Irrsinn ist Ausdruck eines vollumfänglichen Versagens. Dies war schon vor der Pandemie programmiert. Jetzt aber schlägt es voll durch.

Ein Versagensbericht

Walter van Rossum hat vor einigen Wochen einen Versagensbericht vorgelegt. „Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen“ nannte er ihn. Vermutlich verkauft sich so ein griffiger Titel besser, als einfach nur „Versagensbericht“ drüberzuschreiben. Doch genau das ist dieses Buch: Es skizziert umsichtig und beredt, wie in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Raumes Strukturen, Pläne und Selbstverständlichkeiten versagten und sich nüchterner Verstand verabschiedete.

Die letzten zwölf Monate lassen sich nicht ohne einen Hinweis auf ein akutes Medienversagen thematisieren. Die Publikative hat versagt, sie hat als Korrektiv abgewirtschaftet und kein pluralistisches Bild der Abläufe und Erkenntnisse vermittelt.

Zuletzt hat ein Journalist in die Süddeutsche Zeitung sogar gefordert, dass Boris Reitschuster, einer der letzten kritisch hinterfragenden Journalisten, aus der Bundespressekonferenz entfernt werden sollte. Wahrscheinlich entspricht er nicht der Vorstellung vom Tunnelblick, auf den sich die Gilde verständigt hat.

Passend dazu hat die Demokratie versagt, das Parlament hat an die Ministerpräsidenten übergeben und so einen Corona-Rat legitimiert, der verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehen ist. Die Politik hält dabei still, sie guckt zu, wie das System endgültig versagt. Die Versagerinnen und Versager von der Presse haben wenig Elan darüber zu informieren, sie organisieren ihr eigenes Fiasko und helfen „der Wissenschaft“ dabei, „die Wahrheit“ zu verbreiten.

Was indes „die Wissenschaft“ sein soll, fehlt in dieser Vermittlung. Christian Drosten? Lothar Wieler? Die Wissenschaft ist ja ein großes Feld, Teilbereiche davon sind die Medizin und die Virologie. Diese Fächer sind aktuell gemeint, wenn von „der Wissenschaft“ die Rede ist. Zu der gehören aber auch Soziologen, Psychologen oder Sportmediziner — um nur einige zu nennen. Die betrachten Lockdown und Kontaktbeschränkungen allerdings ganz anders, viel differenzierter und vielschichtiger. Gehören die jetzt nicht mehr zu jener Wissenschaft, die uns die Weisheit mit kleinen Löffeln serviert?

Die vorpandemische Fiaskokratie, die jetzt durchbricht

Wenn auch die Wissenschaft als solche nicht scheitert, so doch die allgemeine Vorstellung davon, wie Wissenschaft funktioniert. Plötzlich geht es nicht darum, dass Menschen verschiedener Interpretationen des aktuellen Geschehens miteinander ringen:

Man denkt sich Wissenschaft nun hierarchisch, einer „von oben erwählten“ Wahrheitsdelegation darf niemand mit konträren Betrachtungen in die Quere kommen.

Die Wissenschaftsfunktionäre der Stunde: Auch sie haben sich — um es mal wissenschaftlich auszudrücken — in dieser unwissenschaftlichen Interpretation von Wissenschaft als Blindgänger erwiesen.

Neulich gab es einen Trend bei Twitter: Staatsversagen. Nach der Ministerpräsidentenkonferenz und der komplizierten Öffnungskonzeption mehrte sich das Gezwitscher darum, dass dieser Staat versagt hat. Das ist euphemistisch. Er hat es schon lange. Bereits in den letzten Monaten, als er lebensfremde Vorstellungen nährte und so tat, als könne man Infektionsgeschehen einfach durchverwalten und so beherrschbar machen. Und vor allem tat er es schon etliche Jahre, bevor das Virus unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Politik hat sich schon über Jahre zum Handlanger wirtschaftlicher Vorgaben degradiert. Und die Medien lassen schon seit geraumer Zeit ihren kritischen Biss vermissen. In einem Strategiepapier der US-amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC von 2007 steht, dass dem Vertrauensverhältnis zwischen Medien und Rezipienten im Pandemiefall eine große Rolle zukomme — aber das Grundvertrauen in die Medien war schon seit Langem, schon weit vor Corona erodiert.

Die Fiaskokratie begleitet uns also schon lange. Aber ihr vollumfängliches Versagen schlug erst in den letzten Monaten so richtig durch. Es zeigte sich, dass sich Politik, Medien und damit die Demokratie in eine ideologische Realitätsferne verabschiedet haben, in der alle so tun, als hätten sie die Zügel noch in der Hand und seien Master of the Universe. Diese Verblendung war auch schon vorpandemisch bekannt. Aber nun, mit der Drastik der letzten Monate ist dieser Niedergang erst so richtig zu spüren.

Das Leben geht weiter im failed state

Es war uns schon immer bewusst, dass in diesem Land etwas den Bach runtergeht. Ganz egal, wohin man schaute: Es wurde auf Verschleiß gefahren, dem Verfall anheimgestellt und neuer Schwung unterlassen. Ganze Stadtteile wurden als verloren betrachtet, Infrastruktur verwilderte, innere Sicherheit wurde zum Luxus.

Wären die Machenschaften krimineller Clans ebenso hartnäckig verfolgt worden wie unmaskierte Kinder am Rodelberg: Mancher Bürger hätte sich sicherer gefühlt.

Walter van Rossums Buch ist insofern die Fortsetzungsgeschichte einer Republik, die sich für das breit angelegte Scheitern ihrer selbst entschieden hat — und die auch nicht gewillt ist, aus diesem Modus der Agonie auszusteigen. Wir fielen ja nicht aus einem Idyll in die Pandemie: Wir gerieten aus dem Mangel, der selbstgerechten Ignoranz und einer Unterlassungsmentalität in diese Krise.

Daher konnte nur das große Scheitern folgen, wir wurden zwangsläufig mit der Tatsache konfrontiert, dass wir in einem failed state leben, einer Versagensgesellschaft, die in harten Zeiten nicht mit kühlem Kopf und sachlicher Kompetenz rechnen darf, sondern mit der Auflösung der Ordnung, mit der Prekarisierung von Rechtsnormen und der Etablierung eines Moralismus‘, der jeden, der dieses Scheitern zur Diskussion stellt, als gefährlichen Gegner brandmarkt.

Ein Zurück in eine alte Normalität wird es auch nach der Pandemie nicht geben. Die Corona-Jahre bleiben keine Zäsur, sondern werden unsere Art zu scheitern weiter antreiben. Wir haben uns so sehr an das Scheitern gewöhnt, an die Unfähigkeit der politischen Akteure: Diese Präambel kriegen wir aus den bundesrepublikanischen Denkprozessen nicht einfach so weg.

Nein, wir werden weiter vor uns hin wursteln, weiter scheitern — schlechter scheitern. Denn wir sind ein gefallener Staat, eine bananenlose Bananenrepublik, ein Operettenstaat: Das ist die eigentliche Erkenntnis aus unserer Pandemie mit Professor Drosten.


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Peter Fahrs Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten faszinieren durch ihre tiefgründige Poesie. Exklusivauszug aus „Ich lebe lichterloh“.