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Die Bekenntnisdemokratie

Die Bekenntnisdemokratie

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine verhält sich unser Wertewesten irrational, dünnhäutig und eindimensional.

Es gab eine Zeit, da galt es als richtig, wenn man sich über Ursachen und Auswirkungen Gedanken machte. Kausalitäten zu berücksichtigen, wurde als wichtiger Baustein begriffen, etwas verstehen zu wollen. „Wie kommt‘s?“, war eine zielführende Frage, weil sie nach dem Woher forschte, um das Warum und mit etwas Weitsicht auch das Wohin zu beleuchten. Das, liebe Leserin und lieber Leser, sind aber Atavismen aus einer anderen Zeit und Welt. Diese Zeit ist jedoch vorbei. Jene Welt gibt es nicht mehr. Das beweist sich mittlerweile täglich.

Wir können ganz aktuell bleiben, nämlich beim Krieg in der Ukraine. Wer da nachfragt, wer da versucht, die vorangegangenen Jahre zu analysieren, wer bei seiner Analyse auch nur streift, dass der Westen, die EU, die Nato, wohl auch das Weltwirtschaftsforum, jedenfalls aber die Young Global Leaders, mitschuldig am heutigen Dilemma sind, kriegt zu hören, dass „solcherlei Nachforschungen völlig deplatziert“ seien. Was zählt, das sei das Jetzt, das sei der Umstand, dass Putin einen Krieg angezettelt habe. Selbst Gregor Gysi, Mitglied einer sich als links gebenden Partei, hält ein derart analytisches Element für falsch, ja sogar für unentschuldbar.

„Unsäglicher russischer Troll“ oder Die Wiederentdeckung des Iwan

Das sagt viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus, wenn Parteigänger aus dem vermeintlich progressiven Lager solcherlei Töne anschlagen. Wenn man sowas aus dem Munde eines konservativen Abgeordneten hört, vielleicht sogar mit einer gewissen Nähe zu gewissen Rüstungsunternehmen, könnte man das ja noch als normal erachten. Aber jemand, der einer Partei angehört, die sich ja den Werten der Aufklärung verpflichtet wähnt: Das ist schon besorgniserregend.

Weil wir schon bei Besorgniserregendem sind, ich hole mal ein bisschen aus: Neben meiner regelmäßigen Kolumne hier beim Rubikon, führe ich seit einigen Jahren mit einem Kollegen zusammen den Weblog neulandrebellen. Kürzlich haben wir Zuwachs bekommen, einen deutschen Russland-Kenner, der regelmäßig dort ist, die Sprache spricht und schon vor dem Krieg in der Ukraine über Land und Leute berichtete. Kaum wurde in Kiew geschossen, erhielten wir Rückmeldung, dass wir den „unsäglichen russischen Troll“ wegschicken sollen. Unser Kollege hatte sich noch nicht mal zu den Ereignissen geäußert.

Parallel dazu mussten wir lesen, dass ein Lokal in Bietigheim Gäste mit russischem Pass nicht mehr bedienen will. Ein Edeka-Markt indes erklärte feierlich, dass Wladimir Putin nicht mehr bei ihm einkaufen dürfe. Ein Bäcker nimmt den russischen Zupfkuchen aus dem Sortiment und nennt ihn, kreativ wie er ist, nur noch Zupfkuchen. Wodka verschwindet aus den Regalen deutscher Supermärkte. Ein russischer Dirigent sollte Abbitte leisten, tat es nicht und wurde gekündigt.

Russische Sprachkurse wurden auf Zoom verlegt aus Angst vor Übergriffen. Und etwaige grüne Aufmerksamkeitstrolle in den Netzwerken riefen dazu auf, entweder gar nicht mehr zu heizen, um so russisches Gas abzulehnen — oder aber guten Gewissens auch mal mehr für Gas aus anderen Ländern zu bezahlen. Das sind natürlich Affekte aus unserer wohlstandsverwahrlosten Komfortblase, denn mancher Alleinerziehende oder Rentner kann sich so ein gutes, aber halt teureres Gewissen, nun wahrlich nicht leisten.

Es ist — wieder mal —, als sei innerhalb kürzester Zeit eine Art von kollektivem Wahnsinn ausgebrochen, in dem es überhaupt keinen Raum mehr für eine weitsichtige, allumfassende und mehrdimensionale Diskussion geben kann.

Der eindimensionale Mensch — nach Herbert Marcuse — war niemals so wahrhaftig, wie er es heute ist. All diese Verhetzungen oder Dümmlichkeiten, die das Thema flankieren, werden in der Öffentlichkeit mit einer Toleranz aufgenommen, die sich jedes Sujet, das sich außerhalb des vorgezeichneten Meinungskorridors befindet, nur wünschen kann. Dort gilt das Gegenteil, egal wie sachlich und nüchtern man es auch vortragen mag: Man wird niedergeschrieen, als Kriegstreiber tituliert und muss den Jubel derer ertragen, die nun Großvaters Iwan wiederentdeckt haben.

Diktatorische Dünnhäutigkeit: Nichts mehr aushalten können

Letztlich ist das, was sich jetzt in dieser Debattenkultur — das Wort ist natürlich unpassend, da hier weder eine Debatte zugelassen, noch eine Art von Kulturleistung erbracht wird — zur Ukraine und zu Russland etabliert hat, schon aus mannigfaltigen vorherigen Debatten bekannt, — eben nicht zuletzt beim Themenkomplex zu Corona. Synchron zur Eindimensionalität in Sachen Russland, läuft jene pandemisch bedingte Einseitigkeit ja immer noch mit. Wie man erst kürzlich erfuhr, als die BKK ProVita fristlos ihren Vorstandsvorsitzenden entließ, weil dieser vorab etwas Kritisches zu den Impfnebenwirkungen formuliert hatte.

Die Dünnhäutigkeit in Bezug auf andere Ansichten, Meinungen und Vorstellungen, auf andere Weltanschauungen, Betrachtungsweisen und Wertigkeiten, ist freilich auch schon etwas älter als die Pandemie. Wenn ich es recht bedenke, habe ich schon vor 2020 nicht selten die Dünnhäutigkeit innerhalb des demokratischen Diskurses angemahnt. Kurz bevor das Virus die Kontrolle über die Köpfe übernahm, monierte ich noch, dass es Usus in unserer Zeit sei, ständig von Unerträglichem zu sprechen. So wurden und werden wahlweise die AfD oder Kritikübende an Fridays For Future von Betrachtern als unerträglich bezeichnet — Trump galt sowieso als unerträglich und manchmal handelte sich auch nur irgendein anstößiger Werbeclip dieses Attribut ein.

Diese Haltung, allerlei als unerträglich zu empfinden, nahm ich seinerzeit schon als ein im Kern undemokratisches Gebaren wahr. Denn wenn man den demokratischen Debattenraum als einen Markt verschiedener Auffassungen und Vorstellungen begreift, auf dem man um Deutungshoheit oder etwa Akzeptanz von Vorschlägen ringt, so heißt die oberste demokratische Prämisse doch:

Man muss Andersdenkende aushalten, ja ertragen können. Das nicht zu können: Das erwartet man eigentlich von Despoten oder Diktatoren.

Die kanzeln „das Andere“ ab, wollen es aus dem Blickfeld schaffen, es wegsperren. Menschen, die sich als Demokraten verstehen, müssen das Ertragen aushalten können.

Wir haben in den letzten Jahren die Demokratie in eine regelrechte Verweichlichung überführt. Der woke Lifestyle und dessen Drang, ständig alles in einen Safe Space zu betten, in dem Konfrontation und Diskussionsfreude zum Zwecke der Harmonisierung als lästige Entitäten abgetan werden, haben das Konzept vom demokratischen Diskurs völlig fehlgeleitet. Den begreift man mehr und mehr als eine Form der verordneten Einvernehmlichkeit und des harmonischen Miteinanders.

Dass Demokratie strukturierte Streitkultur ist, ja ihrem Wesen nach geradezu sein muss: Dafür scheinen sich die, die sich heute am lautesten und aggressivsten als Lordsiegelbewahrer der Demokratie feiern lassen, allen voran die Bolschewoken, nicht mehr erwärmen zu können.

Ein Wertewesten ohne Werte

Dass das analytische Element in der Betrachtungsweise eines Sujets im Debattenraum derart geächtet wird, versetzt uns in eine Zeit vor der Aufklärung. Wenn man es genau nimmt, ist jede Form der Verhaltensforschung obsolet, wenn man Umstände nicht mehr von der Ursachenschau her aufzäumen soll, sondern nur noch auf die Wirkung reduziert. Dann müssten wir vor Gericht nicht mehr nach Motiven fragen, sondern können jeden gleichermaßen aburteilen, egal ob er aus Hunger heraus stahl oder aus Habgier. Denn wenn am Ende nur die Wirkung zählt — ganz so wie Gregor Gysi das in seinem Statement vorschwebte —, dann ist die ursächliche Einordung tatsächlich überflüssig.

Diese zeitgenössische Eindimensionalität, die die Öffentlichkeit prägt, rüttelt ganz massiv an den Vorstellungen, die wir als aufgeklärte Individuen von einem Gemeinwesen haben. Wenn uns nicht mehr interessieren soll, wie es zu einem Vorfall gekommen ist, wenn man die Ergründung sogar moralisch verurteilt oder mit der Entziehung existenzieller Grundlagen ahndet, begibt man sich in einen Totalitarismus, der die Gegenwart ohne eine Entstehungsgeschichte, ohne Vergangenheit präsentiert. Bis zu einem ministeriellen Sachbearbeiter namens Winston Smith ist es da echt nicht mehr weit.

Schon in der Pandemie haben wir erlebt, dass irgendwann nicht mehr nach dem eigentlichen Ziel der Maßnahmen gefragt wurde. Dass sie überhaupt eines haben könnten, daran erinnern sich nur jene, die nicht von der digitalen Demenz befallen sind. Da war was mit Überlastung des Gesundheitswesens, oder nicht? Vorher hatten wir diese Vergesslichkeit auch schon, wenn auch im kleineren Kontext. Wie oft haben die Neoliberalen weitere Reformen zur vermeintlichen Verbesserung des Lebensbedingungen gefordert und auch bekommen, obwohl vorherige neoliberale Reformen erst dazu führten, dass immer mehr Menschen in Bedrängnis gerieten? Es war wie bei der Impfung heute. Je mehr sie versagte, je überflüssiger sie wurde, desto stärker zog man die Impfkampagne an. Nach dem Motto: Viel hilft viel.

Wir erleben diese gegenaufklärerische Entwicklung, die die Irrationalität zur neuen Rationalität kürt, in einem Weltklima, in dem wir uns immer lauter, immer aggressiver als das beste Imperium aller Zeiten wähnen. Der Wertewesten will sein Modell in die Welt tragen, verliert aber in seinen eigenen Gefilden rapide an der Wirkkraft, die er vielleicht einst besessen haben mag. Heute organisiert er eine scheinheilige Fassadenfreiheit — und in der wird noch nicht mal mehr offen diskutiert und debattiert.

Der Wertewesten sinkt zu einer Bekenntnisdemokratie herab, wo man vorgefertigte Worthülsen wiederholen muss, so man toleriert werden will. Wer keine Bekenntnisse ablegt, sondern nach Ursachen fragt, wird zum Fremdkörper — und den will man, wie den Russen jetzt und den Ungeimpften neulich, am liebsten aus der Gemeinschaft verbannen.


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