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Der Tod steht ihr gut

Der Tod steht ihr gut

Eine Hamburger Bestatterin spricht von ihrer Arbeit und stellt die Verbindung zu einem der wichtigsten Lebensereignisse wieder her.

Es gibt wohl kaum jemanden, der in den vergangenen Jahren keinen Toten zu beklagen hatte. Während der Coronazeit starben viele alte und kranke Menschen alleine in Spezialeinrichtungen, isoliert von ihren Angehörigen. Heute werden immer mehr junge Menschen aus dem Leben gerissen, plötzlich, unerwartet und unvorbereitet. Dennoch beschäftigen sich die Menschen in den westlichen Industrienationen möglichst nicht mit dem Thema Tod.

Wie wir auch zu ihm stehen: Der Tod ist die größte Veränderung in unserem Leben und eine schwierige Herausforderung für Menschen, die schon bei der Vorstellung Probleme bekommen, eine liebgewonnene Gewohnheit zu verändern oder sich von einem bestimmten Objekt zu trennen. In der Vorstellung vieler ist danach nichts mehr. Wir sterben — und dann ist alles vorbei. Ein Leben nach dem Tod, so das rationale Denken, gibt es nur für Menschen, die es nicht wagen, der Realität ins Auge zu sehen.

Leben nach dem Tod — es klingt, als hätte der Tod mit dem Leben nichts zu tun. Entsprechend wird alles darangesetzt, den Moment so lange wie möglich hinauszuzögern, in dem wir alles lassen müssen. Unser gesamter Fortschritt ist darauf ausgerichtet, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und möglichst lange am Leben zu bleiben. Doch so sehr wir unsere Körper auch künstlich aufrüsten lassen: Einmal wird es vorbei sein. Es wird der Moment kommen, in dem wir unseren letzten Atemzug tun.

Ich habe kurz hintereinander meinen Vater, meinen Mann und nahe Freunde verloren. Vor zwölf Jahren hatte ich Krebs. Der Tod ist mir vertraut. So beuge ich mich im Wohnzimmer von Franziska Hilmer interessiert über die Fotos von toten Menschen, die zu zeigen sie mir angeboten hat. Sie sehen schön aus. An den Bildern ist nichts Schreckliches oder Abstoßendes. Viele haben ein Lächeln auf den Lippen. In hellen Farben liegen sie da, von Blumen umringt. Man sieht es ihnen an, dass sie liebevoll gebettet worden sind.

Franziska Hilmer strahlt eine große Gelassenheit aus, als sie von ihrer Arbeit erzählt. Sie spricht liebevoll von „ihren“ Toten, die sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Seit vier Jahren führt sie in Hamburg das Bestattungsunternehmen „Seitenwechsel — achtsam bestatten“ (1). Der Name ist mit Bedacht gewählt. Für sie ist der Tod die andere Seite des Lebens. Wie die Geburt gehört er dazu. In ihrer Jugend hat sie in Brasilien mit einer Hebamme viele Geburten miterleben dürfen. Heute begleitet sie Verstorbene und ihre Angehörigen physisch, seelisch und geistig bis über die Schwelle des Todes.

Kerstin Chavent: Liebe Franziska, du bist eine der wenigen Bestatterinnen, die „die andere Seite“ miteinbeziehen. Was geschieht, wenn sich jemand an dich wendet? Was bietest du den Menschen an?

Franziska Hilmer: An aller erster Stelle bin ich Begleiterin und versuche immer, die Menschen da abzuholen, wo sie stehen. Dazu muss ich sie zunächst wahrnehmen und schauen, was ich ihnen anbieten kann. Es ist ja ihr geliebter Mensch, der da geht, deshalb rate ich immer dazu, so viel wie möglich selbst zu machen. Was da alles möglich ist, zeige ich ihnen. Vor allem möchte ich den Menschen ein schönes und vielleicht sogar leichtes Erlebnis mit dem Tod vermitteln. Schwer ist vor allem, den geliebten Menschen loszulassen, was noch nicht den Schrecken legitimiert, den der Tod für viele mit sich bringt. Wenn ein Mensch beispielsweise nach Japan umzieht und ich traurig bin, weil er umzieht, habe ich deswegen ja auch keine Angst vor Japan oder finde das Land schrecklich.

So versuche ich, deutlich zu machen, dass der gestorbene Mensch nicht einfach weg ist, sondern die Seite wechselt und einen Raum betritt, der mit unseren irdischen Sinnen nicht so leicht wahrnehmbar ist, aber den wir womöglich schon kennen.

Wir können ihn noch ein Stück begleiten auf seinem Weg, indem wir ihn aufbahren und bestenfalls drei Tage Totenwache halten oder wenigstens an seiner Bahre liebevoll mit etwas Zeit Abschied nehmen und uns dabei vertraut machen mit dem Neuen. Menschen wollen oft intuitiv das Fenster öffnen, wenn jemand gegangen ist. Das ist ganz richtig, aber Seele und Geist können eben auch durch Mauern gehen, die irdisch-physikalischen Gesetze gelten nun nicht mehr, und wir tun gut daran, uns der Stille, die einen eben verstorbenen Menschen umgibt, zu nähern und wahrzunehmen, was da geschieht. Dass der Mensch nämlich auszieht aus seinem Körper, wie wenn man aus einer Wohnung auszieht, in der man Jahrzehnte gelebt hat.

Der Umzugsprozess ist dann langwierig, und erst wenn wirklich alles, alles leer ist, wenn meine Stimme in den leeren Wänden hallt, dann erlebe ich eine Entfremdung und bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wirklich ich das war, die hier gelebt hat, weil nichts, aber auch gar nichts mehr an mich erinnert. So ist der Leib erst nach mehreren Tagen nach dem Tod wirklich eine Leiche und vollkommen leer und verlassen, wie der Kokon einer Raupe, deren Schmetterling schon geschlüpft ist.

Zuvor kann man in den ersten drei Tagen den Menschen noch wahrnehmen. Allein dieses Erlebnis kann ein schönes sein, zumal wir den Verstorbenen gemeinsam schön machen und schon dieser Vorgang den Zugehörigen die Scheu vor dem Tod nimmt. Seinen geliebten Menschen selber schön zu machen braucht für manche Mut. Viele wollen ihren Verstorbenen lieber so in Erinnerung behalten, wie er war. Damit nehmen sie sich möglicherweise eine Erfahrung, die neue Perspektiven eröffnet und eben mehr in Richtung geistiger Welt weist. Abgesehen davon ist die Totenwache ein außerordentlich wichtiger Teil der Trauerverarbeitung. Wir durchlaufen viele Gefühle in den Stunden, in denen wir bei unseren Verstorbenen sitzen, es wird geweint, gelacht, geredet und bestenfalls auch gesungen.

Der gesamte Prozess bis zur Bestattung ist dann ein besonderer, und ich ermuntere meine Angehörigen, möglichst alles selbst zu machen und zu planen, gebe Anregungen, und nachher wird die Feier oft besonders innig und lebendig. Weltliche Trauerrednerinnen und -redner haben derzeit Hochkonjunktur, was zum einen am Rückgang der Kirchenzugehörigkeit liegt und zum anderen am Interesse der Menschen, die selber mit dem Tod in Berührung kommen. Sie fühlen sich oft inspiriert, Redner oder gar Bestatter zu werden.

Ich selbst bin beides, ebenfalls motiviert durch den Tod meiner Mutter. Allerdings bin ich nach vielen Jahren des Redenhaltens inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass Familie oder Freunde dafür wesentlich geeigneter sind, sie kennen den Verstorbenen und der Verstorbene kennt sie. Es kann von großer Wichtigkeit sein für eine Tochter, den Lebensweg des Vaters zu skizzieren, der rote Lebensfaden spinnt sich direkter mit vertrauter Nähe, und man muss keine Angst vor Tränen haben, sie sind reine Liebe und die fließt so am besten zwischen den Trauergästen.

Viele Menschen sterben im Krankenhaus. Welchen Situationen begegnest du, wenn du einen Toten dort abholst?

Die gestorbenen Menschen liegen von Kopf bis Fuß in Laken eingehüllt in Kühlfächern, und die Totenstarre wird durch die quasi zu früh einsetzende Kühlung des Körpers zu etwas Unnatürlichem. Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll; jedenfalls, und das klingt jetzt merkwürdig, hauche ich dem Verstorbenen, wenn ich ihn in seinen Sarg lege, gewissermaßen erstmal wieder Leben ein. Natürlich nicht dem Körper, der ist ja tot. Aber seelisch-geistig ist der Mensch noch in der Nähe und mit seinem Körper verbunden. Indem ich ihn schön mache, ihn wasche und mit wohlduftendem Öl liebevoll behandle, ihm Kleider anziehe oder ihn in ein Leintuch wickle, erlebe ich mal stärker, mal weniger intensiv, aber doch deutlich, wie der Verstorbene beginnt zu strahlen. Man muss das selbst erleben, um es zu verstehen.

Eigentlich mache ich nicht viel, ich denke manchmal, allein der liebevolle Blick heilt. Ich habe die feste Überzeugung, dass wir geistige Wesen sind und der Tod nur ein physischer ist. Diesem Umstand kann man im Todesfall natürlich am besten zu Hause gerecht werden oder in einem Aufbahrungsraum.

Ein Krankenhaus ist heutzutage ein Wirtschaftsbetrieb, der den Menschen, wenn er tot ist und kein Geld mehr einbringt — ja, das muss ich leider so hart sagen —, schnell entsorgt.

Die Pathologie, wohin die Toten gebracht werden, liegt meistens hinten im Wirtschaftshof des Krankenhauses nah bei den Mülltonnen und wir Bestatter holen sie dann über eine Rampe ab. Interessant ist noch, dass das Krankenhauspersonal, also weder die Pflegenden noch die Pathologie, den verstorbenen Menschen nicht anfasst und es in einigen Konzernen wie zum Beispiel den Asklepioskliniken, nicht einmal mehr erlaubt ist. Das heißt, das Entfernen von Zugängen, Kathetern und EEG-Klemmen obliegt uns Bestattern.

Ich gehe davon aus, dass das in vielen Fällen nicht gemacht wird. Wenn der verstorbene Mensch sowieso von Angehörigen nicht mehr gesehen wird, geht er mitsamt dem medizinischen Instrumentarium ins Feuer oder unter die Erde. Selbst Plastikbags, in denen die Verstorbenen seit der Coronazeit verstärkt gelagert werden, finden sich vielfach unter der Erde, obwohl es verboten ist. Von einem Friedhof weiß ich, dass oft in Särgen noch die Tüten mit den für den Verstorbenen zugedachten Kleidern gefunden werden.

Ich möchte niemandem zu nahe treten und bin sicher, dass viele Kollegen im Umfeld des Todes ihre Arbeit gut machen, habe aber die Vermutung, dass der Umgang mit den Toten nicht immer ein achtsamer ist. Ich kann verstehen, dass Menschen, die tagtäglich in der Pathologie, in der Rechtsmedizin oder im Krematorium arbeiten, den Toten gegenüber gewissermaßen „abgestumpft“ sind, quasi als unbewusste Schutzmaßnahme. Es tanzen ja nicht die Toten, aber deren Seelen sind eben noch ganz lebendig, und dagegen will man sich unbewusst schützen.

Du arbeitest mit der Gründerin und Leiterin der Sterbeammenakademie Claudia Cardinal zusammen, von der bereits tausend Sterbeammen und Sterbegefährten ausgebildet wurden. Ihr habt gemeinsam einen Podcast für Sterbekultur und Sterbeheilkunde ins Leben gerufen: „Hüben und Drüben“ (2). Es geht euch darum, den Tod aus der dunklen Ecke hervorzuholen. Wie macht ihr das?

Ja, mit Claudia Cardinal zusammenzuarbeiten ist für mich ein Glück, sie hat außerordentlich viel Erfahrung auf dem Gebiet der Thanatologie, und als Dozentin und Sterbeamme ist sie sehr geübt in der Kommunikation dieser Thematik. Wir sprechen über alles, was das Thema Tod und Sterben betrifft, ein weites Feld. Es war uns ein Anliegen, nicht nur über Diesseitiges im Zusammenhang mit dem Tod zu sprechen, sondern auch über den Übergang und die andere Seite. Dem nähern wir uns oft phänomenologisch, indem wir vieles nur beschreiben und andeuten, die Schule des Lebens beleuchten, und die Hörerinnen und Hörer können sich dann bis zur nächsten Folge in die Inhalte einfühlen und selber weiterdenken.

Wir sprechen immer sonntags für fünfzehn Minuten miteinander. Was uns beide eint, ist ein geistiges Welt- und Menschenbild. Wir gehen also beide davon aus, dass es nicht nur ein Hüben, sondern auch ein Drüben gibt. Darüber wollen wir in unserem Podcast später auch noch mit Gästen ins Gespräch kommen, weil wir die Branche im Bereich Tod und Sterben überwiegend als diesseitig empfinden. Der Materialismus lässt kaum Diskurs zu, und Andersdenkende werden häufig als Esoteriker abgetan. Wenn wir mit dem Tod in Berührung kommen, kommen wir jedoch sicher mit dem Allumfassenden, dem Geistigen in Kontakt, und dieses Thema ist durch die jahrzehntelange Tabuisierung des Todes ebenfalls ein No-Go. Wir finden, das darf anders werden.

Viele Menschen fühlen sich in der Konfrontation mit Sterben und Tod hilflos und wissen nicht, wie sie sich verhalten können. Was können Angehörige tun, um einen Sterbenden zu begleiten? Worauf ist zu achten?

(lacht) Auf jeden Fall eine Sterbeamme zu Rate ziehen! Nein, ernsthaft, sich helfen lassen ist immer eine gute Option, und es gibt schon viele liebevolle Helferinnen und Helfer auf diesem Gebiet. Und nicht (ver)schweigen, sondern offen sprechen! Allerdings sind auch reine Lippenbekenntnisse problematisch. Einem Sterbenden zu sagen, du darfst jetzt gehen, und es nicht wirklich zu meinen ist schwierig. Der Sterbende durchschaut es mit Sicherheit.

Ich persönlich würde einem Sterbenden auf dem Weg, sehr vorsichtig natürlich und in Abstimmung mit dem jeweiligen Menschen, aus der Nahtodforschung berichten. Das kann helfen, einen Ausblick zu haben auf das Geschehen des Todes. Auch sind kurze Meditationen schön, wo man schon eine Wahrnehmung davon machen kann, dass ICH nicht gleich meinem KÖRPER bin. Ansonsten ist der Weg zum Tode, wie wir es von Elisabeth Kübler-Ross schon in den 1970er-Jahren gelernt haben, beschildert: das Nichtwahrhabenwollen bei der Diagnose, die Wut darüber, das Verhandeln und alles zur Verfügung stellen wollen als Gegenleistung für das Weiterleben, die Depression und schließlich das Annehmen, dass er nun kommt, der Tod, und damit der Abschied vom Leben.

Dass es sich aber nur um das Leben auf der Erde handelt, finde ich, sollte man immer wieder betonen.

Ich bin der Ansicht, es gibt keinen Tod. Es stirbt wohl der Leib, gerade jetzt können wir es in der Natur, da alles, was im Winter tot schien, wiederkommt, und im christlichen Osterereignis sehen. Die Auferstehung, das Neue, das in die Welt kommt, stehen im Mittelpunkt. Natürlich schließt sich daran auch die Frage nach Reinkarnation an, ob es eben ein Leben zwischen Tod und neuer Geburt ist. Diese Frage mag jeder für sich selbst entwickeln, ich finde, Konzepte machen keinen Sinn, wenn die Frage nicht in einem heranwächst.

Das Thema Tod gilt in unserer Gesellschaft seit Langem als Tabu. Du versuchst mit deiner Arbeit, den Tod gewissermaßen ins Leben zurückzuholen. Welchen Möglichkeiten und welchen Grenzen begegnest du dabei?

Ich bin genau deshalb Bestatterin geworden, weil ich hier Möglichkeiten sehe, Menschen einen anderen Umgang und eventuell sogar eine neue Sicht auf den Tod zu vermitteln. Spätestens am Totenbett eines geliebten Menschen stellt sich ja die Frage nach dem Geistigen, dem Allumfassenden, dem Woher und Wohin. Ich war viele Jahre freie Trauerrednerin und als Seelsorgerin in einer Seniorenresidenz tätig. In beiden Rollen habe ich vielen Trauerfeiern beigewohnt, und in mir wuchs die Erkenntnis: Das muss anders gehen!

Schwarzgekleidete, hilflos wirkende Menschen sitzen steif in Sitzreihen und blicken wie im Theater oder Frontalunterricht nach vorn, wo ein Sarg oder eine Urne aufgestellt ist. Was für ein absurdes Setting, dachte ich oft.

Der Verstorbene gehört doch in die Mitte, und die Menschen müssen sitzen oder stehen dürfen, wo sie wollen, handeln oder mindestens mitsprechen dürfen, sich vielleicht sogar körperlich bewegen, wenn die Seele bewegt werden will. Entspannte Nahbarkeit ist doch das Wichtigste beim Abschied.

Ich bin ganz weggekommen von Pathos und durchgeplanter Perfektion. Auch Totengottesdienste haben so ihre Schwierigkeiten. Oft läuft ein Trauergottesdienst durchsetzt von Bibelsprüchen ab, ohne dass die zugehörigen Menschen ein Verhältnis dazu haben. Die Kirche an Weihnachten und zum Tode zu bemühen reicht nicht mehr aus. Ich brenne für eine Durchlichtung der Sterbekultur, das heißt zum Beispiel, dass wir wieder lernen, unsere Verstorbenen selbst zu segnen. Was jahrhundertelang der Kirche vorbehalten war, sollten wir durch eigene Spiritualität ergreifen.

Zwischen dem Austritt aus der Kirche und totalitärem Materialismus liegt ein weites Feld, das beackert werden möchte. Am Totenbett unserer Lieben können wir gleich damit beginnen! Liebevolle Totenwache halten, Zeit und Raum geben, um das Feld zu erfühlen. Im Winter gehen wir ja auch nicht davon aus, dass nun alles zu Ende ist! Wir decken Stauden liebevoll zu, machen alles winterfest und erwarten den nächsten Frühling. Klar, leicht ist das alles nicht! Ein Winter kann lang und hart sein. Dunkelheit, Kälte und Entbehrung machen uns zu schaffen. Gleichzeitig birgt der Winter aber die Chance zur Verinnerlichung in sich.

Das innere Licht entzünden, Verbindung zu unseren Verstorbenen aufnehmen und wieder mal beten! Beten kommt von bitten, und wir wissen heute sogar aus Studien, dass Gebete Kraft haben. Kraft hatten sie immer, allein der Glaube ist uns abhandengekommen. Und Glaube hat ja nicht zwangsläufig mit der Institution Kirche zu tun, deren außer Kontrolle geratenes Machtgehabe unspirituell wirkt. Wenn ein Mensch über die Schwelle des Todes geht, sollten wir uns versammeln, nicht erst in steifer Feiertagsrobe in der Kapelle oder Trauerfeierhalle, sondern schon vorher, direkt am Totenbett.

Wir lernen dabei auch viel über unseren eigenen Tod, der ja nachkommt. So zu tun, als gäbe es keinen Tod, ist genauso sinnlos wie das Angsteinflössen vor dem möglichen Tod. Er gehört zu uns wie die Geburt. „Geburt und Tod sind die zwei Aspekte desselben Zustandes“ hat Mahatma Ghandi so schön gesagt. Wir kommen hinein in den Leib und gehen wieder hinaus aus dem Leib.

Und da wir beseelte geistige Wesen sind, ist stark davon auszugehen, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt. Die vielen Heiler und Hellsichtigen, ebenso wie die Nahtoderfahrenen, wissen, was gemeint ist.

Andererseits gibt es eben den ganz normalen Alltag, wo der Tod stattfindet. Krankenhaus- und Pflegeheimmitarbeiter und -mitarbeiterinnen haben oft weder Zeit noch Gelegenheit, sich mit den seelischen Aspekten des Sterbens zu befassen. In der Pathologie und insbesondere in der Rechtsmedizin herrschen ganz andere Regeln, die oft in keiner Weise mit den Verstorbenen harmonieren und schon gar nicht mit den Angehörigen. Ist die Todesursache eines Menschen ungeklärt, muss der Arzt sein Häkchen zunächst bei unnatürlichem Tod machen, was die Aufbahrung und die Totenwache völlig verunmöglicht. Früher konnte man noch religiöse Gründe für eine Aufbahrung anführen, dass mit etwas gutem Willen der Papierkram in der Rechtsmedizin aus Rücksicht auf diese Wünsche beschleunigt wurde. Heute ist das völlig unmöglich geworden.

Die Familie hat immer das Nachsehen. Ungeklärte Todesursache ist oft fehlende Information, fehlendes Vertrauen und fehlende Sorgfalt. Eine 96-Jährige, die sich im Heim aus Schwäche beim Essen verschluckt, wird zunächst versucht zu reanimieren und muss im Anschluss in die Rechtsmedizin, wo sie erst nach 5 bis 7 Tagen abholbereit ist. Eine von der Familie und ihr selbst gewünschte Aufbahrung ist dann nicht mehr möglich, die ersten drei Tage, an denen aus spiritueller Sicht eine Aufbahrung Sinn macht, sind dann vorbei, und die Verstorbene ist längst eine Leiche geworden.

Eine 63-jährige Krebspatientin ist in sehr fortgeschrittenem Stadium, das heißt abgemagert und kraftlos auf dem Sofa gestorben. Weil es Sonntag ist und ihre Onkologin nicht zu erreichen, will der Amtsarzt das Kreuzchen bei unnatürlichem Tod machen, und nur mit viel Aufwand und Mut und Überredungskunst schaffen wir es, den Amtsarzt und die Kripo davon zu überzeugen, dass der Abschied für die Familie wichtiger ist als die behördlich angeordnete Verbringung in die Rechtsmedizin. Schließlich klappt die Verabredung mit der Polizei, dass der Amtsarzt unter Aufsicht der Polizei sein Kreuzchen bei natürlichem Tod machen darf. Ohne diesen Kraftakt des Sichwidersetzens wäre die Verstorbene in der Rechtsmedizin gelandet, wie ziemlich viele andere.

Ein eben geborenes Kind stirbt noch im Kreissaal. Hier sind die Hebammen und Gynäkologen rücksichtsvoller und mitfühlender, und die Eltern dürfen sich in Ruhe verabschieden, auch kommt ein Sternenkind-Fotograf. Allerdings muss das Kind im Anschluss trotzdem in der Pathologie verbleiben, bis der Fall von der Polizei freigegeben ist. Dieser Umstand macht es mir als Bestatterin schwer, den Eltern das Kind noch einmal nach Hause zu bringen, in das fertig eingerichtete Kinderzimmer, wo es für den Trauerverarbeitungsprozess hilfreich ist, wenn die Mama das Kind wenigstens ein einziges Mal zu Hause anziehen und in das Körbchen legen darf. Die Eltern nehmen dann häufig gern das Angebot an, das Kindchen in meinem Wagen mit ins Krematorium zu bringen, die Mutter mit dem Kind im Körbchen auf dem Schoß neben mir sitzend. Auch im Falle von erwachsenen Verstorbenen biete ich immer die Möglichkeit an, im Bestattungsmercedes mitzufahren und den lieben Menschen das letzte Geleit zu geben, bevor sie in der Folge eingeäschert werden.

Ich fahre einen 30 Jahre alten Bestattungswagen mit offenen Gardinen. Die Nachbarschaft hat Gründe, warum sie den Wagen vor ihrem Fenster nicht sehen will. In der Werkshalle der Waschanlage will man den Wagen wegen der anderen Kunden lieber nicht annehmen. Im Verkehr bekomme ich schon mal Anrufe, dass die Vorhänge offen seien und doch lieber besser zugezogen würden. Aber Gott sei Dank bekommt der Wagen auch viel Zuspruch, und es gibt immer mehr Menschen, die sich freuen, dass ich dem Tod mit meinem Unternehmen offen, warm und hell begegne.


Fotos: Franziska Hilmer

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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://seitenwechsel-bestattung.de
(2) https://huebendrueben.com

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