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Perfekte Propaganda

Perfekte Propaganda

Medien und Journalisten mutieren in der Coronakrise zu Pressestellen und PR-Agenten von Regierungen und Behörden. Teil 1/3.

Die Medienmacher in Deutschland sind im Würgegriff einer Angst, die ihren Verstand abschnürt. Auch die klügsten Köpfe und ehrenwertesten Charaktere versagen, wenn diese Kraft die Kontrolle über sie übernommen hat. Manchmal begegnet einem unter ihnen jemand, an dem man es exemplarisch bildhaft zeigen kann. So einer ist der investigative Journalist Markus Grill, der in den beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Hamburg angesiedelten Tagesthemen der ARD seit Corona Gastauftritte im Wochentakt hat.

Der NDR nimmt ohnehin unter den deutschen Medien eine Schlüsselrolle ein, zum einen durch den Einfluss, den er über die bedeutendste deutsche Nachrichtensendung hat, und zum anderen durch die fatale Tendenz, mit der er diesen Einfluss nutzt.

Markus Grill hat eine Vergangenheit, die Achtung abringt. Mindestens seit dem Jahre 2006 enthüllt er vornehmlich Korruptionsaffären im Pharmabereich: Preisabsprachen zwischen Krankenkassen, Politik und Pharmaunternehmen mit Schmiergeldzahlungen, Ärzte und Krankenhäuser, die betrügerisch abrechnen; in diesen kriminellen Geflechten kennt er sich bestens aus. Und im Abstand von nur wenigen Monaten hat er immer wieder neue solcher Storys ans Tageslicht gebracht.

Kein Zweifel: Grill ist kein Söldling der Pharmaindustrie und wird sicher nicht von Politikern gesteuert. Solange niemand das Gegenteil beweist, steht fest: Grill baut an keiner Villa für einige Millionen Euro ungeklärter Herkunft.

Und dennoch ist katastrophal, was er für den NDR erarbeitet.

Normale Mutation?

Am 16. März 2020 steigt Grill ins Corona-Thema ein, indem er im Bayerischen Rundfunk noch recht neutral berichtet, dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ein Register für freie Intensivbehandlungsplätze plane. Das ist so zwar nicht ganz korrekt, denn das Register gibt es schon. Es wird lediglich ausgebaut und seitens der Politik an einer Verpflichtung der Krankenhäuser gearbeitet, dem Register zu melden. Ein lässlicher Fehler im lausigen Journalis-musgeschäft des 21. Jahrhunderts, doch unter seinem Niveau. Er arbeitet allerdings nicht auf seinem Feld ...

Am 24. März 2020 hat er dann den ersten von vielen Auftritten in der Tagesschau und wird dort als „Redakteur Gesundheit/Medizin“ vorgestellt. Es fällt den Zuschauern nicht auf, dass ein studierter Deutsch- und Geschichtslehrer, der über Wirtschafts- und Korruptionsthemen berichtet hat, nun spontan zum Fachredakteur für Medizin mutiert ist. Aber warum auch? Mutationen kommen in Pandemien nun mal vor.

Er wird gebeten, zu berichten, wie die Situation in den Intensivstationen der deutschen Krankenhäuser sei. Vielleicht hat er sich dafür mit seiner Kurznachricht über das DIVI-Register empfohlen?

Außerdem erläutert er noch, warum es in den verschiedenen Bundesländern mehr oder weniger Infizierte gebe. Er trägt seine Theorie vor, derzufolge dies auf die Nähe zu Österreich und Italien und rückkehrende Skiurlauber zurückzuführen sei. Ohne zu kennzeichnen, dass es sich lediglich um eine Vermutung handelt.

Alles im Dunkeln?

So geht es dann weiter, wenn er erklärt, dass die höheren Corona-Zahlen Italiens und Spaniens daran lägen, „dass Italien schon weit vor Deutschland, also vor zwei Wochen, drastische Ausgangssperren verhängt hat. Und das scheint jetzt zu wirken, dass zumindest der Anstieg gedämpft ist“.

Es scheint daran zu liegen …

Und dann kommt er zur wichtigsten seiner Expertenaussagen: „Das spricht dafür, dass in diesen Ländern die Dunkelziffer der Infizierten wesentlich höher ist.“ Woher weiß er, dass es eine Dunkelziffer gibt und wie hoch sie ist, wenn sie doch im Dunkeln liegt?

„Wissenschaftler gehen ja davon aus (sic!), dass die neue Epidemie eine Tödlichkeit von einem halben bis einem Prozent hat. Man kann die Zahlen der gemeldeten Todesfälle mal 100 bis 200 nehmen, um dann eine Abschätzung zu bekommen über die echten Infizierten. Bisher tauchen ja nur die Infizierten in den Statistiken auf, die getestet sind.“

Hm, ja. Wenn ich reale Zählungen von „Infizierten“ und Gestorbenen habe, dann sind die nicht „echt“. Sondern „echte“ erhalte ich, indem ich die mit wilden Schätzungen aus einer Zeit, als noch keine Infizierten und Gestorbenen gezählt wurden, multipliziere.

Merken Sie sich das: Schätzen Sie mal den Bestand Ihres Bankkontos. Und dann schauen Sie nach, wieviel darauf ist. Den „echten“ Bestand erhalten Sie, wenn Sie anschließend die Schätzung mit der Anzeige des Kontoauszugs multiplizieren. Gibt es nicht ohne Ende Leute, die in ihren Studienfächern erhebliche Anteile Statistik gelernt haben und damit Sachdienlicheres sagen würden, wenn man sie fragte?

Alles nur geschätzt?

Gleich vier Tage später, am 28. März 2020, ist Grill das nächste Mal eingeladen und beruhigt zwar zunächst, dass der Anstieg der Zahlen mit Vorsicht zu genießen sei, da sie zeigten, dass fast nur alte Leute und solche mit Vorerkrankungen betroffen seien.

Dennoch weiss er, dass „extrem wichtig“ sei, dass „aber insgesamt die Testkapazitäten erhöht“ würden, und nicht nur das, „sondern auch die Gesundheitsämter müssen konsequent die Kontaktpersonen von Leuten, die tatsächlich infiziert sind, benachrichtigen“. Dies sei die einzig wirklich sinnvolle Maßnahme im Moment, um „diesen explosionsartigen Ausbruch wirklich einzugrenzen“.

Am 28. März ist zwar die Kurve der Neuinfektionen schon wieder rückläufig — keinesfalls eine Explosion zu erkennen —, und es fehlen wieder sämtliche Belege für „die einzig sinnvolle Maßnahme“ wie überhaupt die Darstellung der Diskussion in Fachkreisen um das Tracking und Tracing, die jemand aus diesen Fachkreisen sicherlich hätte geben können. Doch es soll ja ein Wirtschaftsredakteur Auskunft über Seuchenbekämpfung geben.

Und zuletzt kommt gleich nochmal die Theorie von der Dunkelziffer, gestützt auf Schätzungen ungenannter Herkunft, die „bis zu zehnmal so hoch“ gehen, „also dass in Italien wirklich zehnmal so viele Leute infiziert sind wie in der offiziellen Statistik auftauchen“.

Nun ist die Dunkelziffer binnen vier Tagen nicht mehr 200-mal so groß, sondern „nur“ noch 10-mal so hoch. Doch da ist sie, das weiß er.

Alles zu komplex?

Am 22. April 2020 hat der NDR Erkenntnisse über das Coronavirus durch Obduktionen gewonnen, die der Medizin unbekannt sind. Grill berichtet über den Pathologen Professor Klaus Püschel, der in Hamburg bis zu diesem Zeitpunkt 119 Verstorbene obduziert hatte, die auch Corona-positiv getestet worden waren, und deutet die trockenen Befunde mit seinem überlegenen Sachverstand als „Redakteur Medizin“:

„Bei den wenigsten sei eine Lungenentzündung gefunden worden, sondern es gab sehr viel mehr systemische Gefäßschädigungen. Das heißt, es ist nicht nur die Lunge angegriffen worden, es sind auch sehr viele andere Organe, also Herz, Niere, angegriffen worden. Und das verändert den Blick etwas auf das Geschehen, also auf die Schwere der Erkrankungen, möglicherweise auch auf die Therapie von Covid-19.“

Die relativ banale Feststellung Püschels, dass er keinem Toten die Seuche als Todesursache zuordnen konnte, wird hier radikal umgedeutet, und die Herz- und Nierenschädigungen durch bekannte schwere Herz- und Nierenkrankheiten werden auch noch dem Covid zugeordnet. Derlei Kurzschlüssigkeiten aus wilden Angstfantasien der Journaille hatten Püschel in einer Pressekonferenz sichtlich zur Verzweiflung getrieben.

Doch wie sollen Medizin-Fachredakteure aus dem Wirtschaftsressort solche komplexen Sachverhalte auch einordnen können? Und Herrn Püschel selbst zu fragen, scheint beim NDR verboten zu sein. Folgerichtig darf Markus Grill dann auch noch die Lungenembolie zu einer Unterart der Krankheit „Thrombose“ umdefinieren und für eine neue Erkenntnis halten, dass die mit Blutverdünnern verhindert werden könnte.

Obgleich der schwedische Chirurg Clarence Crafoord diese zum Beispiel bereits 1937 in Stockholm erstmals anwandte und sie seitdem zur milliardenfachen Standardbehandlung in Krankenhäusern gehören. Aber schwedische Wissenschaftler treibt der NDR aus Prinzip in die Enge, statt sie zu hören. Wir werden das im nächsten Artikel beleuchten.

Infektionspolitisches Mantra

Am 12. Mai 2020 lässt sich Grill dann darüber aus, dass nicht ein R-Wert entscheidend sei, sondern die Zahl der Neuinfizierten. Nun wird der R-Wert zwar aus den sogenannten Neuinfizierten gebildet und setzt sie in ein Verhältnis, und relative Zahlen sind notwendig, um beispielsweise zu erkennen, ob Luxemburg oder China bedrohter sind, weil 1.000 Kranke auf 300.000 Menschen in Luxemburg etwas anderes bedeuten als auf 1,5 Milliarden in China. Aber: Man muss zumindest relativ frei sein von Angst, um relative Berechnungen anstellen zu können ...

Bis zum 14. Mai 2020 hat der NDR bereits selbst die Gesundheitsämter unter Druck gesetzt, um das vom NDR und von Grill seit März geforderte Tracing zu erzwingen, indem Grill und sein „Rechercheteam“ 400 lokale Behörden angeschrieben haben. Immerhin die Hälfte habe geantwortet und zu zwei Dritteln geäußert, nicht genug Personal zu haben.

Er wiederholt sein infektionspolitisches Mantra, dass die Infizierten nachverfolgt werden müssten, da dies für die Virologen ein entscheidendes Instrument — für was auch immer — sei. Wieso die Virologen ihre Arbeit nicht selbst machen, sondern der NDR sie übernimmt, bleibt ein Rätsel, das der NDR jedenfalls nicht lüftet.

Warum denn die Gesundheitsämter das nicht machen, spielt ihm sein Kollege den Ball zu. Grill hält das für eine Preisfrage. Die er dennoch keinem Experten stellt, sondern lieber selbst beantwortet. Er habe recherchiert, dass die Krankenkassen nur für kranke Menschen Kosten trügen. Krankenkassen zahlen für Kranke, und für Gesunde müssen andere zahlen — ein Skandal? Und wie die Virologen, Meteorologen, Wirtschaftsweisen oder Wahrsager kennt Grill auch bereits die Zukunft:

„Sobald wir wieder steigende Infektionszahlen haben, ist absehbar, dass die Gesundheitsämter mit den Corona-Ermittlern, die sie haben, diese Tests nicht schaffen können. Und das bedeutet, dass die Epidemie sich wieder unkontrolliert verbreiten kann.“

Und wenn die Politik ignorant ist und weder die Gesundheitsämter noch die Ärzteschaft und auch sonst keiner so richtig die Gefahr sehen und handeln, dann muss der NDR ran ...

Allwissender Journalist?

Am 28. Mai 2020 erweitert der NDR seinen Horizont auf die Weltgesundheitspolitik und greift grassierende Kritik an der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Kreise neuer Alternativmedien auf. Kritiker hätten der WHO eine einseitige Interessenbindung vorgeworfen, und eingangs darf ausnahmsweise mal ein Interviewpartner von außerhalb des NDR, diesmal von medico international, für einige Sekunden einen kritischen Originalton einwerfen.

Der Redakteur beruhigt nervöse Journalisten aber mit dem Hinweis, dass die WHO bereits plane, ihre Abhängigkeit von privaten Geldgebern durch die Schaffung einer Stiftung zu verringern, die mehr Spenden privater Geldgeber einsammeln soll. Naja, dann ...

Und gleich darauf kommen noch fünf Minuten nötige Richtigstellungen des Faktencheckers Medizin. Er wisse gar nicht, ob die WHO etwas falsch mache. Muss man in Interviews Partner befragen, die „nicht wissen“?

Nun, jedoch solle die WHO Sanktionierungsmittel gegen Staaten erhalten, wie sie die Welthandelsorganisation bereits habe. Damit die privaten Geldgeber dann auch noch Zwangsmittel gegen unbotmäßige Staaten zur Verfügung haben?

Aber Grill ist nicht nur Arzt, Weltgesundheitspolitiker und Statistiker. Er kann auch den Job der Apotheker machen und beweist das eindrucksvoll. Das Medikament Remdesivir helfe schwer erkrankten Patienten nicht. Womit er die dürftige Studienlage durchaus angemessen wiedergibt. Seine eigene geniale Schlussfolgerung daraus ist aber nicht, auf das Medikament zu verzichten, sondern es frühzeitig allen Patienten zu geben. Wenn man ein wirkungsloses Medikament breiter einsetzt, steigt seine Wirksamkeit. Oder wie?

Und so genial die Idee auch ist, zweifelt er selbst doch wieder daran und „glaubt“, man warte vielleicht doch besser nochmal ab. Wie gut, wenn man keine Pharmakologen befragen muss, sondern den Redakteur in der „Fachredaktion für alles“! Zu Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten fragen Sie bitte nicht Ihren Arzt oder Apotheker, sondern den wahren Experten, den Germanisten der Tagesschau! Ergänzend folgt wieder die Weissagung der Woche zur Entwicklung des Virus.

Angst vor der Normalität

Am meisten Angst macht den Journalisten, die selbst Väter und Mütter sind, die kommende Schulöffnung. Auf die Stichwortgebefrage, ob das nicht sehr riskant sei, kommt prompt: „Ja, das wirkt in der Tat etwas riskant.“ Kinder seien Träger des Virus und könnten es weitergeben — auch an Journalisten? Das sei eben so. Da müsse man das Risiko abwägen. Wie gut, dass der NDR die Abwägung gleich selbst übernimmt! Wofür hat man seine Medizin-Redakteure?

Grill: „Wir sind in einer Phase, in der es wenig Neuinfektionen gibt. Und dass man komplett auf alle Regelungen verzichtet, also auf das Mindestabstandsgebot, das scheint mir wenig sinnvoll zu sein. Es sind also zum Beispiel auch Dinge im Schulunterricht, also Sportunterricht.“

Wenn im Schulunterricht tatsächlich auch so ein Ding namens Sportunterricht ist, dann versteht man, dass Grill nicht weiß, „ob es sinnvoll ist, im Moment gerade Sportunterricht zu machen, (...) in Turnhallen. Ich wäre strikt dagegen“.

Wie gut, dass Markus Grill zwar nicht weiß, was sinnvoll ist, aber um so strikter dagegen wäre! Denn „dass man zur Normalität zurückkehrt, das scheint mir ein sehr riskantes Vorgehen zu sein“. Da weiß das Fernsehvolk, was es genauso wie die Journalisten-Mediziner zu fürchten hat.

Am 11. Juni 2020 geht es dann endlich um die Wurst, den Spalter der Nationen, die leidige Maske. Wieder diskutiert der NDR das Thema ausführlich und in aller Breite der vorhandenen relevanten Meinungen — also mit sich selbst. Grill deutet erst mal an, dass die Studienlage widersprüchlich sei, und kommt sofort auf die papstähnliche Autorität der WHO. Denn was soll man auch sonst machen, wenn Studienlagen so widersprüchlich sind und verunsichern? Da weiß man doch nicht mehr, wem man noch glauben kann!

Der Glaube an die WHO

Hier muss man eine oberste Autorität suchen. Vergessen ist alle Kritik an der womöglich nicht so unabhängigen WHO von gerade zwei Wochen vorher. medico bekommt besser keinen 10-Sekunden-O-Ton. Die WHO jedenfalls empfehle die Maske überall da, wo man keinen Abstand halten oder nicht die Hände waschen könne.

Die WHO und ihre Geldgeber können zufrieden sein mit einer so getreuen und kostenlosen Presseabteilung in Hamburg.

Das nächste Thema sind mögliche lokale Lockdowns. Ob der Landkreis Aichach in Bayern die richtigen Maßnahmen betreibt, da kann man durchaus Zweifel haben, meinen die Verunsicherten vom NDR. Außerdem hat auch noch ein Virologe von der Uni München gesagt, die Entwicklung eines Impfstoffs könne Jahre dauern. Alle Hoffnung zerstört?

Aber zum Glück gibt es ja Fachredakteur Grill! Und der weiß es besser als die Virologen: „Man kann berechtigte Hoffnungen haben, dass es Anfang des Jahres einen Impfstoff geben wird.“ Grill weiß das jedenfalls besser als Virologe Kepler, weil „man“ diese Zuversicht höre, wenn „man“ mit — nicht näher genannten — Forschern spreche.

Außerdem habe auch der Wissenschaftler Fauci, der den US-Präsidenten berate, gesagt, dass die Firma Moderna schon sehr weit sei und im Juli starten werde. Fauci ist zwar ein über 80 Jahre alter Politik- und Amtsarzt, der im politischen Ringkampf im anderen Lager gegen seinen Präsidenten steht. Aber wenn man es glauben will, kann man das, was er sagt, für Wissenschaft halten ...

Der Redakteur kommuniziert seinem Interviewpartner dann noch mal sehr direkt seine eigene tiefe Verunsicherung, indem er fragt: „Gehen wir in Deutschland den richtigen Weg?“, und Grill versichert ihm, wie erwartet: „Ja.“

Mutation zum Superexperten

Am 25. Juni 2020 ist Grill wieder in der Tagesschau, und Themen sind wieder lokale Lockdowns, die Maske und die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Seuche in den USA und Brasilien. Grill ist inzwischen der Ansicht, dass ein Lockdown ab 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner noch gar nicht reiche. Als Superexperte, der er inzwischen geworden ist, weiß er vielmehr, dass auch ab 45 Infizierten ein Risiko bestehe, wenn die Maske dort nicht richtig getragen werde. Der exponentielle Ausbruch könne so verhindert werden.

In den nur circa zwei Wochen ist die widersprüchliche Studienlage bezüglich der Masken zur Gewissheit geworden. Die Unsicherheit einer widersprüchlichen Studienlage ist nämlich unerträglich!

Der Fachredakteur für Germanistik, Wirtschaft, Gesundheit, Medizin, Statistik und Virologie weiß auch, warum die Infektion sich in den USA rasant ausbreite. Es liege daran, dass die Menschen auf den Wahlkampfveranstaltungen von Trump ohne Mundschutz dicht gedrängt beieinander stünden.

Ob Brasilien die USA noch überholen wird? Es gibt keine Zukunftsvorhersage, die Grill nicht machen kann. Das hat er von den Virologen schnell gelernt: „In realen Zahlen hat Brasilien die USA wahrscheinlich schon überholt.“ Man könne die offiziellen Zahlen Brasiliens wahrscheinlich mal zehn nehmen, um ein Ausmaß der tatsächlichen Epidemie in Brasilien zu bekommen. Mit „realen Zahlen“ meint Grill — erinnern wir uns an den März — das Ergebnis seiner eigenen Multiplikationen aus vorhandenen Messergebnissen und eigenen „Schätzungen“, die den ersten Vorhersagen von Virologen entnommen sind.

Hätte der NDR ausnahmsweise nicht seinen Alleserklärer eingeladen, sondern zum Beispiel Dr. Wodarg, hätte er die Banalität erfahren können, dass Länder auf der Südhalbkugel in unserem Sommer in deren Winter sind und daher in unserem Sommer Winterzahlen an Erkältungskrankheiten haben.

Nichtwissen macht nichts?

Sicherlich gibt es auch Hunderte anderer Fachleute aus Amtsmedizin oder Meteorologie, die das wissen könnten. Doch derlei würde verunsichern. Man müsste sich erneut fragen: Sind wir auf dem richtigen Weg? Würde aber sehr sicher kein „Ja“ hören. Grills Erklärung fällt denn auch nicht so banal wissenschaftlich aus:

„Weil der Präsident keinen Mundschutz trägt und die Bevölkerung widersprüchliche Signale bekommt, wird das Infektionsgeschehen weitergehen und zunehmen.“

Nicht naturwissenschaftliche Phänomene wie die Jahreszeiten beherrschen das Krankheitsgeschehen, sondern die Symbolhandlungen starker Führer. Das würde zumindest die Verunsicherung nehmen und man wüsste, man ist auf dem richtigen Weg.

Vielleicht könnte man als NDR dann auch darauf verzichten, einen Kollegen aus den eigenen Reihen zum Superexperten aufzubauen, der aber leider nur relativ beschränkt zum Führer taugt, und gleich dem Erlöser huldigen. Etwa so wie im April Mr. Gates. Leider steht der dem NDR nur selten zur Verfügung. Denn so wichtig der NDR sich auch in Deutschland wähnt: Für Mr. Gates ist er Provinz.

Aber es kann noch trauriger kommen. Nämlich am 20. August 2020. Das Thema der Sendung lautet „Spätfolgen von Corona.” Nun ist es an sich ja schon etwas schräg, etwa ein halbes Jahr nach dem Beginn einer Erkrankung bei den allerersten Betroffenen von „Spätfolgen“ zu reden, aber das würde an sich noch mit der branchenüblichen Effekthascherei erklärbar sein, wenn der Inhalt nur stimmte.

Zur besseren Information des Lesers sei erst mal der Anlass für Grills Vortrag genannt: die Einrichtung einer „Post-Covid-Ambulanz“ bei der Medizinischen Hochschule Hannover, die sich pfiffig über eine Studie aus überreichlich gefüllten Covid-19-Forschungstöpfen finanziert. Behandelt werden die Ängste, die die Erkrankung und deren psychosomatische Folgephänomene manchen Menschen machen.

Angst vor jungen Menschen

Wie teilt der NDR über Grill dieses sinnvolle Projekt der Zuschauerschaft mit? Er führt zunächst mal zu den aktuellen Krankenzahlen aus, es gebe eine Zunahme von Infizierten um 150 Prozent. Womöglich errechnet er das mit seinen bekannten Multiplikationen. Das Wichtigste aber: Es seien jetzt mehr jüngere Leute infiziert!

Und das bedeute, dass dies Auswirkungen auf die Schwere der Krankheit habe. Den Anstieg der Infizierten merke man zurzeit überhaupt nicht auf den Intensivstationen:

„Wir erinnern uns: Zur Hochzeit, im April, gab es 3.000 Personen auf Intensivstationen, die mit sehr schweren Covid-19-Verläufen dort lagen, zurzeit sind es weniger als 300.“

Warum jüngere Patienten automatisch schwerer erkrankt sein sollten als alte, erschließt sich wohl nur Grill und dem NDR. Aber der fragt ja sowieso nie nach. Warum ein Absturz von Belegungszahlen der Intensivstationen auf ein Zehntel problematisch sein soll und kein Anlass zur Freude, ist auch nicht mehr rational nachvollziehbar.

Aber die Zahlen sind heute auch nicht Grills Thema. Ihn bewegt etwas anderes. Etwas, das in Zusammenhang mit seiner Annahme steht, jüngere Menschen könnten betroffen sein. Das ist so beunruhigend, dass es bei den Zahlen eben durcheinandergerät und in der Erregung auch geraten darf.

Es liegt dem Team des NDR am Herzen, die jungen Leute vor Corona zu warnen, und darum schwingen sie umso sichtbarer den pädagogischen Zeigefinger:

„Wir wollen heute ein bisschen ausführlicher über die Spätfolgen von Corona sprechen. Vor allem Jüngere machen sich ja wenig Sorgen um eine Infektion.“

Im Sinne von Corona genesen zu sein, heiße aber nicht, gesund zu sein, sondern „genesen heißt einfach, man liegt vierzehn Tage nach einem Test nicht mehr im Krankenhaus oder ist auch noch nicht gestorben und wird dann automatisch als genesen gezählt.“

Macht Angst blind?

Nun liegt von den Infizierten eigentlich kaum jemand überhaupt im Krankenhaus und erst recht nicht wegen Corona. Grill sieht jedoch mehr Leute als — von ihm? — erwartet „an Spätschäden leiden”, da sie „massive Probleme“ hätten. Die „massiven Probleme“ sind: dass sie „nicht mehr so leicht Luft bekämen“ und die sogenannte Fatigue, also eine „Ermattung und Ermüdung“, und „Veränderungen des Geschmacks- und Geruchssinns“. Alle diese Phänomene könnten lange nach Abklingen einer Infektion andauern.

Dramatisch vor Augen geführt, wie gefährlich alles sei, habe ihm das die Erzählung eines Arztes aus Hannover, der zwei junge Frauen behandelt. Sie sind vor Covid-19 Spitzensportlerinnen gewesen — oder danach, das geht so ein bisschen durcheinander — und konnten dann nicht mehr so gut Treppen steigen.

Wir müssen uns das mehr als Beunruhigende vor Augen halten: Sportlerinnen sind ja in der Regel eher jung, fast immer unter 30. Also noch zwanzig Jahre jünger als er selbst. Wenn sogar so junge Menschen erkranken können, dann ist Covid-19 doch auch für ihn noch viel gefährlicher, als „man bisher dachte“. „Man“, das muss man wissen, ist die Umschreibung von Journalisten für: Ich. Denn das Ich ist in der journalistischen Sprache verboten.

Die Rücksichtnahme gebietet es, das Transkript des Beitrages vom 20. August 2020 nicht in noch längeren Absätzen wörtlich zu zitieren. Dem allgemeinen Trend zur Verrohung will der Autor sich hier nicht anschließen. Wenn man selbst nicht vor Angst blind ist, kann man auch als Laie sehen und hören: Der arme Mann ist mit den Nerven vollkommen am Ende.

Sadistische Redaktion?

Die Redaktion des NDR hätte einen Kenner der medizinischen Sachverhalte einladen können. Der womöglich, mehr oder weniger direkt oder verschlüsselt, dieses mitgeteilt hätte: Es handelt sich bei den genannten Beschwerden samt und sonders um unspezifische Symptome, die alles und jedes bedeuten können. In Medikamentenstudien tauchen sie gerne in der Kontrollgruppe bei denen auf, die nur ein Placebo erhalten haben. Aus der reinen Annahme, dass ein Medikament Nebenwirkungen haben müsse, spüren die Patienten diese dann.

Sie sind dem Bereich der Psychosomatik zuzuordnen, also jenem Grenzbereich zwischen Körper und Seele, in dem Menschen ihr seelisches Leiden ausdrücken, die nicht gut gelernt haben, Gefühle zu artikulieren und sie dann eben am Körper wahrnehmen: Die Angst kann einem förmlich die Kehle zuschnüren, das Atmen fällt dann schwer.

Wer einen Kollegen in einem solch ruinösen psychischen Zustand so der Öffentlichkeit preisgibt, muss sadistisch sein. Oder im selben Zustand. Sodass er gar nicht mehr als problematisch wahrnehmen kann, was er tut. Etwa so, wie wenn eine Gruppe Menschen sich gemeinsam betrinkt und die Peinlichkeiten der anderen im gemeinsam erlebten Suff aufgehoben sind.

Das Netz vergisst jedoch nicht. Und nicht jeder Kabarettist ist — wie etwa Matthias Richling — Kollege im ARD-Verbund und dadurch gehindert, sich an diesem Material so zu bedienen wie etwa für die Karikatur eines Dr. Lauterbach.

Kollegiale Solidarität würde Herrn Grill längst die verdiente Erholung gewähren. Am besten im heilsamen Freiluft-Sanatorium Stockholm oder doch zumindest in der Klinik Hannover oder einer gleichwertigen Einrichtung. Der ganzen Redaktion würde eine Kur dort sicherlich auch sehr gut tun.


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