In Kriegszeiten sollte jede mündige Bürgerin, auch jeder Bürger, den „Feindsender“ hören. Natürlich sollte man diesem genauso wenig blind vertrauen, wie der Propaganda im eigenen Land. Doch es hilft, den Geist wachzuhalten und Situationen differenzierter einschätzen zu können, wenn man auch die andere Seite sieht. Vor allem hilft es, die Menschen des „Feindeslandes“ als Angehörige der Menschheitsfamilie zu betrachten. Es hilft auch, dessen Kultur, Land und Geschichte zu achten, denn Krieg kommt nie zufällig, und niemals wird er von den „normalen“ Menschen angezettelt, sondern immer von geostrategischen und finanziellen Eliten, die hinter den Politikern stehen.
In Zeiten, in denen wieder deutsche Panzer gegen Russland unterwegs sind,
- in denen in Deutschland lebende Russen nicht wissen, ob sie im Notfall im Krankenhaus behandelt werden,
- Zeiten, in denen Namen wie Dostojewski, Tolstoi, Rachmaninow aus den Lehrplänen verschwinden sollen,
- und in Zeiten, wo Fensterläden von russischen Läden eingeschlagen werden,
- in Zeiten, in denen eine deutsche Außenministerin Sätze ins Mikrofon kreischen darf, wie „das wird Russland vernichten“,
in diesen Zeiten ist es besonders wichtig, russischen Feindsender zu hören.
Gestern Abend also hörte ich Tschaikowski, und zwar das Klavierkonzert Nr. 1, gespielt von Khatia Buniatishvili, einer Georgierin, mit dem Israel Philharmonic Orchester unter der Leitung von Zubin Mehta (1). Das Klavierkonzert Nr. 1 ist ein Musikstück mit Geschichte. Inzwischen soll es das meistgespielte Werk der klassischen Musik sein. Ein riesiger Schwan also, der einmal ein hässliches Entlein war.
Tschaikowski war damals mittellos und auf seinen Freund, den Pianisten Nikolai Rubinstein angewiesen, der ihn über einige Jahre unterstützte. Voller Freude spielte Tschaikowski seinem Mäzen das neu komponierte Werk vor und erhielt als Antwort zunächst nur eisiges Schweigen.
Ich stelle mir die Demütigung vor, die Tschaikowski durchleben musste, und kann sie fast körperlich mitfühlen. Diesen Bericht schrieb er noch Jahre später an seine Gönnerin Nadeshda von Meck, von der weiter unten noch zu reden sein wird:
„Da ergoss sich ein Strom von Worten aus Rubinsteins Mund. Sanft zunächst, wie wenn er Kraft sammeln wollte, und schließlich ausbrechend mit der Gewalt des Jupiter Tonans. Mein Konzert sei wertlos, völlig unspielbar. Die Passagen seien so bruchstückhaft, unzusammenhängend und armselig komponiert, dass es nicht einmal mit Verbesserungen getan sei. Die Komposition selbst sei schlecht, trivial, vulgär. Hier und da hätte ich von anderen stibitzt. Ein oder zwei Seiten vielleicht seien wert, gerettet zu werden; das Übrige müsse vernichtet oder völlig neu komponiert werden.“
Nikolai Rubinstein
Nun — Rubinstein änderte seine Meinung. Zwischen ihm und Tschaikowski stand eine intensive Hassliebe. Rubinstein beobachtete mit Argusaugen den Weg dieses Werks. Nachdem Hans von Bülow das Stück zum ersten Mal in Boston mit Orchester aufgeführt und großen Erfolg damit hatte, spielte es Rubinstein selbst in Paris. Von dort aus trat das Klavierkonzert Nr. 1 seinen Siegeszug an und ist bis heute an Popularität in der klassischen Musik unübertroffen.
Auch in der Musik selbst verbergen sich Geschichten. Der Beginn klingt majestätisch, vielfach stellt man sich einen großen Platz in Russland vor, wo Menschen auf die Ankunft des Zaren warten. In diesem pompösen Beginn versteckt sich eine sehr einfache Grundmelodie. Tschaikowski hat sich wohl von einem Obdachlosen zu dieser Melodie inspirieren lassen. Der lallte etwas Derartiges auf der Straße. Er stellte diese einfache Melodie direkt hinter den glanzvollen Anfang. Darf man darin eine versteckte Sozialkritik vermuten? Wollte er so das wahre Russland zeigen mit all seinen riesigen Gegensätzen?
Im zweiten Satz, dem Andante Semplice, kann man sich die weite ruhige Landschaft Russlands und Sibiriens vorstellen, Naturaufnahmen wie mit dem Flugzeug fast. Töne von beispielloser Schönheit. Musik kommt aus der Stille, möchte man mit Andràs Schiff sagen. Pferde galoppieren über die Steppe. Vögel schwingen sich schreckhaft auf. Die unendliche Taiga. Tief verschneites Land. Russland.
Es gibt in der ZDF-Mediathek eine unglaublich schöne, bilderreiche Serie „Russland von oben“. Man schaltet den Ton aus und hört diesen zweiten Satz von Tschaikowskis Klavierkonzert zu den Aufnahmen. Die tiefe Kultur und die außerordentliche Weite und Schönheit Russlands vermitteln etwas von der Größe des Lebens selbst.
Auf einmal steht man weit über den Hässlichkeiten des kriegerischen Politiker-Geschreis. Baerbocks schrilles, dummes „Das wird Russland zerstören“ mutet an wie kindliches Aufstampfen, wie ein Floh im Pelz des Bären.
Ich mag nicht dran denken.
Tschaikowskis Leben
Durchgehend glücklich wird er nicht gewesen sein als Homosexueller in jener Zeit. Zudem war er in seinen frühen Jahren chronisch pleite. Doch beginnen wir am Anfang:
Geboren wird er 1840 in eine Familie der Mittelschicht im Ural. Er bekam früh musikalische Bildung. Und obwohl sein aus Deutschland stammender Klavierlehrer nicht viel von seinen Fähigkeiten hielt, schickte sein Vater ihn aufs Konservatorium. Jurastudium in St. Petersburg, wo seine Mutter mit ihm hinzog. Dort lernte er das Theater kennen und lieben und erlebte zum ersten Mal, wie sich ein großes Orchester anhört.
1865 wurden seine ersten Kompositionen aufgeführt. Obwohl er gut ankam, blieb ihm der Durchbruch versagt. Er wollte sich ganz der Musik widmen und quittierte den Dienst im Justizministerium, wo er bis dahin gearbeitet hatte.
Doch nun fehlte das Einkommen. Er hatte Schulden, das Komponieren brachte nichts ein. Einige Jahre konnte er bei seinem Freund und Gönner Nikolai Rubinstein unterkommen. Schwierige Zeiten, finanziell abhängig zu sein von einem, der in Widersprüche verstrickt ist: Rubinstein liebte seinen Freund und war gleichwohl neidisch auf dessen Talent. Rubinstein hatte ihm einen Job am Konservatorium vermittelt. Doch der Unterricht belastete Tschaikowski, er fand keine Zeit zum Komponieren. Die finanzielle Zwickmühle ließ ihm keine Wahl. Wie um seine Krise noch zu intensivieren, verwickelte er sich in Skandale sexueller Natur: Er wurde mit minderjährigen Jungen gesehen.
Er heiratete überstürzt, um seine damals strafbare Homosexualität zu übertünchen. Diese Ehe endete mit einem schweren Zusammenbruch nach kurzer Zeit.
Als die Krise nicht mehr tiefer werden konnte, kam der finanzielle Segen von einer reichen Witwe eines Eisenbahnunternehmers. Sie hatte dem Komponisten ein paar Klavierwerke in Auftrag gegeben. Und bedankte sich per Brief:
„Es ist überflüssig, Ihnen zu sagen, wie begeistert ich von Ihrer Komposition bin, da Sie wohl anderes Lob gewöhnt sind. Deshalb sage ich nur, dass es sich mit Ihrer Musik leichter und angenehmer leben lässt.“
Nun beginnt eine jahrelange Brieffreundschaft, die ich persönlich nur vergleichen kann mit der platonisch gebliebenen Liebe Goethes zu Charlotte von Stein. Die Briefe zwischen den beiden sind veröffentlicht in dem Buch „Teure Freundin“ (2). Von Meck und Tschaikowski hatten eine klare Vereinbarung, dass sie sich niemals sehen würden. Vielleicht sind die Briefe deshalb umso intensiver, offener, widersprüchlicher? Es lohnt sich, zu lesen.
Nadeshda von Meck wurde mit 17 Jahren verheiratet und bekam 18 Kinder, von denen sieben starben. Die 45-jährige Witwe leitete das geerbte Familienunternehmen mit eiserner Hand. Ihre einzige Leidenschaft war die Musik von Peter Tschaikowski. Sie unterstützte den Komponisten über viele Jahre mit 6.000 Rubel pro Jahr. Mit ihrer Unterstützung hat diese Dame der Nachwelt einen unermesslichen Schatz vermacht, nämlich die Werke eines der größten Komponisten der Welt.
Feindsender hören
Über den alltäglichen Wahnsinn schreibe ich in meinem Blog — und wie man trotzdem in seiner Mitte bleiben kann. Nun, klassische Musik wie die von Tschaikowski und gute Literatur, wie zum Beispiel Dostojewski, sind auf jeden Fall schon viel wert. Doch auch politisch sollte man sein Gleichgewicht bewahren, indem man den echten Feindsender hört, den ganz verbotenen, die schlimme Putin-Propaganda. Man sollte sie hören als Gegengift zu den deutschen Fernsehsendern und den Radionachrichten, denen man kaum ausweichen kann.
Ich lese und sehe gerne RT-Deutsch, habe den Telegram-Kanal der russischen Botschaft abonniert, und gerade entdeckte ich die schöne Kultur-Website Russia beyond, von der einige der Bilder dieses Artikels sind. Empfehlenswert für die, die den Spiegel lesen, ist auch der Anti-Spiegel von Thomas Röper, einem Deutschen, der in Sankt Petersburg lebt.
An dieser Stelle sage ich deutlich: Ich verteidige nicht den russischen Einmarsch in die Ukraine dadurch, dass ich mich differenziert sachkundig mache. Krieg ist nie eine Lösung, auch Waffenlieferungen in Kriegsgebiete nicht. Ich bin und bleibe Pazifistin.
Mir ist bewusst, dass der russische Feindsender einseitig ist. Doch wer glaubt, dass der Spiegel, die ARD, die Zeit und die Süddeutsche Zeitung ausgewogen berichten, ist leider geistig minderbemittelt. Wenn ich den Ton unserer deutschen Staatsmedien höre und mit dem Ton der russischen Staatsmedien vergleiche, spüre ich einen Unterschied: Der Russe ist sachlich, trocken, informativ, manchmal hölzern. Man versucht, den diplomatischen, respektvollen Klang beizubehalten. Häme ist selten zu finden.
Der Satz eines Russen kommt mir in den Sinn: „Die Hitlers kommen und gehen, aber die Deutschen bleiben immer dieselben.“ Dieser Satz hat mich als Deutsche berührt, und ich ahne, an welcher Front Russland den Krieg bereits verloren hat: Das ist die Propaganda-Front.
Ausgewogen, weil keiner Regierung und keinem Arbeitgeber verpflichtet, sind Menschen wie Daniele Ganser oder auch Gabriele Krone-Schmalz. Doch die werden in unserem Land — wie alle, die Frieden wollen — medial gerade hingerichtet.
Quellen und Anmerkungen:
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(2) Tschaikowski, Peter Iljitsch, Ena von Baer/Hans Pezold (Herausgeber): Teure Freundin. Peter Iljitsch Tschaikowski in seinen Briefen an Nadeshda von Meck. Leipzig 1966
Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)
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