Ich bin ein von einem Fremden missbrauchter Junge. Ich weiß alles, was damals passiert ist, noch wie heute. Der Mann bekam damals Zuchthaus. Ob er noch lebt?
Ich bin ein von kirchlichen Jugendführern missbrauchter ehemaliger Pfadfinder. Ich war damals noch in der Pubertät. Es geschah in der Dunkelheit in einem Zweimannszelt. Ob mein Jugend(ver)führer noch lebt?
Ich bin dann ein paar Jahre später ein missbrauchter Student im Gästebett unter dem einladenden Dach eines Pfarrhauses. Ungebeten und ungefragt, legt sich weit nach Mitternacht der alte Pfarrherr zum Zweck des Lustgewinns in mein warmes Bett, und ich erstarre.
Auch später noch, als Vikar, hatte ich in einer ähnlichen Situation nicht den Mut, einem gestandenen Pfarrer zu sagen, dass das, was er da mitten in der Nacht im unverschlossenen Hotelzimmer, ungefragt und unerwartet, mit mir machte, nicht in Ordnung war. Mehr geht kaum auf Gottes so wundenreichen Wegen.
Ich hätte ihn irgendwann deswegen zur Rede stellen müssen — wie einst Abraham, als der ihm so unbekannte autoritäre Gott ihn zur Tötung seines Sohnes Isaak aufforderte. Der hat es aber auch nicht getan. Das war nicht in Ordnung. Und das ist nicht in Ordnung! Niemals!
Ob all die Täter meine Mutlosigkeit witterten? Ob mein Kindheitstrauma die folgenden erst möglich machte? Anscheinend ja! Ich jedenfalls habe keinen der Täter angezeigt. Weder in der Kirche noch beim Staatsanwalt. Das hatte Gründe.
Einer davon war, dass ich ja schon als Kind von zehn Jahren habe erfahren müssen, dass die wiederholten Verhöre durch die Polizei und den Richter während des Prozesses, dass außerdem die Darstellung der Vorgänge in der Öffentlichkeit mehr Schaden in meiner beschämten Seele angerichtet haben als die fremden Hände in meiner speckigen Lederhose. Herr erbarme dich! Spüren das eigentlich die Menschen, die ähnliche Geschichten erlebten, auch so?
Und weil das so war, habe ich später als Pfarrer und Seelsorger nach Wegen gesucht, Missbrauchsopfern, die sich bei mir Verständnis erhofften, beizustehen. Ohne dass eine Aufarbeitung zum öffentlich ausgetragenen Skandal wurde — wie jetzt der Fall einiger mittlerweile erwachsener Männern aus Siegen, die von einem Kirchenmitarbeiter missbraucht worden sein sollen und es ihrer damaligen Pastorin erzählt haben wollen. Die aber erinnert sich nicht, woraufhin die mittlerweile zur Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche gewählte, Annette Kurschus, zurücktrat.
Ist mit diesem Schritt allen gedient? Wohl kaum! Eher sogar: Nein! Da bleiben seelische Wunden, alte und neue, auf allen Seiten offen.
Es gibt da nämlich eine Schamschwelle in uns — mindestens aber in mir und vielen mir bekannten Betroffenen, die es dem Opfer verunmöglichen, ihre Wahrheit zu sagen. Es fällt ihnen schwer, überhaupt noch Worte zu finden, die sie leben lassen. Schon die Beschreibung der Anatomie fällt Kindern schwer. Wie immer ich das betreffende Körperteil als Kind nannte, es war ein Wort, das mir Erwachsene in den Mund legten, mit all seinen unterschiedlichen Konnotationen. Ich musste es wieder und wieder sagen, es wiederholen vor fremden Leuten. Ein Grauen! Und da war niemand, der ahnte, was in mir vorging.
Denn alle, denen die Opfer es irgendwann doch erzählen oder erzählen müssen, haben Erwartungen. Das beginnt mit der Justiziabilität der Geschichte und hört auf mit der zu erzielenden Quote bei Presseleuten.
Es sind Erwartungen, die keine Rücksicht auf die Psyche der Opfer nehmen. Im Hintergrund all ihrer Aktivitäten stand immer die Frage, wer wem geopfert wird? Die Seele des Kindes der Justiz oder die Justiz für die Seele des Kindes? Die Seele des Kindes der Quote oder die Quote der Seele des Kindes?
Über die Rolle und Funktion der Scham in unseren Seelen wissen wir zwar seit Adam und Eva einiges, aber über ihre schützende Funktion ist in der breiten Öffentlichkeit noch viel zu wenig bekannt. Und darüber, wie verheerend die Wirkung ist, wenn über Schamgefühle hinweggegangen wird, erst recht nicht. Das gilt für die Seelsorge leider ebenso. Unsere Scham speichert das Gift, das in die Seele eingeträufelt ist, ebenso, wie das Fettgewebe das Gift für den Körper speichert. Letzteres kommt beim Fasten mit Azeton an die Oberfläche. Das geruchlose, aber verruchte seelische Gift aber bleibt im Verborgenen. Und da bleibt es so lange, bis man es mit der Hilfe eines liebenden Menschen thematisieren kann. Wenn das nicht möglich ist, entfaltet es seine verheerende Wirkung ein Leben lang und kränkt und krümmt die Seele bis zum letzten oder jüngsten Tag.
Aus dieser Erfahrung heraus will ich den Männern aus Siegen und der Pfarrerin Kurschus beistehen, die vor vielen, vielen Jahren offenbar eine Geschichte zu hören bekam, der sie möglicherweise nicht gewachsen war. Vergiftete Liebe, versteckt hinter der eigenen Scham, und der Umgang eines Menschen damit — das gehört nicht mit zur Standardausbildung eines Pfarrers. Leider! Herr, erbarme dich!
Da kommen also — wenn ich dem folge, was ich darüber gelesen habe — ein paar Jugendliche mit einem sie bedrückenden Anliegen zu einer gestandenen Frau, einer Amtsperson und wollen oder müssen mit einer mehr oder minder fremden Frau über ihre Sexualität reden. Gibt es etwas Schwereres zu erzählen und zu hören? Sie hört, ein kirchlicher Mitarbeiter sei angeblich homosexuell. Na und, ist das alles? Aber warum kommen die zu mir, um das zu erzählen? Wir sind hier im lieblichen Garten und nicht im sachlichen Amtszimmer. Und warum sind es gleich mehrere Jugendliche? Und was drucksen die so herum?
Und da setzt nun meine Erfahrung ein: Betroffene Kinder und Jugendliche können nicht ohne weiteres und ohne therapeutische Hilfe ihre mitgebrachte Schamschwelle überwinden. Sie hatten vielleicht keine Worte, zum klarzustellen, dass es hier nicht allein um die Homosexualität eines kirchlichen Mitarbeiters ging. Welche Worte hatten sie und ihre Scham zur Verfügung für sexuelle Vorgänge, die sie vor einer Frau offen zu legen versuchten? War der freie Garten für sie das Setting, in dem sie sich mit der Sprache herauswagten, so war derselbe Ort für die Amtsperson das Setting für Unverbindlichkeit. Sie hofften wohl auf offene Ohren, damals im Pfarrgarten, aber besagte Ohren waren nicht in der gewünschten Weise auf Empfang geschaltet.
Denn auch der Zuhörer besitzt eine Schamschwelle, und diese zu überwinden, kostet ebensolchen Mut. Vielfach ist die intuitive erste Reaktion: „Das kann doch alles nicht wahr sein!“
Das darf nicht wahr sein. Ich will das nicht hören. Ich höre es nicht. Ich kann es aus Scham nicht hören. Wer sich überfordert fühlt, verschließt sich. Die Jugendlichen hofften vielleicht, dass Andeutungen reichen würden. Aber da war die Scham. Und warum überhaupt taten sich mehrere in ähnlicher Weise betroffene Jugendliche zusammen? Sie hofften wohl, dass mehrere Gleichaltrige zusammen mehr Mut aufbringen könnten. Aber da war die Scham, das Erlebte, der Mann … Und da war die Frau in Schwarz, die sie nicht richtig verstand. Und dann war der Mut für bald alle Zeit dahin.
Pfarrer, die in einer anderen Zeit groß geworden sind, waren nur selten darin geübt, solche möglicherweise unausgesprochenen Signale zu lesen. Und wenn es dann angeblich auch noch ein Mann aus dem nächsten Umkreis ist, wollen viele es gar nicht mehr so genau wissen. Zuviel des Schlechten. So könnte es gewesen sein.
Sicher ist es natürlich nicht, dass ich alles richtig deute. Aber diese vorgeschlagene Version entspricht meiner Lebenserfahrung als Opfer, das mit einem äußerst schwierigen und alle überfordernden Anliegen nicht einmal zu den eigenen Eltern gegangen war, die die Wahrheit wegen ihrer eigenen Scham nicht wahrhaben konnten oder wollten. Kann man da von „Versagen“ sprechen? Greift da die scheinbar alles klärende Frage, wer da wem geopfert wurde? Die wunden Menschen der unverwundbaren Kirche, diese so oft zutreffende Analyse oder die Reinheit der Kirche für die verwundeten Menschen?
Wer unter euch völlig frei von Scham ist, hinter der sich seine eigene Geschichte von Verwundung und Opfer und Täter verbirgt, der werfe den ersten Stein!
Meine Sicht auf die Geschichte ist eine Sicht der Liebe zu allen Seiten hin. Zu Tätern und Opfern, zu Schwestern und Brüdern. Eine Sicht, die bei mir über Jahrzehnte gewachsen ist, aufgrund der eigenen Biografie, aus meiner eigenen langen Therapieerfahrung heraus und dann auch aus meiner seelsorgerlichen Praxis. So könnte es gewesen sein. Wir müssen reden um der Verwundungen willen. Wir müssen zuhören um der Liebe willen. Wir müssen verstehen um unser selber und um Gottes Willen.
Wenn nun Schwester Annette Kurschus von all ihren Ämtern zurücktritt, um, wie man hört, das Amt der Ratsvorsitzenden der EKD, aber auch ihre eigene Seele zu schützen, dann stärkt sie damit leider ein Tabu, das weiter im vermuteten Verborgenen vergiftend wirkt. Warum tut sie das? Warum kein: Hier stehe ich! Ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen! Vor wem fürchtet sie sich? Und vor wem oder was fürchten sich alle, die sie in diesem Schritt bestärkt haben? Vielleicht erkennt sie gemeinsam mit den ihren mit großem Schrecken, dass sie gegen eine öffentliche Entrüstung und faktische Vorverurteilung in den Medien nicht ankommt? Wer sich dort rechtfertigt, der macht sich erst recht fertig, weil er auch damit recht fertig gemacht wird! Hose runter für eine verlogene sogenannte Wahrheitsfindung! Quotenmedien haben generell kein Interesse an Heil und Heilung sondern eher an Unheil. Und dann, später, wenn alles anders war, als es groß und breit berichtet wurde? Was dann? Auferstehungen haben es schwer bei Rufmord! Fragt doch Kachelmann oder am Ende den Meister aus Nazareth!
Jetzt erst, da Schwester Kurschus selber und unsere Kirche medial durch Kleindeutschland getrieben werden, erkennt sie vielleicht die allzu pervertierte Macht des Medienkollektivs, das ja früher für sich die Parole ausgegeben hatte, sich mit nichts und niemandem gemein zu machen — nicht einmal mit einer guten Sache. Die Macht von Journalisten also, die gestern noch gegen das Verschweigen und die Lügen der Mächtigen anschrieben und heute für die Quote schreiben müssen wegen Frau und Mann und Kind zuhause und so. Und genau deshalb hat Schwester Kurschus wohl resigniert. Im wahrsten Sinne es Worte.
Martin Niemöller, der auch mal evangelischer Bischof war, hat vor zwei Generationen einmal darauf hingewiesen, dass man als Christ und Jesusmensch gut daran tut, andere Leute vor Rufmord zu schützen, um nicht irgendwann einmal selbst im Regen zu stehen.
Wenn man zulässt, dass nacheinander alle abgesägt werden — zufrieden damit, dass man selbst verschont geblieben ist, weil man im Schutz der Menge dahinlebte —, dann ist am Ende keiner mehr übrig, der für die Liebe und den Frieden einsteht.
Das gilt auch für die heutigen Christen, für ihre Kirche und ihre Überzeugungen. Ja, jetzt ist kaum einer mehr übrig, der für Schwester Kurschus aufsteht, weil auch sie sich weder als Amtsperson noch persönlich erhob, als Millionen unter uns niedergeschrien und niedergeschrieben, verachtet und geächtet wurden. „Covidioten“ nannte uns und also auch mich die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Das konnte die evangelische Kirche in Deutschland doch nicht so stehen lassen! Hat sie aber! Ärzte aus Westfalen, dem Sprengel der Bischöfin, wurden ins Gefängnis geworfen und mit Handschellen gedemütigt vorgeführt wie weiland zu anderen Zeiten, weil sie ihre Patienten in ihrer Not erkannten und ihnen halfen und beistanden.
Doch da zog keine entrüstete Bischöfin in vollem Ornat nach Bochum vors Amtsgericht, um dort eine wahre Protestantin zu sein. „Schwurbler“, „Lumpenpazifisten“ waren wir friedliebenden Menschen bei den Berlin Demos für den Spiegel. Und der vergessliche Kanzler sieht uns als gefallene Engel und Höllenboten in apokalyptischen Zeiten. Solche Sprach- und Moralentgleisungen verbittet sich die EKD sonst. Aber niemand in den Kirchen — katholisch, evangelisch, egal, aber wie abgesprochen – erhob das Wort für die so Geschmähten von München. „Putinversteher“ und „Antisemiten“ und sonstiges Geschwerl — alles wurde in einen Topf geworfen und so lange umgerührt, bis dass alles ein gleiches Geschmäckle hatte! Aber jetzt! Um Gottes Willen! Jetzt endlich, kündigt die EKD ihren verstärkten Widerstand gegen eine zunehmend verkommende „zweite und dritte und vierte Gewalt“ an. Die Kirche mit ihrer kritisch prophetischen Position gegenüber der Obrigkeit! Aber nein! Statt eines der so berühmten goldenen Worte der Kirche, das wirklich tröstend an unserer Seite gewesen wäre, kam nur eisiges Schweigen.
Jetzt aber ist sie selbst dran, die Bischöfin, steht allein vor dem Hohen Rat der selbstgefälligen Moralapostel und fürchtet nun den Pranger.
Da bin ich gerne einer von denen, die sagen: Vorsicht, Schwestern und Brüder! Kirche ist von ihrem Selbstverständnis her keine Institution, die verurteilt und sogar straft. Davon halten wir Jünger Jesu gar nichts. Das gilt für alle Konfliktfelder, private wie öffentliche. Das wäre schwarze Pädagogik und ist bei Christen in alle Ewigkeit unten durch!
Wir sollten eine Institution sein — und davon träume ich und dafür lebe ich —, die das Lieben lernen will und muss, die deshalb übt und übt, dabei immer wieder versagt und am Boden zuerst weiter übt, die auf die Schnauze fällt und wieder aufsteht im Namen des Herrn. Und immer, wenn wie vor 2000 Jahren eine Jagdmeute mit einem fertigen Urteil kommt und brüllt: „Steinigt sie! Tötet sie! Rottet sie aus! “, dann halten wir inne, ducken uns auch einen Moment oder länger vor der negativen, sogar tötenden Energie der Geifernden und bitten, am Boden hockend, Gott um Hilfe bei der Frage, was jetzt in dieser Situation am ehesten der Liebe unter den Menschen dienen könnte. Herr erbarm dich über uns!
Und dann stehen wir noch Gebete murmelnd und leise Choräle singend auf und sprechen im Namen der Liebe: „Wer glaubt, mit Steinen oder anderen Waffen Frieden stiften zu können, der dient dem falschen Herren.“ Und die gibt es zu jeder Zeit an jedem Ort und in großer Menge.
Und am Ende, liebe Schwester Annette Kurschus: als Christin Patentante für ein Kind zu sein, dessen Vater jetzt im Kreuzfeuer steht — aus Gründen, für die jedenfalls dieses Kind nichts kann —, eher wir alle als das Kind, das ist mutig und aller Ehren wert. Gott segne sie alle!
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