Lieber Bruder Franziskus, du bist mir ein seltsamer Vogel. So frei, so anders als all die anderen vielen Vögel unter dem Himmel Roms. Fliegst jetzt wohl in Richtung Himmelfahrt, denke ich, am großen Fest des Herrn, dem du folgtest — wohin auch immer du willst: nach Lampedusa nochmal wie am Anfang Deiner Amtszeit oder in die Gefängnisse am Gründonnerstag, wo du den Gefangenen die Füße gewaschen hast. Was ist aus ihnen geworden?
Ein wilder Vogel warst du, der sich herauspickte, was ihm bekam, und sich nicht um seine ihm zustehenden Pfründe kümmerte — keine Lackschuhe, kein Palast, kein Mercedes, nur ein Fiat. Mit biblischer Gelassenheit tratst du deine Schuhe breit. Ein bescheidenes Gästezimmer am Katzentisch des mächtigen Vatikans, eine Art Vogelbauer, vorübergehend bis dass der Tod wieder alles in die alten Bahnen zurückführt.
Franziskus? Ich war gerade bei mir unten am See spazieren, um die Vögel am Ufer zu besuchen, als Manova anrief. Und ein großer Rabenvogel kreiste auf meinem Weg über mir, flog mir voraus, von Baum zu Baum. Weil er meinen Weg kennt. Aber vor mir fürchtet er sich noch etwas. Näher als einen guten Meter lässt er mich nicht an ihn herankommen. Wahrscheinlich, weil ich evangelisch bin. Was meinst du, heiliger Franziskus von Rom? Weil ich zu der Sorte von Christen gehöre, die alles besser machen wollen, als die Schöpfung es vorsieht? Wir Protestanten können schwer etwas so lassen, wie es ist. Das ahnen der Vogel und die ganze Natur und halten Abstand.
Aber du warst doch genauso so!
Ein Stück Protestant warst du auch. Polterkopf aus den Armenvierteln Lateinamerikas. Wie oft hast du die Tische der weltweiten Geldhändler mit deinen Füßen umgestoßen! Du bist doch als Jorge getauft, also Georg — der Heilige Georg, der mit dem Drachen kämpfte. Das war das große Omen.
Das war der Stern, unter dem du dientest: die Armut der Welt, der Terror der Diktatur in deinem Land, das Morden und Totschlagen in den Kriegen, das Ersaufen von Tausenden vor deiner Haustür. Abgründe im Land des Drachenkämpfers Jorge. Das kann doch niemand so lassen! Ist die Kirche so eine Art NGO des Himmels, die die Defizite des Lieben Gottes wettzumachen versucht? Ich schau nach dem Vogel. Die Synchronizität öffnet den Himmel, als wolle er zu mir sprechen.
Und der Rabe hüpft näher. Ich spüre die tiefe Sehnsucht, ihn anfassen zu wollen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, also einzutauchen in die umfassende Wirklichkeit des Vertrauens. Eins zu werden mit dem Mysterium der Schöpfung und mit allem und jedem. Ein Liebesverhältnis aufzubauen, weit über uns Menschen hinaus — zu Sonne, Mond und Sternen und aller Kreatur.
So wird aus dem kämpfenden Jorge der liebende Heilige Franz, ein Bruder aller. Die Liebe ist größer als der Kampf! Die Liebe ist mächtiger als der Sieg!
Wer mal als Jürgen — also eine Abwandlung von Jorge — getauft worden ist und sich mit einem neuen Namen dafür offen zeigt, dass der heilige Franz bei ihm und in seiner Seele Wohnung nimmt, der bekommt ein tiefes liebendes Wissen von der ganzen Kreatur. Zum einen hört er ihre Seufzer, diese Sprache der leidenden Seele. Zum anderen aber erlebt er sich hilflos, wie wir es alle sind! Er erfährt, dass nichts in unserer Hand liegt. Nichts! Erbarme dich unser!
„Bona sera!“ Was ist das für ein seltsamer Vogel da am Fenster des Petersdoms? Ohne Berührungsängste! Spricht leutselig die Sprache der Menschen und hofft auf sie. Ein ersehnter Himmelsbote offenbar, der Millionen sein Vertrauen schenken will. Das war der Anfang.
Und auf einmal warst du nicht mehr ein freier Vogel wie der heilige Franz von Assisi mit seiner Clara, sondern du standest einer Art Hühnerstall vor, wo sich alle freiwillig die Flügel stutzen ließen mit der menschlich verständlichen Aussicht, das freie Wort gegen lebenslangen Freitisch einzutauschen.
Statt deine Leutseligkeit zu lieben als ein Geschenk des freien Himmels, bauten sie um dich herum nach bewährter Art ihren goldenen Vogelkäfig. Und aus dem Vogel drohte ein kastrierter Hahn zu werden, dem das Futter näher sein sollte als die alte wilde Freiheit der frühen Jahre.
Wenn ich es richtig fühle, lieber Franziskus, dann hast du wirklich darauf vertraut, dass sich die Fragen der Kirche um Zölibat, den Synodalen Weg, Sex & Co. angesichts der wirklichen großen Fragen des Lebens um Krieg und Frieden, Macht und Ohnmacht, relativieren würden. Leben ist wichtiger als Positionen. Und die Ukrainer sollen am besten die weiße Flagge hissen, sagtest du! Tun sie bis heute nicht, nach einer Million Tote mehr. Aber du trautest dich das in einer Welt, die das Schmähen der Friedensstifter zur großen Kunst erhoben hat. Allein gegen den Strom!
Wie wenn die Zeiten Don Camillos nicht vorbei wären! Wenn es diesmal nicht mehr gegen einen kommunistischen Peppone, sondern gegen die Statthalter des Kapitals ginge. Schnappatmung bei den vatikanischen Banken — geht noch mehr? Ja! Es geht noch mehr:
Wie hast du ausgerechnet zu Weihnachten diesen Hühnerstall, den man die Kurie nennt, zur Sau gemacht! Wie der wütende Prophet Amos aus dem Alten Testament kamst du daher und hast sie — wie Amos damals — als Fettsäcke beleidigt. Ich hielt den Atem an. Ich liebte dich dafür!
Aber mal unter uns, Franziskus, du musstest doch wissen, dass die Kurie sich immer schon weniger für die Freiheit eines Christenmenschen interessiert. Da laufen doch keine jungen Männer in Jesu Alter rum, sondern ausschließlich Männer mit Bäuchen im gesetzten Alter, die hinten nicht mehr hoch kommen und auch aus diesem Grund für Ordnung und Schönheit, Anbetung, große Tänze und Inszenierungen schwärmen. Spiritualität im Alter ist anders. Sie alle stehen kurz vor ihrem Ableben und wollen in Kunst und Musik den Abglanz des Himmels ahnen. Und du redest von Freiheit, von Gerechtigkeit und freier Liebe zwischen Männern und Männern, Frauen und Frauen! „Wer bin ich“, hast du damals im Flugzeug gesagt, „dass ich darüber richten könnte!“
Du redest vom Inneren, Rom aber lebt im Äußeren!
Das hat was Morbides und zugleich Mächtiges. Schöpfung und Verfall sind Geschwister. Und darum machen sie, wie fast alle etwa zehn Jahre, das ganz große Fass der Totenverehrung und Beschwörung auf. Trommelwirbel! Nix mehr übrig von Jesu Vermächtnis, dass gefälligst die Toten die Toten begraben sollen.
Und wieder wolltest du dich, so gut es geht, entziehen und verfügtest einen einfachen Holzsarg, sozusagen handgehobelt und vom Zimmermann Josef zusammengenagelt. Okay, zugestanden! Fällt nicht groß auf zwischen allem Rot und Gold und Pomp der Welt. Aber beim einfachen Verscharren machen wir nicht mit. Da führen wir den ganzen „Karneval“ — wie du das ganz am Anfang noch nanntest — unseres Totenkultes der letzten Jahrhunderte auf. Das hat was.
Ach, by the way, lieber Franziskus, Bruder im Geiste, unterwegs zwischen Ostererscheinungen in Rom und aller Welt und solchen gleich hier an meinem See: Gibt der Vater im Himmel eigentlich frei, um sich die großen und kleinen Vögel, die jetzt alle nach Rom fliegen, wenigstens aus der neuen Perspektive anzusehen? Geht da noch was? Zum Beispiel in Sachen Krieg und Frieden, Umkehr, Jesus und Füße waschen und reich gegen arm? Ich habe den Eindruck, du hast den Glauben an das Gute in uns allen immer noch nicht ganz verloren.
Flieg, lieber Jorge! Flieg, Papa Francesco, flieg!
Wir seh’n uns!
Dein kleiner Bruder in Jesus
Jürgen

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