Mama Valente war schon lange tot. Beim Weißwurstschmuggel über die Donau-Grenze soll sie im Stacheldraht verendet sein, erzählten die älteren Stammgäste und verteidigten eisern diese Version eines allzu frühen, tragischen Todes. Stockbesoffen war sie gewesen, meinten die Jüngeren; herausfinden würde man es niemals mehr — wie bei diversen Morden an diversen Kennedys, dem Tod Jim Morrisons, der RAF-Gründergeneration, dem schwulen Bayernkönig mit der Wasserpfeife aus Elfenbein und wie beim …
„Reichstagsbrand! Reichstagsbrand!! Genau wie beim Reichstagsbrand!!!“, geiferte Fauna, außer sich vor Wut.
11. September 2001 — acht Tage danach: Donna Fauna hatte sich inzwischen aus der Depression herausgekämpft und kapiert, was da eigentlich passiert war. Ihr hysterisches Fauchen durchschnitt die betretene Stille: „Bin Laden! Lächerlich! Das waren die Amis selber oder der Mossad oder irgendeine verschissene Psychosekte!“
Auch das Weazel hatte sich mittlerweile von der Tatsächlichkeit der Katastrophe überzeugen lassen müssen. Es war total aufgedreht und ebenfalls für jede Verschwörungstheorie zu haben.
Die Quersumme des Datums hatte das Weazel errechnet: 11 + 9 + 2 + 1 = 23! 23, die legendäre Kennzahl des Geheimbundes der Illuminaten, bekannt aus Buch, Kino, Internet! Das Ergebnis war mathematisch nicht zu hundert Prozent korrekt. Die tatsächliche Quersumme war entweder 1 + 1 + 9 + 2 +1 = 14 oder 11 + 9 + 2001 = 2021. Das Weazel blieb dessen unbeeindruckt: Ohne mathematische Spitzfindigkeiten war die augenscheinliche Quersumme des Katastrophendatums: 23! Zudem wäre die Quersumme von 2021 auch 2 + 21 = 23 oder eben 2 + 2 + 1 = 5 gewesen. Und die Fünf entsprach wiederum der Quersumme von 14 und der von 23, was überhaupt und naheliegenderweise als numerischer Hinweis Richtung Pentagon zu deuten war: „Penta! Verstehste? Penta! Fünf!“
Das Weazel erntete für seine Rechenkünste wenig Anerkennung. „Du spinnst, ehrlich!“, war sich die anwesende Kneipenbelegschaft einig. Aber diese Bin-Laden-Story? Gab es den Typen überhaupt? Hätten sie die Rolle nicht besser gleich mit Al Pacino besetzt? Al Pacino als Drahtzieher des 11. September, gejagt von Denzel Washington, Kevin Costner als Georg Bush! Da hätte das Weazel mit sich reden lassen und bereitwillig die absurdesten Geheimdienstlügen geglaubt. Aber so?
„Ich möchte gefälligst auf vernünftigem Niveau belogen werden!“, grunzte das Weazeltier.
Fauna ließ die Vorlage nicht ungenutzt:
„Bravo, Weazelchen. Wenn sie schon alles inszenieren, dann bitte gleich mit Leuten, die das künstlerisch auch darstellen können! Graf Scharping als Feldherr und Kriegsstratege — es ist doch zum Heulen! Hindenburg, Hindenburg, wo bist Du nur geblieben!“
Erneut das Weazel:
„Andererseits haben Schröder und Fischer als erste Deutsche im 20. Jahrhundert überhaupt einen Krieg gewonnen. In letzter Minute zwar und mitsamt Amis, Tommies und Franzacken auf das bisschen Serbien drauf, das 1999 noch übrig war, aber immerhin! Gewonnen is gewonnen.“
„Vielleicht verlieren sie diesmal, wenn sie nach Afghanistan mitrennen“, machte sich Fauna Mut.
„Blablabla, krieg Dich mal wieder, Schatz“, gab das Weazel Kontra: „Wenn es nach Dir geht, war der Kosovo-Krieg auch schon ein zweites Vietnam. Und der Golfkrieg 1991 war auch ein neues Vietnam. Und der Somalia-Einsatz auch! Neeee, das dauert noch.“
- September 2001, acht Tage danach. Die jetzige Bar zum Krokodil hatte in ihrer langen Geschichte schon viele Namen getragen, und doch immer nur den einen: bei Mama Valente.
Dieser Tage gehörte das Krokodil zu den einzigartigen Features von Shivas Paradize.
Die angeschlossenen Mythen füllen Bände. In der Endphase der Weimarer Republik soll die Kneipe als Sturmlokal des Roten Frontkämpferbundes zahlreichen Angriffen gegen SA und Stahlhelm als Ausgangspunkt gedient haben. Zumindest hatte Mama Valente das regelmäßig behauptet. Später war der Laden Kantine und Trinkhalle für die Belegschaft des Kombinats gewesen, und, so war verschiedentlich zu hören, Versammlungsraum für die Betriebskampfgruppen der umliegenden volkseigenen Betriebe.
Diese Weimarer Heldenstory glaubten nicht mal die treudümmsten Stammkunden von der BA-Fraktion, wie sich die „Bekennenden Alkoholiker“ nannten. Das mit den Betriebskampfgruppen zu DDR-Zeiten mochte angehen. Historisch belegt war nur, dass die Kombinatsleute sich hier zum Essen und Saufen trafen.
Nach der Deindustrialisierung der Region ihrer Kundschaft beraubt, hatte die findige Mama einen ihrer prächtigsten Einfälle: Sie startete eine Werbekampagne in Fetischläden und auf SM-Partys und pries ihren Laden als neuen Szenetreff in postindustrieller Atmosphäre an. Parallel begann sie, für die Samstage lokalbekannte Nachwuchs-DJs zu engagieren, und experimentierte zwischenzeitlich sogar mit Gogo-Dancern auf den Resopal-Tischen. Als neuen Namen verpasste sie dem Etablissement in Anlehnung an den queeren Hit der Zwanzigerjahre: „Bar zum Krokodil“.
Der Geheimtipp sprach sich in den einschlägigen Kreisen schnell herum. Vielleicht sorgte auch die Existenz dieses Ladens dafür, dass einer oder mehrere der Shiva-Fürsten das Areal für ihr eigenes Projekt entdeckten.
Als diese jedenfalls in der unmittelbar angrenzenden Produktionshalle Shivas Paradize gründeten, war die Bar zum Krokodil längst mehr geworden als nur Heimstadt von Lederschwulen und Plastikfreunden.
Der umtriebigen Mama Valente war Kultstatus attestiert und das Krokodil zur beliebten Anlaufstelle eines breiten Spektrums geworden: globalisierungsbewegte Aktivisten und Swinglesben, Trans- und Intersexuelle, Anarcho-Punks und Hacker-Stammtisch, Crossdresser, Amazonen, Esoteriker, Lebens- und Identitätskünstler aller Art.
Was radikal verkorkst und stolz drauf war, tummelte sich bei Mama Valente in ungezwungenem Genderchaos. Diese Crème der rebellischen Stadtjugend ergänzten einige Überlebende der AIDS-Krise, Veteranen der sexuellen Revolution, längst arrivierte Bewegungsschwestern, Mao-Veteranen und Althippies.
Die Brücke zwischen den Generationen bildete eine Clique von frei anschaffenden Strichern. Die jagten sich mit ihren Freiern auf dem Valente-Klo Speed und Koka in die Nasen und zogen anschließend für eine schnelle Nummer in die gespenstisch-schöne Kulisse des verlassenen Industriegebiets.
Es dauerte nicht lange, da gehörten auch Fauna, das Weazel und KQ zu den regelmäßigen Besuchern des neuen In-Lokals. Und nicht nur diese drei fanden die nachbarschaftliche Nähe von Mama Valente und Shivas Paradize feiertechnisch extrem praktisch. Es entwickelte sich ein reger Pendelverkehr. Und trotz anfänglicher Reibereien über die Lautstärke der Beats oder das ständige Geficke im Gebüsch erkannten die Betreiber beider Läden schnell den gegenseitigen Vorteil. Zunächst gab es testhalber einige gemeinsame Partys. Deren Erfolg intensivierte die Zusammenarbeit, und beide Parteien wurden sich ursympathisch.
1999, im letzten Lebensjahr der alten Herzensmama, wurde die rückwärtige Wand zur Lagerhalle eingerissen, womit ein Durchgang vom Krokodil zum Shiva-Areal entstand. Schlussendlich eröffnete dort ein zweiter Tresen, wo seither neben den üblichen Partygesöffen auch naturgehextes Braugut aphrodisierender Wirkung feilgeboten wurde.
In erster Linie um Steuern zu sparen und die Bar dem Zugriff von Gläubigern und Schankbehörden zu entziehen, meldete Mama Valente als letzte Amtshandlung vor ihrem Hinscheiden noch schnell Konkurs an, wie man gerüchteweise hörte. Die Schulden habe sie mit ins Grab genommen.
Die Bar zum Krokodil wurde für einige Wochen geschlossen. Freilich wurde sie anschließend unter dem Schutzschild von Shivas Paradize weiterbetrieben.
War es diese Schnittstelle zu Mama Valentes rotlichterndem Queervolk, die Shivas Paradize zu einem in allen erreichbaren Galaxien legendären Partykomplex werden ließ?
In den Büschen und Gemäuern rund um die Fabrikhalle stöhnte und ächzte es jedenfalls weiterhin aus allen Luftröhren — was kaum zu hören war, weil auch die Beats kein Dezibel leiser geworden waren.
Die schöne Fauna war von den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon in der heimischen Wabe erwischt worden, als ihr Mitbewohner aufgeregt ins Zimmer platzte und sie vor den Bildschirm zerrte.
Jubelnd waren sie anschließend vor dem Fernseher auf- und abgesprungen. Was für ein Schlag! Die Symbole kapitalistischer Macht, Welthandelszentrum und Weltkriegszentrale, in Schutt und Asche! Pearl Harbor? — Eine zweite Tet-Offensive eher! Ein Stoß ins Herz der Bestie, ein Jahrtausendereignis. Wer auch immer das gewesen sein mochte: Die Ziele waren gut gewählt.
Sicher, Tausende Tote … Aber wie viele sterben täglich in Afrika? Und die schauerliche Schönheit der Bilder! Der Terrorakt des Jahrtausends, in bester Ton- und Bildqualität! Wer konnte sich dieser Ästhetik entziehen?
Fauna hätte können. Fauna wollte aber nicht.
Eingeboren einer Generation, deren Charakterschule sich an der schleichenden Kapitulation der 68er-Mehrheitseltern ihr abschreckendes Vorbild genommen hatte, stellte Fauna an ihren Radikalismus höchste Ansprüche. Sie liebte Oscar Wilde, die Zwanzigerjahre, sinnlosen Luxus und Kitsch aller Art. In erster Linie betrachtete sie sich aber als Jakobinerin. „100.000 Köpfe! Ich fordere 100.000 Köpfe!“, hatte einst Jean Paul Marat geschrieben. Und jetzt sollte sich Fauna von einigen Tausend toten Amis aus dem Konzept bringen lassen?
Zumal Fauna sich, da halfen alle hippieesken Accessoires nichts, sowieso einen leicht dogmatischen Zug eingefangen hatte über die Jahre. Die Schonungslosigkeit, mit der sie ihr komplettes Leben dem Konsequenzgebot ihres politischen Radikalismus unterwarf, verlor sich bisweilen im konsequent Idiotischen.
War es nötig, den gesamten Rucksack mit politischen Buttons zuzupflastern? Unterlief das nicht Faunas Image als queeres Identitätsprojekt höherer Entwicklungsstufe? War es tatsächlich Verrat an der Sache, nur bei jedem vierten Bullenangriff die Fresse voll Gas oder den Knüppel im Kreuz zu haben? Brachte Arbeit für 11,50 D-Mark die Stunde die Weltrevolution in irgendeiner Hinsicht voran?
Mit der gewichtigen Ausnahme, dass sie in finanzieller Hinsicht neuerdings aus einträglicheren Quellen schöpfte, bestand Fauna auf der Notwendigkeit all dessen. Und wenn sie anführte, die verhasste Mehrheitsgesellschaft brauche Feuer, Kampf und Rebellion, war nicht gut Widersprechen.
Freilich drängte sich der Verdacht auf, Fauna verwechsle die Totalität der Gesellschaft gelegentlich mit den Bedürfnissen ihrer privaten Neurotik.
So ließ sich beispielsweise schon fragen, inwieweit der quasireligiöse Fanatismus, mit dem Fauna ihre arg veralzheimerte Großtante zum wiederholten Male mit einem pompös zelebrierten Coming Out quälte, einer nüchternen politischen Bewertung standhielt. Wenn auch kostensparend, so doch makaber genug, ihr zu Weihnachten dreimal in Folge die immer gleiche Duftlampe vorzusetzen. Das Memory-Spiel zum Geburtstag dürfte jedoch der Höhepunkt an Geschmacklosigkeit gewesen sein.
Das Weazel und KQ heizten, es war nicht zu leugnen, Marotten dieser Art durch ihre jubilante Vorliebe für Faunas Familiengeschichten kräftig an. Dass Urheberin dieserlei Taten der kleine Sadist in Faunas schwermütiger Tuntenseele war, stand jedoch außer Frage. Und diese jähen Umschläge vom Radikaleuphorischen ins Radikalapokalyptische gaben immer häufiger Anlass zur Sorge.
So auch heute, als Fauna mit dem Weazel in Mama Valentes rotem Plüschsofa und ungebremstem Pessimismus versank.
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