Die Feste und Feiertage oszillieren also um verschiedene Kerne, offenbar entweder im Rückgriff auf die christliche Botschaft oder auf Verehrung der Natur. Es lohnt ein Blick in die Vergangenheit, um das Rätsel zu lösen und die erstaunlich langlebigen Spuren der Kultur unserer Vorfahren — vor der Christianisierung und offenbar noch lange danach — in diesen Festen auszugraben. Im Hinblick auf eine Rückbesinnung, auf die notwendige Ehrfurcht vor der Natur in einer zunehmend lebensfeindlichen Welt und des Vorgaukelns eines Lebens im digitalen Netz ist es möglicherweise sogar geboten.
Nach der Christianisierung hielten die Menschen sehr lange, wie aus dem entsprechenden Brauchtum erkennbar ist, teilweise bis in unsere Zeit an den alten Ritualen fest. Was die neuen Herren nicht verbieten und auslöschen konnten, musste eben umgedeutet und umbenannt werden.
Die Verwirrung der Überlieferungen, die seit Jahrhunderten nebeneinander existieren, beginnt schon zu Ostern. Ostereier sind ja ganz offensichtlich kein christliches Symbol, sondern stehen für das neue Leben, das im Geheimen bereits heranwächst, genauso wie in den Knospen des Frühlingsstraußes. Wie wir aus dem immer auch spirituell aufgeladenen Brauchtum unserer Vorfahren schließen können, respektierten diese die Natur, wünschten sich Lebens- und Zeugungskraft und fürchteten die ungeheuren Zerstörungskräfte. Deshalb gehören zu den fröhlichen Feiern stets auch Opfergaben, um mit der Natur in freundschaftliche Beziehung zu treten. Mancherorts wurden die Brunnen gereinigt und geschmückt, um symbolisch und tatsächlich für frisches Wasser zu sorgen und zu danken.
Bäume und Tiere spielen eine wichtige Rolle als Beispiele für diese Naturkräfte. Sie sind uns Vorbild und mahnende Zeichen, Ausformungen der göttlichen Kraft und als solche selbst göttlich. In den ersten Eiern, der ersten Kuhmilch nach der Winterpause, dem Birkengrün oder dem Festgebäck wird das Göttliche für uns erfassbar.
Die Feiern und Rituale zum Pfingstfest haben sich bei uns nicht so gut erhalten wie die Erinnerungen an das ursprüngliche Osterfest oder die Maifeiern.
Womöglich wurden Elemente des nicht mehr gern gesehenen 1. Mai auf das von der Kirche geförderte Pfingsten verlegt. Vieles war ähnlich, da übereinstimmend das wiederkehrende Licht, das frische Grün und das neue Leben gefeiert wurden.
Der Maibaum hat bis heute überlebt, aber nur noch wenige Orte kennen die Pfingsttanne, die ebenso das Ortszentrum schmückte und umtanzt wurde. Andernorts wurden, wie in der Nacht zum 1. Mai, zu Pfingsten Maien gesteckt, das heißt, junge Birken wurden vor die Häuser gesetzt. Meist markierten Burschen damit die Wohnungen ihrer Liebsten. Die Pärchen fanden zusammen. Bis heute gilt der Mai als Hochzeitsmonat. Zu Pfingsten gipfelten die Feiern des neuen Lebens in Paarungen, nicht nur einfach als Zeichen der in der Natur überall spürbaren Lebenslust, sondern auch als rituelle Begleitung der sich vereinenden Naturkräfte: von Himmel und Erde, von Sonnenlicht in der Ackerfurche, von mildem Regen auf frischen Saaten …
Außerdem schmückten sich junge Männer mit Laub, verschwanden teilweise ganz dahinter, um tanzend als eine Art wandelnder Baum durchs Dorf zu ziehen und damit die Kraft der Bäume zu den Menschen zu bringen. Dieser Laubmann wurde manchmal auch mit Wasser bespritzt oder ins Wasser versenkt. Womöglich sollte dies dem unheimlichen Treiben von Waldwesen symbolisch ein Ende setzen. Der Laubmann könnte ein Nachfahre eines aus der Antike bekannten Waldgottes sein, ob er nun Dionysos, Pan oder Bacchus genannt wurde. Dionysos war verbunden mit Rhea und Demeter, beides Ausformungen der göttlichen Mutter Erde. Bacchus, „der Lärmende“, war unsichtbarer Anführer lärmender Umzüge, wie sie auch bei uns lange üblich waren. Raunende Erzählungen von Orgien der Bacchantinnen ähneln stark den Vermutungen über die Vorgänge bei der Hexennacht zum 1. Mai.
Kultfeiern, in denen die Vegetation oder allgemein die göttliche Natur im Zentrum stand, sind in Europa wohl bis weit ins Mittelalter gefeiert worden, wie man auch aus entsprechenden Dekorationen in Kirchen schließen kann.
Säulenkapitelle sind mit Laubranken geschmückt, mit wilden Tieren (vergleiche das Hasenfenster im Dom zu Paderborn) oder mit Gesichtern von Mischwesen (vergleiche den Sockel des Bamberger Reiters). Der Grüne Mann auf der Einladung zur Krönung von König Charles III. hat die Aufmerksamkeit neuerdings auf diese alte Überlieferung gelenkt.
Jedenfalls wurde gerne draußen gefeiert, mit Ausflügen beziehungsweise Prozessionen in die Natur, mit Tänzen und mit Alkohol, um im Rausch einen Blick in das göttliche Bewusstsein zu erhaschen, das unsere Grenzen ja sprengt. Häufig gab es auch sportliche Wettkämpfe unter den Jugendlichen, die durchaus auch einen spirituellen Charakter aufweisen können. Damit erkannte man die besten Kräfte in der Gemeinschaft, die zugleich durch die Gunst der Götter Sieger wurden.
Die Nacht zum 1. Mai gilt als Nacht der Hexen. Es ist eine feine Ironie der Geschichte, dass die Hexen allen Verboten und Verunglimpfungen zum Trotz im kollektiven Gedächtnis überlebt haben, sogar eine gewisse romantische Ehrerbietung genießen, während die gegen sie aufgebotene Heilige Walburga jetzt allgemein selbst als Anführerin der Hexen gilt.
Auch in diesem Fall ist uraltes Brauchtum unserer keltischen und germanischen Vorfahren christlich überformt worden. Schon die Figur der Walburga klingt verdächtig nach keltischer Göttin, denn sie ist zuständig für Wind und Wetter, für Geburt und neues Leben, für Erntesegen und Wohlergehen der Menschen, also genauso, wie es für Frau Holle, Frau Perchta (das heißt: die Lichtgestalt) und all ihre Schwestern galt. Zudem erinnert der Name an die „Wallburgen“, Kreisgrabenanlagen, die bei uns zwar offiziell wenig Beachtung finden, aber nachweislich Kalenderbauten waren, in denen man seit der Bronzezeit die festen Termine — Festtage — des Jahres in Messfeiern feststellen, markieren und feiern konnte. Dazu strömten die Menschen aus dem Umland zusammen bei großen gemeinsamen Wall-Fahrten.
Spätestens seit der Scheibe von Nebra kann auch die offizielle Geschichtswissenschaft das astronomische und kalendarische Wissen unserer Vorfahren nicht mehr in Abrede stellen. Im Brauchtum ist es sowieso bis heute verankert. Während Ostern und davon abhängig Pfingsten nach päpstlicher Anweisung unstet von Termin zu Termin wandern, feierten unsere Vorfahren die Wendepunkte im Sonnenlauf: den kürzesten Tag des Jahres (Weihnachten) und den längsten (Sommersonnenwende) sowie Ostern zur Tag- und Nachtgleiche am 21. März. Die Kelten ergänzten diese am Himmel nachvollziehbaren festen Termine durch die Quartalsfeiertage, zum Beispiel in der Nacht zum 1. November und eben auch zum 1. Mai (Beltane). Ihnen waren die Gliederung des Jahres und die astronomischen Gesetzmäßigkeiten klar.
Die Überformung der Mainacht durch Einsetzung einer Heiligen Walburga just für diesen Tag sollte die Feiern, die man durch Verbote nicht auslöschen konnte, durch Umbenennung als christlich ausweisen und darüber die naturreligiösen Wurzeln vergessen lassen. Als dies nicht glückte, begann die Dämonisierung.
Wer ab dem 16. Jahrhundert immer noch die Mainacht beziehungsweise das keltische Beltane feierte, war eben eine Anhängerin des Teufels. Dennoch hielt sich das Fest, mindestens als Tanz in den Mai oder sogar in Form nächtlichen, wilden Tobens mit magischen Feuern und orgiastischem Ausklang.
Feiern zur Ehre von Mutter Erde und ihren Begleiterinnen wie Elfen, Feen oder Holden sowie den mit göttlichen Zauberkräften versehenen weisen Frauen oder Hexen wurden verunglimpft und dämonisiert. Die von ihren Gelüsten geplagten mönchischen Schreiber fantasierten von Beischläferinnen des Teufels und nächtlichen Ritten auf dem Besenstil.
Aus mächtigen weiblichen Gottheiten wurden hässliche Hexen. Aus überirdischer Macht teuflische Bosheit. Das Ganze ist hauptsächlich ein Beweis für die Angst kirchlicher Autoren vor der großen Kraft der Weiblichkeit und der Natur. Das Christentum wurde hexen- und dämonengläubig! Martin Luther blieb diesem Denken verhaftet und riet zur Ermordung von Frauen mit Zauberkräften. Der Massenmord an finanziell und geistig unabhängigen Frauen, die altes Wissen wie altes Kulturgut bewahrten, ist bis heute ein Schandfleck in unserer Geschichte.
Der Respekt vor den mächtigen Naturkräften und die Ehrfurcht vor dem Leben ist tief in uns Menschen verwurzelt. Dies ist kulturübergreifend und nicht in wenigen Jahrhunderten gänzlich auszurotten. Fast jeder spürt, wie die Seele aufatmet bei einem Spaziergang draußen durch Wald und Wiese. Wer hat noch nicht andächtig das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs bestaunt? Wer wird nicht unruhig, wenn ein Gewitter tobt? Wir sind Teil der Natur, wir gehören zur Gemeinschaft der Lebewesen. Wir alle, ob Mensch, Tier oder Pflanze, brauchen Wasser und Sonnenlicht und atmen CO2 aus. Wir unterliegen alle den gleichen grundlegenden Gesetzen.
Jedoch gibt uns Naturvertrauen eine innere Kraft, die auch als spirituell empfunden werden kann. Dann gehen wir hinaus in die Natur, um das Leben im Licht zu feiern. Wer das erkannt hat und intensiv erlebt, braucht keine Medikamente gegen Depressionen.
Uns im Einklang mit der Natur zu sehen, statt sie als Feind wahrzunehmen und sie zu bekämpfen, bringt uns Seelenruhe, inneres Gleichgewicht und den Mut, uns den Widrigkeiten des Lebens zu stellen.
Die zyklische Weltsicht, die den Naturreligionen innewohnt, verleiht uns Kraft durch die Hoffnung auf die jährliche Wiederkehr von Licht und Wärme. Der Kreislauf von Säen und Ernten sichert unsere Existenz. Jedes Jahr von Neuem dürfen wir den Sieg der Natur über Dunkelheit und Kälte feiern; jedes Jahr von Neuem wird das Sterben überwunden, weil das Leben siegt.
Gerd Reuther, Renate Reuther „Hauptsache Panik“
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