Der sterbensreife alte Mann blickt von seinem Liegestuhl aus auf den schönen Jüngling, der mit der unbewussten Grazie der Jugend dem Meer entgegen schreitet, bis er schließlich in ihm eintaucht. Die Sonne geht langsam unter, und die Silhouette des Knaben verschmilzt mit dem goldgelben Lichtgeflirr des Hintergrunds, bis sie nicht mehr zu erkennen ist.
Es ist, als ob sich Tadzio, so sein Name, in der Unendlichkeit des Meeres aufgelöst hätte. Dieses Eintauchen ins Grenzenlose ist der letzte Anblick, den der alte Gustav von Aschenbach, der für Tadzio eine homoerotische Neigung hegt, genießen darf. Wenige Augenblicke später ist er tot. In Luchino Viscontis meisterlichem Film „Der Tod in Venedig“ erklingt dazu Gustav Mahlers wunderbar getragene, sehnsuchtsvolle, aus ineinander verschwimmenden Streicherklängen gezauberte Musik.
Thomas Mann, der Autor der literarischen Vorlage, beschreibt die Szene so:
„Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagoge dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure.“
Tadzio, der Jüngling, wird für den sterbenden Aschenbach zum „Psychagogen“, zum Seelenführer, der ihm in den Tod voranschreitet. Das Bild des Meeres als Symbol des Todes ist so universell, dass wir es kaum mehr als etwas Bemerkenswertes empfinden. Dennoch lohnt es sich, genauer hinzuschauen und zu untersuchen, was genau die morbide Faszination ausmacht, die das Meer auf Dichter und Mystiker schon seit jeher ausgeübt hat.
Sehnsucht nach dem Nichts
Thomas Mann beschreibt an anderer Stelle in seinem „Tod in Venedig“, was das Meer für Gustav von Aschenbach bedeutet:
„Er liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der vor der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheuren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegen gesetzten und ebendarum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts.“
Hier wird eine spirituelle Bedeutung des Meeres offenbar, die tiefere Schichten des Menschseins berührt. Das Meer verkörpert Frieden als Gegenbild zum alltäglichen Unfrieden in der menschlichen Seele. Es repräsentiert das Vollkommene gegenüber dem Unvollkommenen, das Unendliche gegenüber dem Endlichen, das Einfache gegenüber der Vielgestalt. Auch im Taoismus stellt Laotse die „Tausend Dinge“ dem „Tao“ gegenüber — dem Einen, das aller Vielfalt zugrunde liegt, das alles Bestehende nährt und durchdringt. „Alle Dinge enden im Tao wie Ströme ins Meer fließen“, heißt es im Tao Te King.
Das Meer ist hier zugleich Symbol der All-Einheit, die als Ur-Idee den mystischen Strömungen aller Religionen zugrunde liegt.
Einheit allerdings weniger mit einem persönlichen Gott als in der Bedeutung von „Leere“, wie sie im Zen und anderen asiatischen Religionen verstanden wird.
Tor zur jenseitigen Welt
Die Symbolik des Ertrinkens im Meer als Bild für den Tod scheint universell zu sein — ein Archetyp im Sinne Carl Gustav Jungs, also ein Urbild auf dem Grunde der Seelen aller Menschen, unabhängig von ihrer kulturellen Prägung. Ich selbst erinnere mich an einen solchen Meerestraum, es war einer der intensivsten, unvergesslichsten, die ich je hatte.
Ich befand mich in einer Art Unterwasserstation, nur durch eine Tür vom umgebenden Meer getrennt. Ich wusste, dass ich die Tür öffnen und hinausgehen musste. Ich wusste, dass ich dabei normalerweise ertrinken würde. Doch zu meiner Überraschung konnte ich unter Wasser atmen, erst schwer und mühsam wie durch eine Gasmaske, dann immer leichter. In der Unterwasserwelt fand ich einen Weg, der aufwärts führte, durch schöne Landschaften, die eher an Festland als an den Meeresgrund erinnerten. Seltene Pflanzen und friedliche Tiere säumten den Wegrand. Auf einmal wusste ich, was das alles bedeuten sollte: Ich war im Paradies! Unbeschreibliche Freude durchflutete mich, bevor ich aufwachte.
Eine ganz ähnliche „Handlung“ kennt man aus alten keltischen Sagen, die von einem Übertritt in die „Anderswelt“ handeln. Der Held, der ins Wasser fällt, plötzlich atmen kann und in eine magische Welt eintritt — mit anderen Gesetzmäßigkeiten, seltsamen Wesen, schönen Frauen und mächtigen Königen. Oft handelt es sich dabei um eine Welt, die die irdische an Schönheit weit übertrifft, manchmal allerdings auch um ein „Phantásien“, das einige Tücken und unerwartete Fallen birgt. Das Versinken im Meer bedeutet auch hier das Überschreiten einer Schwelle, die in ein jenseitiges Reich oder in eine Parallelwelt führt.
Der Tod als Erlösung
Nicht weniger als „Der Tod in Venedig“ hat mich ein anderer Film über das Meer beeindruckt, der jüngeren Datums ist: „Das Meer in mir“ von Alejandro Amenábar. Es ist die (in Grundzügen wahre) Geschichte von Rámon Sanpedro, der seit einem Unfall 27 Jahre zuvor unheilbar querschnittsgelähmt ist. Rámon sehnt sich nach dem Tod und setzt alle Hebel in Bewegung, damit ihm die Behörden Sterbehilfe gewähren. Er kämpft verzweifelt um sein Recht auf einen würdigen, selbstbestimmten Tod — in Spanien wie in den meisten anderen Ländern ein aussichtsloses Unterfangen.
Während langer Stunden, in denen er ans Bett gefesselt ist, träumt er immer wieder davon, dass seine Seele über weite Landschaften bis zum Meer fliegt. Rámon findet schließlich einen Weg, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen — mit ein bisschen Hilfe guter Freunde. Die Schlusssequenz des Films lässt den Verstorbenen mittels subjektiver Kamera am erlösenden Meeresstrand ankommen.
In einem berührenden Gedicht des echten Rámon Sanpedro heißt es:
„Ins Meer hinein, ins Meer,
in seine schwerelose Tiefe,
wo die Träume sich erfüllen,
und Zwei in einem Willen sich vereinen,
um zu stillen eine große Sehnsucht.“
Das Meer, das wir sind
Der Titel des Films, „Das Meer in mir“, regt dabei besonders zum Nachdenken an. Befindet sich das Meer im Menschen, so ist auch der Tod beziehungsweise der Erlebnisraum, in den wir mit dem Tod eintauchen, nichts, was grundsätzlich von uns getrennt ist.
Der „Tod“ — die geistige Welt, die Leere, die Erlösung — ist uns in jedem Moment ganz nah, ja vielleicht ist er unser innerstes Wesen.
Wie das „Tao“ bei Laotse oder das „Reich Gottes“, von dem Jesus spricht, so ist die tiefste und universellste Bedeutung von „Meer“ in der Kunst vielleicht nicht der Tod, sondern noch allgemeiner: eine mystische All-Einheit, die wir nicht irgendwann „später“ erreichen, sondern die wir im Innersten sind. Im Westen mit seiner christlichen, später wissenschaftlich geprägten Kultur, ist es nicht sehr verbreitet, sich die All-Einheit schon in der Gegenwart vorzustellen. Man verlegte sie folgerichtig sehnsuchtsvoll in eine erträumte Zukunft. Der Osten mit seiner ausgeprägten mystischen Tradition verwendet die Meer-Symbolik dagegen häufiger im Zusammenhang mit Einheitserfahrungen zu Lebzeiten, mit Erleuchtung, Erwachen, Unio Mystica.
Wir finden diese Symbolik nicht nur in vielen unterschiedlichen Kulturen — einige Beispiele aus dem Islam, dem Hinduismus sowie aus dem Zen werde ich noch anführen —, sondern auch in verschiedenen Varianten. Etwa:
- Die Flüsse streben zum Meer
- Der Tropfen löst sich im Meer auf
- Die Welle ist das Meer
Kosmisches Seelen-Recycling
All diese Natursymbole haben eine jeweils etwas andere Bedeutungsnuance. So beschreibt Hermann Hesse in „Siddharta“ vor allem den Fluss als Bild für die menschliche Seele, die unaufhaltsam dem Meer zufließt. „Atman“, die Einzelseele, mündet in „Brahman“, der großen Weltseele.
„Zum Ziele strebte der Fluss, Siddharta sah ihn eilen, den Fluss, der aus ihm und den Seinen und aus allen Menschen bestand, die er je gesehen hat, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, den Stromschnellen, dem Meere.“ Das sehnsuchtsvolle Streben hin zum Meer hat in dieser Textstelle allerdings noch etwas Unerlöstes, das für den westlichen Kulturkreis typisch ist.
Sogar das „Ziel“ wird bei Hermann Hesse zum Ausgangspunkt eines neuen Inkarnationskreislaufs. Das im Meer aufgelöste Wasser des Flusses wird durch Verdunstung auf eine neue Reise geschickt. Hesse schreibt:
„(...) und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluss, strebte aufs neue, floss aufs neue.“
Hier wird das Bild eines „Seelen-Recyclings“ gezeichnet, das mit der herkömmlichen Vorstellung von Reinkarnation nicht identisch ist. Reinkarnation bedeutet ja, dass dieselbe Seelensubstanz durch verschiedene Verkörperungen wandert. Landet die Seele dagegen in einem großen „Meer“, so steigt sie gleichsam als Dunst vom Meer auf, ballt sich in Wolken zusammen und regnet in Form einzelner Tropfen wieder auf die Erde.
Die Tropfen, die ursprünglich ins Meer geflossen waren, sind nicht mehr identisch mit denen, die später auf das Meer zurückregnen. Der Tropfen, einmal im Meer aufgegangen, kehrt in derselben Form nicht wieder.
Eine besonders schöne Deutung des Verdunstungsprozesses fand ich im islamischen Kulturkreis. Der Film „Die große Reise“ von Ismael Ferroukhi handelt von einem alten französischen Muslim, der, getrieben von der Ahnung seines nahenden Todes, eine letzte Reise nach Mekka antritt, um seiner vom Koran vorgeschriebenen Pflicht zur „Hadsch“ (Pilgerfahrt) zu entsprechen. Der Vater empfindet seine Reise als Reinigungsprozess, der seine Seele vor ihrem Heimgang zu Allah aus „Salzwasser“ in „Süßwasser“ verwandelt:
„Wenn das Wasser der Meere zum Himmel aufsteigt, verliert es seine Bitterkeit, und es wird wieder rein. Das Wasser der Meere muss verdunsten, um zum Himmel aufzusteigen. Und indem es verdunstet, wird es wieder süß.“
Rumis Vision
Ich zitiere hier gern Beispiele aus der islamischen Welt, um den Eindruck zu vermeiden, dass allein Europa und Indien Zentren der Welt-Spiritualität sind. Der Sufi-Meister Sayyid Naqvi formulierte etwa ganz klassisch: „Gott ist das Meer, und der Mensch ist ein Tropfen darin.“ Damit ist er, völlig unabhängig, zum selben Ergebnis gekommen wie die aus Spanien stammende christliche Mystikerin Theresa von Avila: „Wenn der Wassertropfen ins Meer fällt, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Tropfen und Meer.“ Um noch ein wenig im orientalischen Kulturkreis zu bleiben, hier ein Meeresgleichnis des berühmten Sufi-Mystikers und Dichters Dschelaladdin Rumi:
„Das Schiff meiner Existenz versank in des Ozeans Weiten.
Das Meer schlug Wellen, und sieh – die Weisheit enttauchte den Wogen
Und warf eine Stimme empor – so war und geschah’s in den Zeiten.
Es schäumte das wogende Meer – in jeder schaumigen Flocke
Ward sichtbar jemandes Bild, um sich zur Gestalt auszubreiten.
Und jeglicher Schaumflockenleib, der Zeichen empfing aus dem Meere,
Zerschmolz diesem Winke gemäß, ließ sich in das Meer wieder gleiten.“
Hier wird eine Vision beschrieben, die nur symbolisch gedeutet werden kann: In jeder Welle zeigt sich dem Dichter das Bild eines individuellen Menschen. Das Bild verweilt dort für eine kurze Weile und versinkt dann wieder im Meer. Mit dem Verebben der Welle hört diese auf zu existieren. Das Meer aber, aus dem sie hervorgegangen ist, existiert auf ewig weiter. Es wird aus ein und derselben Wassersubstanz Welle um Welle, Schaumkrone um Schaumkrone gebären.
Die Freiheit der Welle
Die Bedeutungsnuancen sind hier sehr wichtig: „Du wirst im Meer münden“ oder „Du wirst dich als Tropfen im Meer auflösen“ ist nicht dasselbe wie „Du bist das Meer“. Letztere Erkenntnis wird vielfach als besonders trostreich empfunden, weil sie die Erlösung beziehungsweise Erleuchtung nicht einem Zeitpunkt in ferner Zukunft vorbehält.
Das Symbol der Welle selbst ist ein sehr treffendes Bild der menschlichen Existenz, die in ihrer ersten Phase unaufhaltsam einem Höhepunkt zustrebt, um dann wieder abzunehmen und schließlich ganz zu verschwinden.
Es gibt auch keine ungebrochene Kontinuität zwischen einer einmal „gestorbenen“ Welle und einer „neu geborenen“ Welle, die sich an anderer Stelle gebildet hat. Also keine „Seelenwanderung“ — nur die unzerstörbare Identität der Welle mit der Gesamtheit des Wassers, das sie hervorgebracht hat.
Schon in sehr alten vedischen Schriften wird die Symbolsprache von Welle und Meer verwendet, und schon hier dient sie dazu, den Menschen über das Leiden an der Vergänglichkeit seiner Existenz hinwegzutrösten: So steht in der Ashtavakra-Gita:
„Hätte der Körper Bestand bis ans Ende der Zeit, oder würde er heut noch vergehen: Was wäre gewonnen oder verloren? Du bist das unendliche Meer, in dem alle Welten steigen und fallen mit seinen Wogen.“
Die Ashtavakra-Gita beeinflusste unter anderem die Philosophie von Ramana Maharshi, der davon ausging, dass der Mensch immer schon jetzt frei ist, und dass es deshalb lediglich auf die Realisation dieser Tatsache ankäme. Die Freiheit der „Welle“ resultiert auch hier aus der Gewissheit, dem Meer nicht nur zuzustreben, sondern das Meer zu sein.
Der Satz „Die Welle ist das Meer“, wie er auch von dem Benediktiner-Pater und Zen-Meister Willigis Jäger vertreten wird, hat selbstverständlich nichts mit plumper Selbstüberschätzung zu tun, die das Ich (Ego) für gottgleich erklären würde.
Mystik ist keine Willens- und Machbarkeits-Ideologie, die das kleine Ich durch Akkumulation von Macht und vermeintlicher Bedeutung aufzublähen sucht. Sie vergibt auch keine Offizierspatente innerhalb eingebildeter spiritueller Rangordnungen.
Mystik bedeutet nicht „Machen“, sondern vielmehr Loslassen von Absichten, Zulassen, Sich-Öffnen, Durchlässig-Werden für das Höhere beziehungsweise Tiefere, das in uns und durch uns wirkt.
All das kann uns das Meer erzählen, wenn wir bereit sind, seiner Botschaft zu lauschen.
Am 22. März ist wieder der jährlich wiederkehrende Weltwassertag. Es ist wichtig, dass Medien es nicht dabei bewenden lassen, stets nur auf den neuesten Wahnsinn in der Welt zu reagieren, sondern selbst in das Agieren kommen. Deshalb setzen wir zusammen mit einer Reihe von weiteren Medienportalen selbst ein Thema auf die Agenda. Die beteiligten Medienpartner, bei denen in der Woche vom 18. bis 24. März im Rahmen des #Wasserspezial Beiträge zu finden sein werden, sind derzeit:
Manova
Zeitpunkt
Fair Talk
apolut
Radio München
Punkt.Preradovic
Terra Nova
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