von PRO ASYL
Bild: Ein Sinnbild deutscher Abschiebepolitik: Eine schwer ausgerüstete Polizeieinheit holt am 20.12. eine afghanische Familie aus Kirchenräumlichkeiten in Schwerin. Mehr zu diesem Fall. Foto: picture alliance/dpa/Bernd Wüstneck
„In den ersten zehn Monaten des laufenden Jahres wurden bereits mehr Menschen abgeschoben als im gesamten Jahr 2022“, schreibt die Tagesschau zu einer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei im Bundestag. Allein von Januar bis Oktober gab es über 13.500 Abschiebungen, dazu kommen fast 24.000 „freiwillige“ Ausreisen. Trotzdem hören die Rufe aus der Politik nach „mehr Abschiebungen“ nicht auf. Kurz vor Weihnachten einigten sich die Regierungsfraktionen auf stark verschärfte Abschiebungsregeln, etwa massive Ausweitung der Abschiebungshaft. Was das in der Praxis bedeutet, dokumentieren wir jährlich und stellen auch für 2023 wieder zehn exemplarische Fälle aus dem Alltag unseres Beratungsteams oder aus den Landesflüchtlingsräten vor.
Die Fälle aus den Vorjahren können hier nachgelesen werden: 2022, 2021, 2020, 2019, 2018.
1 — Morgens um 9 im Sägewerk
Musa Nije arbeitet am 4. August wie gewohnt im Sägewerk in Kanzach (Baden-Württemberg), wo er seit sechs Jahren beschäftigt ist. Bis um 9 Uhr morgens die Polizei erscheint, wie Die Schwäbische berichtet. Gegen den Protest seines Arbeitgebers wird Musa Nije in Handschellen abgeführt und nach Gambia abgeschoben, von wo er 2016 geflohen war.
Zum Verhängnis wird dem jungen Mann vor allem, dass er wie so viele Geflüchtete Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung hatte. Aufgrund der nicht rechtzeitigen Vorlage erhielt er eine Strafe und konnte trotz seiner langjährigen Vollzeitbeschäftigung und der Tatsache, dass er an seinem Arbeitsplatz unentbehrlich ist, nicht vom „Chancen-Aufenthaltsrecht“ profitieren. Bei der Abschiebung konnte Musa weder seine Habseligkeiten noch die Ersparnisse von seinem Konto mitnehmen und stand somit mittelos in Banjul, der Hauptstadt von Gambia. Um diese Dinge kümmern sich nun seine Freunde und sein engagierter Arbeitgeber, die auch weiter für eine Rückkehr von Musa kämpfen. Aktuell hat dieser aber eine Einreisesperre von 36 Monaten — auch das ist bei Abschiebung leider trauriger Alltag.
2 — Kettenabschiebung nach Kabul
Der Iran und Afghanistan: beides Länder, in denen junge Frauen vor großen Schwierigkeiten stehen. Daher wird normalerweise dorthin aktuell auch nicht abgeschoben. Anders war das leider im März 2023. Bahdia W.* reist mit einem iranischen Pass am Flughafen Frankfurt ein. Im Flughafen-Schnellverfahren gelten andere Regeln als im regulären Asylverfahren. Wie so oft lautet das Resultat auch bei Bahdia W.: Der Asylantrag sei „offensichtlich unbegründet“. Dass die junge Frau in Wahrheit aus Herat in Afghanistan stammt und auch das afghanische Generalkonsulat ihre Identität bestätigt, half ebenso wenig wie eine eidesstattliche Erklärung des Bruders, wie die Frankfurter Rundschau berichtet. Ein DNA-Test wurde abgelehnt, der iranische Pass für echt erklärt und Bahdia W. nach Teheran zurückgeflogen — trotz des eigentlich geltenden bundesweiten Iran-Abschiebestopps zu jener Zeit. Von dort wurde sie laut ihrem Bruder direkt weiter nach Kabul abgeschoben, wo sie nun der Willkür der Taliban ausgeliefert ist.
3 — Christlicher Konvertit landet nach Abschiebung in Haft
„Für mich persönlich ist die Ausreise nach Mauretanien das Ende meines Lebens“, schreibt Sidi unserem Beratungsteam aus einer Abschiebehafteinrichtung. Sidi war 2018 mit einem Visum zum studienvorbereitenden Sprachkurs in Deutschland eingereist und verlor seinen Aufenthaltstitel, weil er eine Prüfung nicht bestand. Während seines Aufenthalts in Deutschland lernt er das Christentum kennen und beginnt im Jahr 2022 mit einem Taufvorbereitungskurs. Die Taufe selbst erfolgt schließlich in der Abschiebehaft in Büren, in der er ganze vier Monate lang saß. 54 Tage lang wurde er dort alle 15 Minuten lang kontrolliert — auch nachts —, da er sich beim ersten Abschiebeversuch selbst verletzt hatte. In Abschiebehaft stellt Sidi auch einen Asylantrag, der von den Behörden als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wird: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bewertet die Konversion zum Christentum als unglaubwürdig. Sein Taufpate und Gemeindereferent der Pfarrei in Wuppertal, in der er sich zur Taufe vorbereitete, ist hingegen von seinem Glauben überzeugt:
„Bereits in den ersten Gesprächen wurde sein großes Interesse am christlichen Glauben sichtbar. An seinem Taufwunsch und dessen Echtheit bestand meinerseits keinerlei Zweifel.“
Aber auch alle Bemühungen unseres Beratungsteams oder eine Petition an den Landtag helfen nichts: Am 10. Juli schieben die Behörden in Nordrhein-Westfalen ihn trotzdem ab, die Abschiebung ist ihnen sogar einen eigenen Charterflug für Zehntausende Euro wert.
Die schlimmste Nachricht kommt aber danach: Sidi, der dazu noch überhaupt nicht in Mauretanien aufgewachsen ist, meldet sich nach eigenen Angaben aus einem Gefängnis im mauretanischen Nouakchott. Ihm wird Apostasie, die Abkehr vom Glauben, vorgeworfen. Auf dieses „Vergehen“ steht im nordafrikanischen Land die Todesstrafe. Die Verhängung ist unwahrscheinlich, eine längere Gefängnisstrafe hingegen nicht. Das Abschiebungsreporting NRW verfolgt den Fall weiterhin.
4 — Umzug anordnen, Briefe an alte Adresse schicken, abschieben: niedersächsischer Behördenirrsinn
Saman Awad* ist Mitte 2022 umgezogen, aus der Erstaufnahmeeinrichtung in Bad Fallingbostel in die Sammelunterkunft nach Burgwedel. Die Behörden wussten nicht nur davon, sie hatten den Umzug gar angeordnet, berichtet die taz. Und trotzdem wurde das Herrn Awad zum Verhängnis. Der Asylantrag des Palästinensers wurde abgelehnt, da er schon in Griechenland einen Schutzstatus hat. Das ist nicht nur deshalb schwierig, weil just das niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg erst 2021 urteilte, dass die Bedingungen für anerkannte Flüchtlinge in Griechenland unzumutbar sind, sondern vor allem, weil Saman Awad der Bescheid nie zugestellt wurde.
Das Schriftstück landete bei seiner alten Adresse. Als er davon Kenntnis bekam, war die Frist zur Klageeinreichung allerdings bereits vorbei. Prompt folgte ein Abschiebeversuch, bei dem er sich nur mit einem Sprung aus dem zweiten Stock zu helfen wusste. Seither ist er in psychiatrischer Behandlung; der Flüchtlingsrat Niedersachsen unterstützt ihn und kommentiert den Fall:
„Dem Betroffenen wird mit formaljuristischen Argumenten verwehrt, die Ablehnung seines Asylantrags gerichtlich überprüfen zu lassen. Erschreckend ist dies insbesondere auch, weil alle Beteiligten wissen, dass den Geflüchteten in Griechenland ein Leben auf der Straße in bitterstem Elend erwartet.“
5 — Mutter und Kind alleine, Vater obdachlos
Anastasia und Genadi Maisuradse* kamen 2018 nach Deutschland, drei Jahre später wird in Eberswalde (Brandenburg) ihre Tochter geboren. Die kleine Familie will sich integrieren, immer wieder verweigert die Ausländerbehörde Herrn Maisuradse aber eine Arbeitserlaubnis. Im Februar beginnt er gegen alle Widerstände trotzdem mit einer Ausbildung in der Gastronomie. Die Behörden haben aber andere Pläne, sie wollen „eine faktische Integration“ sogar verhindern, um leichter abschieben zu können — was am 19. April auch geschieht. Seine Frau und die Tochter werden bei der Abschiebung jedoch nicht angetroffen und bleiben jetzt alleine und verzweifelt zurück. Genadi Maisuradse ist in Georgien nach ihren Informationen nun obdachlos, mit der Unterstützung lokaler Flüchtlingsinitiativen wird versucht, seine Rückkehr zu ermöglichen.
6 — Wenn das Fernsehteam an der Ausländerbehörde wartet
Ahmad S. muss am 2. November zur Ausländerbehörde im Landkreis Dahme-Spreewald. Das Amt will seine Lohnbescheinigungen sehen, damit die Wohnsitzauflage aufgehoben werden kann, denn Herr S., ein Kurde aus dem Nordirak, arbeitet mittlerweile in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis und ist mit einer Arbeitserlaubnis bis 2027 ausgestattet. Aber an der Ausländerbehörde geht es nicht um die Wohnsitzauflage, dort wartet wie mittlerweile häufig die Polizei. Allerdings nicht alleine, sie hat zu allem Überfluss sogar ein Fernsehteam im Gepäck, das die Abschiebung von Ahmad S. in den Irak begleiten will.
„Denn der Iraker Ahmad S. hat an diesem Morgen einen Termin bei der Ausländerbehörde, um etwas über seine Arbeit zu klären. Ahmad S. weiß aber noch nicht, dass er an diesem Tag in den Irak abgeschoben werden soll“, beschreibt der RBB diesen unmenschlichen Vorgang später lapidar. Die Abschiebung per Linienflug nach Bagdad wird jedoch abgebrochen; mittlerweile läuft, unterstützt vom Flüchtlingsrat Brandenburg, ein Antrag vor der Härtefallkommission.
7 — Den Behörden in Nordrhein-Westfalen ist das Kirchenasyl nicht heilig
Seit über 40 Jahren werden mit dem Kirchenasyl in Deutschland besonders gefährdete Personen in humanitären Ausnahmefällen durch Kirchengemeinden vor der Abschiebung geschützt. Dafür gibt es ein etabliertes Prozedere; die Behörden respektieren den Schutzraum in den allermeisten Fällen. Nicht so am 10. Juli in Nettetal-Lobberich. Dort ist seit einigen Wochen das kurdische Ehepaar Sîwan* in den Räumen der evangelischen Kirchengemeinde untergebracht. Ihnen droht die Dublin-Abschiebung nach Polen, wo sie monatelang in einem geschlossenen Lager unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht waren. Eine ähnliche Behandlung würde ihnen dort erneut drohen, weshalb die Kirche sich dazu entschied, sie zu schützen. Die Pfarrerin kommentiert den Vorgang dem Abschiebungsreporting NRW gegenüber:
„Unsere MitarbeiterInnen sind alle fassungslos. Wir haben das Kirchenasyl aus humanitären Gründen gewährt — ein solcher repressiver Abschiebungsversuch zweier traumatisierter Menschen ist ein Skandal.“
Nach der Räumung des Kirchenasyls wurde der Abschiebeversuch aus medizinischen Gründen abgebrochen, Herr und Frau Sîwan kamen für mehrere Wochen in Abschiebehaft. Als sie die Abschiebehaft dann verlassen konnten, kehrten sie zunächst in den Schutzraum Kirchenasyl zurück. Mittlerweile hat die Stadt Viersen von einer Abschiebung abgesehen, das Asylverfahren des Ehepaars findet nun in Deutschland tatt.
8 — Deutsch gelernt, aber nun in Spanien gestrandet
Familie Darwish* kommt aus Syrien, ist aber seit 2017 in Deutschland und lebt im hessischen Gelnhausen. Im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute, die genauso wie sie vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen mussten, waren sie aber zuvor in Spanien. Dadurch wurden ihnen in Deutschland immer wieder Möglichkeiten zur Integration über Schule, Ausbildung oder Arbeit verwehrt, und im September wird die sechsköpfige Familie sogar in Abschiebehaft genommen. Wenige Tage später landen sie in Spanien, und das auch noch in verschiedenen Städten. Wie sie der Frankfurter Rundschau erzählen, finden sie dort nur vorübergehende Unterkünfte bei hilfsbereiten Personen und erhalten keine Unterstützung. Ein weiteres Beispiel für unsinnige europäische Regelungen, die nun dafür sorgen, dass sich eine Familie nach sechs Jahren in Deutschland in einem völlig anderen Land, dessen Sprache sie nicht beherrschen, wiederfindet.
9 — Sieben Jahre Haft für abgeschobenen Oppositionellen
Abdullohi Shamsiddin fürchtet sich vor dem Regime in Tadschikistan. Sein Vater, ein bekannter Oppositionsführer, hat in Deutschland Asyl erhalten. Er wurde in der Heimat verfolgt und in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt. Auch Abdullohi lebt schon seit 2009 in Deutschland. Immer wieder versucht er den Behörden verzweifelt darzulegen, was ihm in Tadschikistan drohen wird. Etliche Organisationen warnen im Vorfeld vor einer Abschiebung, denn seit Dezember 2022 sitzt Abdullohi in Abschiebehaft. Aber die Behörden in Nordrhein-Westfalen sind uneinsichtig und schieben ihn am 18. Januar, nach über 13 Jahren in Deutschland, ab. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen glaubt ihm die Abstammung von seinem Vater nicht. Eine fatale Fehlentscheidung: Keine drei Monate später wird Abdullohi Shamsiddin in Duschanbe, Tadschikistan, zu sieben Jahren Haft verurteilt — wegen eines Social-Media-Postings, auf das er positiv reagiert haben soll, wie die FAZ berichtet.
Dem Abschiebungsreporting NRW zufolge will die Bundesregierung die Vorgänge in Tadschikistan ansprechen. Die Abschiebung und ihre schlimmen Konsequenzen wird dies nicht rückgängig machen.
10 — Zwei Schwestern plötzlich allein in Deutschland
Am 20. November standen frühmorgens rund 20 Polizistinnen und Polizisten in der Wohnung der jesidischen Familie Khanjar* im Ostallgäu, um einen Teil der Familie abzuschieben. Die Khanjars haben den Genozid des „Islamischen Staats“ an der jesidischen Bevölkerung miterlebt und flohen 2019 nach Deutschland. Obwohl die Bundesregierung die Ereignisse offiziell als Völkermord anerkannt hat, erhält die Familie keinen Schutz, die Asylanträge werden abgelehnt. Am 20. November nimmt die Polizei die Eltern und zwei minderjährige Kinder im Alter von neun und sieben Jahren mit und bringt sie zurück in den Irak. Ein volljähriger Sohn war am Tag der Abschiebung nicht zu Hause, die Schwestern Bascal und Jmana, beide Anfang 20, dürfen vorerst bleiben.
Die abgeschobenen Kinder haben nur noch vage Erinnerungen an den Irak, sie sprechen fließend Deutsch. Die neunjährige Tochter ging in Deutschland zur Schule, der siebenjährige Sohn besuchte eine spezielle Einrichtung, da bei ihm Autismus vermutet wird. „Ich weiß nicht, wie ich meine Ausbildung weitermachen und ohne meine Eltern und ohne Geschwister hier weiterleben soll. Den Kindern geht’s sowohl psychisch als auch gesundheitlich sehr schlecht“, schrieb uns Jmana nach der Abschiebung ihrer Familie. Sie und ihre Schwester machen eine Ausbildung zu Pflegehelferinnen, sind aber derzeit weiterhin selbst von Abschiebung in den Irak bedroht.
Die geschilderten Geschichten sind beispielhafte Fälle — aber leider keine Einzelfälle. Abschiebungen kommen in Deutschland jeden Tag vor. Manchmal können sie im letzten Moment noch abgewendet oder sogar nachträglich aufwendig rückgängig gemacht werden. Oft ist das auch dem Engagement von Freundinnen und Freunden, Unterstützerinnen und Unterstützern oder unabhängigen Beratungsstellen zu verdanken. Wir freuen uns daher über jede Spende an Strukturen, die Geflüchteten in solchen Situationen entscheidend zur Seite stehen. Ganz egal, ob sie an PRO ASYL, einen der Landesflüchtlingsräte oder kommunale und lokale Flüchtlingsinitiativen geht. Denn nur mit einem solchen breiten Netzwerk können wir weiterhin etwas gegen brutale und unmenschliche Abschiebungen unternehmen.
*Namen geändert
Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel: Abschiebefälle 2023: Die Behörden kennen kaum noch Grenzen | gewerkschaftsforum.de bei Gewerkschaftsforum.de
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